Genossen der Bosse. Auch in Italien verhalf die Linke den Interessen des Kapitals zum Durchbruch – doch jetzt regt sich Widerstand

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Wie war das noch mal?

Der Versuch, einen Überblick über den italienischen Widerstand gegen den Vormarsch des totalitären Staates zu geben, bedeutet gleichzeitig und zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte. Der Widerstand nahm langsam Fahrt auf – man beachte den Bergamo-​Schock, heute als mediales Konstrukt[1] und selbst geschaffenen Notstand[2] entlarvt, damals jedoch als Ergebnis eines unbekannten Killervirus dargestellt und empfunden, eine vermeintliche Gefahr, die zahlreiche Ausgangsperren und wirtschaftliche Shutdowns legitimiert hat.

Das Jahr 2020 verlief mit lokalen, voneinander losgelösten, eher kleineren Demonstrationen, die nach und nach größer wurden, bis der Fronte del Dissenso April 2021 gegründet wurde. Das war der erste Versuch einer Vereinigung der Protestierenden.

Mitglieder des Fronte sind Bürgervereine, medizinische, juristische, territoriale Komitees und politische Bewegungen. Die Fragmentierung, die die Liste aufweist, ist episch. Es ist alles dabei, vom national-​populären Patriotismus über libertäre Gruppen bis hin zu Gruppen, die 5G bekämpfen, Trumpisten, Gruppen, die für Julian Assange eintreten, Sportler, Künstler, Ärzte, Ladenbesitzer, Unternehmer, Gewerkschafter, Ehrenamtler, und man könnte noch eine ganze Weile damit fortfahren, Kategorien von Assoziationen aufzuzählen, die nichts miteinander zu tun haben und Gruppen von Menschen entsprechen, die ebenfalls nichts miteinander zu tun haben.

Der Fronte del Dissenso ist selbst ein Fragment, ein Emblem der vielfältigen italienischen Realität in diesem Augenblick, die sehr schwer zu fotografieren oder gar aufzulisten ist. Wie kam es zu diesem Nicht-Bild?

Die Idee des Konflikts – auch und vor allem der Meinung, besonders der politischen Meinung – als Nährboden der Demokratie, der dazu dient, sich zu bilden, zu entwickeln, einen kritischen Sinn auszubilden, die Idee des Konflikts als Zusammenstoß und als sinnstiftender Austausch, das Rückgrat der traditionellen Linken, wurde durch den Fall der Mauer mitzertrümmert: Die PCI, die italienische kommunistische Partei, die stärkste kommunistische Partei des Westens, bekanntlich mit Moskau verbunden, spaltete sich nach 1989 etliche Male.

Die Mauer war gefallen, nun war die Idee der sozialen Gerechtigkeit dran

Der Spaltungsprozess wurde unter anderem durch das Ende der sogenannten Ersten Republik unterstützt. Und zwar lösten sich nach Tangentopoli die sozialistische Partei PSI und die Christdemokratie DC auf: Die Sozialisten verschwanden einfach, vom Korruptionsskandal überfahren, die DC teilte sich zu gleichen Teilen auf die neugeborene Mitte-​Rechts (Rechte plus rechte DC) und Mitte-​Links (Teile der ehemaligen PCI plus linke DC) auf.

Und schon war sie da, die Zweite Republik. Die unglückliche Ehe zwischen »Mitte« und »Links« hat die sogenannte Flexibilität, das heißt die Prekarität der Arbeitsverträge, und die Deregulierung, auch wilder Liberalismus genannt, geboren. Dinge, die parallel in ganz Westeuropa, in ihren jeweiligen nationalen Saucen, stattgefunden haben und die geschehen konnten, weil die »Mitte-​Links« ihre Zustimmung gegeben und sie nicht selten eigenhändig vorgeschlagen und eingeführt hat. Die soziale Gerechtigkeit hatte fertig.

Der Selbstmord der Linken und dessen Folgen

Ein paar Beispiele für die Dinge, die D‘Alema, ex-​PCI, ex-​PDS, ex-​DS, ex-​PD, heute Art1-​MDP, während seiner zwei kurzen Regierungsjahre (1998 bis 2000) getan hat: die Flexibilisierung der Arbeit[3] – etwas, was keine Rechte und kein Zentrum jemals geschafft haben –, die Bombardierung des Kosovo[4] und die anschließende Arcobaleno-​Mission, die eingerichtet wurde, um denjenigen zu helfen, die er zuvor hat bombardieren lassen (sic!), mit einem Trick A. Öcalan, der um politisches Asyl in Italien gebeten hatte, an die Türkei ausliefern.

