Radio Gaza – Spenden, die ankommen und helfen

Der unabhängige Regisseur und Dokumentarfilmer Michelangelo Severgnini führt uns in eine andere palästinensische Wirklichkeit ein, als wir sie kennen, nimmt uns mit vor Ort und lässt diejenigen zu Wort kommen, die heute im Gazastreifen leben. Es folgt ein Auszug aus dem am 02.10.2025 auf Come Don Chisciotte veröffentlichten Interviews, herausgegeben von Jacopo Brogi.

Mit Apocalisse Gaza (Apokalypse Gaza) hat Severgnini keine humanitäre Initiative ins Leben gerufen, sondern eine »politische Initiative«, denn um Widerstand zu leisten, muss man erst einmal existieren. Apocalisse Gaza schafft es, den Familien in Gaza direkt vor Ort Hilfe zukommen zu lassen, die dann ungefiltert auf Radio Gaza zu Wort kommen.

Guten Tag Michelangelo, danke, dass Du diesem Interview zugestimmt hast. Was sind die neuesten Nachrichten aus dem Gazastreifen nach der Bodeninvasion Israels in Gaza‐Stadt? 

Einige unserer Kontakte haben beschlossen, bis zuletzt in Gaza‐​Stadt zu bleiben. Sowohl, um dem Vormarsch der israelischen Armee in verschiedener Hinsicht entgegenzuwirken, als auch, weil in einem Fall der Wunsch bestand, mit der Familie in ihrem noch intakten Haus zu bleiben. Sie haben uns in diesen Tagen schreckliche Sprachnachrichten geschickt, die wir in der Sendung Radio Gaza ausgestrahlt haben, die jeden Donnerstag um 18 Uhr auf dem YouTube‐​Kanal von AntiDiplomatico zu sehen ist.

Eine Geisterstadt, in der Straße für Straße gekämpft wird, in der es hier und da plötzlich zu Hinterhalten der Widerstandsbewegung gegen die israelische Armee kommt und Israel deshalb Roboter zur Aufklärung einsetzt. Roboter, die dann zum richtigen Zeitpunkt in die Luft gesprengt werden. Kontinuierliche Bombardierungen von Wohngebieten, um die Mitglieder der Widerstandsbewegung zu vernichten oder zur Flucht zu zwingen. Allerdings ist die Stadt mittlerweile eine Geisterstadt.

Fast die gesamte Bevölkerung ist, soweit es ihr möglich war, in den zentralen und südlichen Teil des Gazastreifens gezogen, um dem Kriegsschauplatz zu entkommen. Dies führt dazu, dass im Süden des Gazastreifens, in Khan Younis, die Menschen buchstäblich übereinander gestapelt sind, Schulter an Schulter; viele schlafen im Freien, auf der Straße, auf den Gehwegen, überall, wo ein Quadratmeter Platz zur Verfügung steht.

Wir haben finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Vertriebenen, ihre Familien und ihre wichtigsten Habseligkeiten (der Winter steht vor der Tür) zu transportieren und Zelte zu kaufen. Einige Dutzend Familien haben davon profitiert.

Worum geht es bei dem Projekt Apocalisse Gaza, wie ist es entstanden und wie läuft es? 

Die gemeinsam mit Rabi Bouallegue ins Leben gerufene Kampagne Apocalisse Gaza ist das Ergebnis einer Reihe koordinierter Schritte in direktem Kontakt mit einigen palästinensischen Jugendlichen in Gaza.

Seit Jahren habe ich eine Methode entwickelt, um über das Internet mit Menschen in Kriegsgebieten in Kontakt zu treten. Seit 1998, seit den Kriegen im Kosovo und in Jugoslawien, habe ich Kriegsgebiete besucht und seitdem immer wieder vor Ort Erfahrungen mit den sozialen und wirtschaftlichen Dynamiken in Konfliktzeiten gesammelt.

In einigen Fällen ist es jedoch praktisch unmöglich, sich physisch vor Ort zu begeben. Das war 2018 in Libyen der Fall, als ich mit den Recherchen begann, die zu dem Werk L’urlo (Der Schrei) führten. Das ist heute in Gaza der Fall.

Da ich nicht vor Ort sein kann, greife ich auf etwas zurück, das ich »horizontalen Journalismus« nenne, bei dem die direkten Quellen vor Ort selbst zu Reportern werden. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, Kontakt aufzunehmen. Aber da mittlerweile fast jeder überall auf der Welt, selbst in libyschen Haftanstalten und im besetzten und belagerten Gazastreifen, ein Mobiltelefon und eine Internetverbindung besitzt, ist es gar nicht so schwer, mit Menschen vor Ort in Kontakt zu treten.