Kurz vor D‘Alema hatte die Regierung Prodi (Mitte-​Links) die Ära der Kriminalisierung von Migranten[5] eröffnet, indem sie 1997 die Seeblockade für Migrationsströme aus Albanien anordnete[6]. Diese Denkweise sollte später in dem berüchtigten Bossi-​Fini-​Gesetz (Mitte-​Rechts) gipfeln, das eine große Anzahl von Menschen in die Illegalität stürzte[7] und im Grunde dazu diente, »illegale Einwanderer«, das heißt Höllenghettos und Schwarzarbeit fast zum Nulltarif[8] zu produzieren.

Sowohl Prodi als auch D’Alema haben außerdem mit großem Enthusiasmus Italien privatisiert[9]: Wasser, Gas, elektrische Energie, Transporte, Müll, Banken, Telefonie, Post, Gesundheit – indirekt, indem sie die Bedingungen schufen, die das private Gesundheitswesen begünstigen –, Immobilien …

Die politische Beteiligung der Italiener ist kontinuierlich und stetig gesunken, und erst seit 2008, mit dem Entstehen des Movimento 5 Stelle (M5S, 5‑Sterne-​Bewegung) – früher eine Bewegung des Protests und heute des Regimes –, hat man gesehen, dass die Waisenkinder der Linken, trotz der Flut von Todesstößen, doch noch am Leben waren. Bei den ersten politischen Wahlen, an denen die M5S teilnahm, im Jahr 2013, übertraf das Stimmergebnis sogar noch die Werte in den Umfragen, und die Sterne-​Bewegung zog mit 25,55 Prozent der Stimmen in die Abgeordnetenkammer und mit 23,79 Prozent in den Senat ein.

Um dieses Ergebnis zu erreichen, genügte es der M5S, auf die Straße zu gehen und die sogenannte Partitokratie, das Parteiensystem, frontal anzugreifen. Deren Mitglieder waren nämlich in der Ära des entfesselten Liberalismus zu dem geworden, was sie heute noch sind: ein Sammelsurium von Menschen ohne Eigenschaften, die bereit sind, alles zu tun, um ihre Arbeitsplätze und Privilegien zu behalten.

Die M5S hat die Millionen von Stimmen derjenigen kassiert, die aus Verzweiflung auf etwas setzten, was kein Fundament hatte, das heißt auf eine Bewegung, der es völlig an einer alternativen Weltanschauung und folglich an einem glaubwürdigen politischen Vorschlag mangelte. Aus der Asche des 5‑Sterne-​Protestes ist nichts mehr neu entstanden, und hier stehen wir nun heute.

Schöne neue Welt 1992 bis 2020

Seitdem der rote Feind erledigt ist, der als Einziger eine Alternative zur Ausbeutung parat hatte, ist die Fragmentierung gesellschaftlich verinnerlicht: Jeder bewirtschaftet sein eigenes Feld, ohne auf das Drumherum zu achten. Man darf ja keine Zeit verschwenden, man muss funktionieren und produzieren. Kontext ist eine unerklärliche, wenn nicht undenkbare Entität, und das ist die logische Folge der Monokultur, der Monoideologie – der Abwesenheit von Konflikt. Im Universum des Einheitsdenkens kann alles und jedes gesagt werden, weil es kein Gegenüber gibt, das Bedeutung miterzeut.

Wir definieren uns immer nur über das andere. Ohne das andere entsteht eine ideologische Isolation, die es erlaubt, jedes Argument nach Belieben zu pervertieren. Bedeutung, auch die politische, wird von Zeit zu Zeit von Marketingagenturen geschaffen, je nachdem, was man wem andrehen will – ich denke an Diversität, Umwelt, Rassismus –, reduziert auf bloße Werbespots, Ideen, die konsumiert werden sollen. In einer solchen Welt besteht das einzige Problem darin, die Massen zu lenken, damit sie an ihrem Platz bleiben und so viel wie möglich erwirtschaften.

In dieser Welt suhlt sich die neue Weltordnung mit ihren Öffentlich-​Privat-​Fusionen, das heißt den Absprachen zwischen den Exekutiven der verschiedenen Staaten und den multinationalen Konzernen, zum Beispiel, aber nicht nur, der Pharmaindustrie.

Hier ist SARS-​CoV‑2 geboren und aufgewachsen, und es ist kein Zufall, dass es dazu dient, das Social Distancing zu trainieren. Und hier winkt nun grünerhand das nächste Narrativ uns zu, zur endlosen Ablenkung, damit wir nicht merken, wo der wahre Feind ist.

Green Pass und Entwicklung des Widerstands

Nach der Einführung der Impfpflicht für die Gesundheitsberufe im April dieses Jahres und seit dem 15. Oktober des Green Pass – in Deutschland 3G gennant –, um den Arbeitsplatz zu betreten, sind die Demonstrationen, die mittlerweile seit Wochen und Monaten überall im Lande stattfinden, durch den Streik der Hafenarbeiter in Triest – und Genua und Ravenna und Ancona … – in eine neue Phase eingetreten.

Die Triestiner haben eine Lunte angezündet, die die Opposition landesweit vereinigt hat und den Prozess einer Koordination beschleunigt, wodurch der Protest an Kraft und Struktur gewinnt. Das wäre normalerweise die Rolle der Gewerkschaften gewesen, und tatsächlich wäre es für sie ein Kinderspiel gewesen, da die Strukturen vorhanden und verankert sind. Schließlich geht es um Arbeit.

Wer sich weigert, sich als Kranker zu betrachten, der täglich seine Gesundheit dem Arbeitgeber digital nachweisen muss, wird suspendiert und bekommt auch keinen Lohn. Was übrigens auch als erster Schritt zum Ende unbefristeter Verträge betrachtet werden kann, denn von der inoffiziellen Entlassung aka Suspendierung zu einer offiziellen ist der Weg gar nicht so weit.

Die drei großen italienische Gewerkschaftsverbände, CGIL, CISL und UIL, sind nun leider damit beschäftigt, zusammen mit der Regierung zum Schutz der Volksgesundheit beizutragen[10], und haben keine Zeit, die Rechte der Arbeiter zu verteidigen, im Gegenteil: Sie unterschreiben derzeit gerne, was diese Rechte zerstört[11].

Der einst rote Gewerkschaftsverband, die CGIL, hat sogar im Rahmen des Generalstreiks, der vom 15. bis 20. Oktober stattgefunden hat, ihre Mitglieder öffentlich dazu aufgerufen, nicht zu streiken, sondern den Triester Hafen freizumachen. Jawohl, sich testen lassen und ab an die Arbeit. Besser wäre natürlich vollgeimpft. So viel über die Beschützer der Arbeiterklasse. Ob nun die Basisgewerkschaften die Kraft haben, Ansprechpartner der Bevölkerung zu werden, wissen wir noch nicht.

Erfreulich ist jedoch, dass sie sich langsam, aber immer sicherer, dem Protest anschließen und damit offenlegen, was den Demonstranten schon längst klar ist: Dies ist ein Kampf gegen uns und gegen unseren Lebensunterhalt. Man will unsere Jobs vernichten, unsere Verträge zerstören, unsere kaputtgelockdownten Existenzen abkaufen, das Geld entwerten – siehe Gas‑, Benzin‑, Strom‑, Lebensmittelpreise – und uns mittels Digitalisierung endgültig versklaven. Und wenn auf dem Weg zur Versklavung der eine oder der andere an der Impfung sterben sollte, tja … Wichtig ist, dass Pfizer kassiert.

Aber das perfekte Verbrechen gibt es bekanntlich nicht. Jeder noch so präzis ausgedachte Plan kann an unberechenbaren Faktoren scheitern. Es war noch nie so deutlich wie jetzt, was Kapitalismus ist und wieso man ihn bekämpfen sollte.

Dies könnte der Moment sein, in dem die soziale Fragmentierung bewusst und zugunsten der Auseinandersetzung zwischen Individuen und zwischen Gruppen überwunden wird. Der Moment, in dem die Gesellschaft wieder beginnt, Kultur zu erzeugen, einen Kontext zu weben und zu erkennen, die Teile eines Puzzles zusammenzufügen, auch wenn das Bild jenes eines widerlichen Horrorfilms ist.