Das habe ich getan. Nachdem ich Kontakt aufgenommen und die tatsächliche Lage und Zuverlässigkeit der Kontakte überprüft hatte, fragte ich sie, wie ich mich am besten nützlich machen könnte, da ich wusste, dass diejenigen, die vor Ort leben, immer Dinge wissen, die Außenstehende sich nicht immer vorstellen können. Die Antwort war überraschend, aber letztendlich auch einleuchtend.

Sie erklärten uns, dass die Wirtschaft im Gazastreifen, so sehr sie auch am Boden liegt, notwendigerweise noch am Leben ist. Bargeld (der israelische Schekel) zirkuliert genauso wie zuvor. Der einzige Unterschied besteht darin, dass dieses Bargeld aufgrund einer ganzen Reihe von Faktoren, darunter auch seine Verfügbarkeit, immer teurer geworden ist. Gleichzeitig werden, dank des Schwarzmarktes, der in jedem Kriegskontext üblich ist, auch Lebensmittel regelmäßig innerhalb des Gazastreifens gehandelt. Das Problem ist, dass die Kosten für Bargeld einerseits und die exorbitanten Kosten für Produkte auf dem Schwarzmarkt andererseits die Preise für Waren für die überwiegende Mehrheit der Gazawi unzugänglich machen.

Zwar sollte es in Gaza Hilfsleistungen geben, und diese sind zu Recht kostenlos. Aber wir wissen nur zu gut, dass deren Einfuhr lange Zeit verhindert wurde und oft enorme Risiken für die Bewohner mit sich bringt: Sie riskieren bei jeder Einfahrt von Lastwagen in den Gazastreifen ein Blutbad, da sie von israelischen Scharfschützen oder der Bande von Yasser Abu Shabab, einem palästinensischen Verräter, der mit Israel zusammenarbeitet und direkt an der Grenze zu Rafah eine eigene Miliz gegründet hat, ins Visier genommen werden.

Folglich besteht die einzige konkrete Möglichkeit, sich nützlich zu machen, darin, den Bewohnern Gazas die wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Schwarzmarktpreise zu bewältigen. Mit anderen Worten, ihnen Geld zu schicken, damit sie die exorbitanten Preise im Gazastreifen verkraften können. Das sind selbst für italienische Familien unerschwingliche Preise: Ein Sack Mehl kostet 70 bis 80 Euro. Keine durchschnittliche italienische Familie wäre in der Lage, eine Familie aus Gaza finanziell zu »adoptieren«.

An diesem Punkt blieb uns nur noch, an die Großzügigkeit der Menschen zu appellieren und die Aktion öffentlich und damit kollektiv zu machen, um so viel Geld wie möglich von so vielen Menschen wie möglich in Italien zu sammeln. So entstand die Kampagne Apocalisse Gaza. An ihrem 100. Tag, dem 27. September, hatte die Kampagne 96.732 Euro aus 1.296 Spenden gesammelt, die alle an Palästinenser im Gazastreifen geschickt wurden.

Auf welcher Grundlage werden die Quellen für die Sendung Radio Gaza ausgewählt?

Die Kampagne Apocalisse Gaza basiert ebenso wie Radio Gaza auf einer Kerngruppe von 5 – 6 jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 23 Jahren, Männern und Frauen. Wie ich oft wiederhole, verdankt die Kampagne ihren Erfolg zwei Faktoren: der Großzügigkeit der Spender, aber auch dem Mut und der Tatkraft dieser jungen Menschen, die sich vom ersten Tag an dafür eingesetzt haben, sich für ihre Gemeinschaften nützlich zu machen, indem sie die Hilfsgüter, die auf dem Schwarzmarkt gekauft werden konnten, geteilt und verteilt haben.

Diese jungen Menschen wurden, wie gesagt, ganz banal im Internet und in den sozialen Netzwerken kennengelernt. Sie wurden jedoch dank der Unterstützung von Rabi Bouallegue, einem Sizilianer tunesischer Herkunft, durch Videogespräche in ihrer Sprache sorgfältig überprüft. Dann wurden sie geduldig durch tägliche Kommunikation auf die Probe gestellt.

Als wir verstanden hatten, dass wir es mit außergewöhnlichen, mutigen und leidenschaftlichen jungen Menschen zu tun hatten, haben wir ihnen in gewisser Weise eine große Verantwortung übertragen: die Kampagne durch Koordination, aber auch durch die Dokumentation der konkreten Maßnahmen vor Ort zu unterstützen. In den ersten zwei Monaten der Kampagne haben wir vier Minidokumentationen mit den von ihnen mit dem Handy gedrehten Videos produziert, die die Verteilungsaktionen, aber auch Szenen aus dem täglichen Leben und Interviews mit verschiedenen Personen in den verschiedenen Lagern zeigen: Kinder, ältere Menschen, Frauen, Jugendliche. Die fünfte Dokumentation (allesamt Episoden dessen, was wir als einen echten »Film in progress« betrachten) befindet sich derzeit in der Montagephase.