Seit Anfang 2020 entsteht eine neue Welt, in der alle Kompetenzen vorhanden sind, um eine politische und wirtschaftliche Alternative zu erarbeiten, ohne die wir nicht weiterkommen werden. Man soll nicht sagen, es gebe dafür keine Zeit, denn Zeit dafür gibt es mindestens seit dem Fall der Mauer.

Verweise

[1] https://​www​.br​.de/​k​u​l​t​u​r​/​w​i​e​s​o​-​d​a​s​-​f​o​t​o​-​d​e​s​-​m​i​l​i​t​a​e​r​k​o​n​v​o​i​s​-​i​n​-​b​e​r​g​a​m​o​-​f​u​e​r​-​c​o​r​o​n​a​-​s​t​e​h​t​-​1​0​0​.​h​tml

[2] https://​de​.rt​.com/​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​1​0​4​9​4​2​-​c​o​r​o​n​a​-​a​u​s​s​c​h​u​s​s​-​i​t​a​l​i​en/

[3] http://​www​.pmli​.it/​d​a​l​e​m​a​b​a​s​t​a​p​o​s​t​o​f​i​s​s​o​.​h​tml

[4] https://​www​.marx21​.de/​k​o​s​o​v​o​-​k​r​i​e​g​-​1​9​9​9​-​u​r​s​a​c​h​e​n​-​n​a​t​o​-​b​u​n​d​e​s​w​e​hr/

[5] https://​www​.marx21​.de/​k​o​s​o​v​o​-​k​r​i​e​g​-​1​9​9​9​-​u​r​s​a​c​h​e​n​-​n​a​t​o​-​b​u​n​d​e​s​w​e​hr/

[6] https://​www​.esquire​.com/​i​t​/​n​e​w​s​/​a​t​t​u​a​l​i​t​a​/​a​2​3​0​0​3​2​2​2​/​b​l​o​c​c​o​-​n​a​v​a​l​e​-​i​m​m​i​g​r​a​ti/

[7] https://​www​.liberties​.eu/​d​e​/​s​t​o​r​i​e​s​/​e​r​o​-​s​t​a​n​i​e​r​o​-​n​e​u​e​-​k​a​m​p​a​g​n​e​-​i​n​-​i​t​a​l​i​e​n​-​f​o​r​d​e​r​t​-​r​e​f​o​r​m​-​d​e​s​-​e​i​n​w​a​n​d​e​r​u​n​g​s​g​e​s​e​t​z​e​s​/​1​1​866

[8] https://www.eurozine.com/i‑was-a-slave-in-puglia/

[9] https://​www​.attivismo​.info/​l​o​-​s​t​a​t​o​-​p​r​i​v​a​t​o​-​l​e​-​p​r​i​v​a​t​i​z​z​a​z​i​o​n​i​-​s​e​l​v​a​g​g​e​-​d​i​-​p​r​o​d​i​-​e​-​d​a​l​e​ma/

[10] https://​www​.cgil​-agb​.it/​d​e​/​c​g​i​l​-​a​g​b​-​i​n​f​o​r​m​i​e​r​t​/​5​6​7​-​g​r​e​e​n​-​p​a​s​s​-​k​l​a​r​s​t​e​l​l​ung

[11] https://​www​.ilsole24ore​.com/​a​r​t​/​s​b​l​o​c​c​o​-​l​i​c​e​n​z​i​a​m​e​n​t​i​-​v​i​a​-​l​i​b​e​r​a​-​c​d​m​-​e​c​c​o​-​c​o​s​a​-​c​a​m​b​i​a​-​o​g​g​i​-​A​E​l​U​H​w​T​#​U​4​0​2​9​2​2​1​8​3​1​3​jFD

Beitragsbild: Bundesarchiv, Bild 183‑1990 – 0122 – 319 /​Oberst, Klaus /​CC-​BY-​SA 3.0. ADN-​ZB Oberst 22.1.90 Berlin: Schöpfer dieser etwas ungewöhnlichen Malerei am Engelbecken, Heinrich-​Heine-​Platz in Berlin-​Mitte ist César Olhagarey von der »Gruppe für Aktionskunst«. Er nennt sein Werk »Betonköpfe als Wendehälse«.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Rubikon und wird mit freundlicher Genehmigung der Autorin hier erneut veröffentlich.

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