Dann, nachdem wir uns mit den Freunden von l’AntiDiplomatico austauschten und auf der Grundlage früherer Arbeiten, beschlossen wir, unsere Kräfte in die Gründung von Radio Gaza zu investieren, wo möglichst viele Gazawis durch anonyme Sprachnachrichten direkt zu Wort kommen und ihre Stimme hören lassen können. Wir dachten, dass dies neben der Unterstützung der Kampagne der bedeutendste Beitrag sei, den wir leisten könnten.

Um also Deine Frage zu beantworten: Diese jungen Leute bilden den Kern von Radio Gaza, eine Art Redaktion vor Ort, aber sie sind nicht die einzigen Stimmen. Sie sind es, die neben der Verteilung der Hilfsgüter auch andere Menschen vor Ort interviewen, so wie es bei den Minidokumentationen der Fall war. Bislang haben sich in fünf Folgen elf Personen in der Sendung zu Wort gemeldet, während 27 Personen in den vier Minidokumentationen zu Wort gekommen sind. Tatsächlich liegt die Auswahl der Quellen bei ihnen. Was sie uns schicken, senden wir.

Höchstens manchmal können wir ihnen einige Kuriositäten aus der italienischen Debatte mitteilen, damit sie uns mit Informationen aus dem Feld antworten können. Zum Beispiel haben wir gefragt, ob es im Gazastreifen noch aktive Anlegestellen gibt, sowohl für die Landung der Schiffe der Flottille als auch für die Ankunft großer Schiffe zur Zwangsevakuierung durch Israel. Die Antwort lautete, dass es im gesamten Gazastreifen keine aktiven Anlegestellen mehr gibt.

Wie funktioniert der Schwarzmarkt im Gazastreifen? Kannst Du uns einige konkrete Beispiele aus dem Leben der Palästinenser nennen, denen ihr mit Apocalisse Gaza helft?

Nehmen wir ein einfaches, konkretes und, wie ich hoffe, anschauliches Beispiel. Wir erhalten eine Spende in Höhe von 100 Euro über ein PayPal‐​Konto. Wir kontaktieren einen dieser Jugendlichen in Gaza. Dieser teilt uns das PayPal‐​Konto eines Sarraf mit, eines Geldwechslers, d. h. eines Palästinensers in Gaza, der über Bargeld verfügt (in der Regel Händler, die irgendwo Bankkonten haben). Wir überweisen diese 100 Euro unverändert auf das Konto dieses Sarraf. Der junge Mann erhält von uns den Transaktionscode, mit dem der Sarraf ihm Bargeld aushändigt und dabei einen Prozentsatz einbehält, der zwischen 25 und 40 Prozent variieren kann.

Wollen wir diese palästinensischen Sarraf als Wucherer bezeichnen? Ich habe kein Problem damit. Der Junge erhält also, nehmen wir an, den Gegenwert von 70 Euro in Schekel. Mit diesem Bargeld geht er zu den Straßenmärkten oder noch geöffneten Geschäften und kauft Lebensmittel. Die Kosten für Lebensmittel unterliegen jedoch, wie in allen Kriegsgebieten, einer Erpressung. Die Preise im Gazastreifen sind seit dem 7. Oktober um etwa das Zehnfache gestiegen. Das bedeutet, dass 100 Euro, die in Italien gespendet werden, unter Berücksichtigung aller Faktoren im Gazastreifen eine Kaufkraft von 7 Euro haben.

Wer verdient an Lebensmittel und wer bringt sie auf die Marktstände im Gazastreifen? Mehr oder weniger alle bewaffneten Gruppen, die die Gebiete kontrollieren, durch die diese Lebensmittel transportiert werden müssen, um auf die Marktstände zu gelangen, wie es in jedem Kriegsgebiet der Fall ist. Israel erhebt zweifellos Schutzgelder, aber auch die Hamas tut dies. Im letzteren Fall könnten wir dies also als eine Art Zwangsbeitrag zum Widerstand verstehen.

Wie sieht laut deinen Quellen vor Ort die heutige Realität im Gazastreifen aus und inwiefern unterscheidet sie sich von der Realität, die uns die Mainstream‐​Medien vermitteln? 

Ich muss sagen, dass die Gräueltaten, von denen die mutigen Journalisten vor Ort berichten (278 von ihnen wurden von Israel getötet), mit den Berichten und Videos übereinstimmen, die wir erhalten haben: systematische Bombardierungen von Zivilisten, Scharfschützenangriffe auf Zivilisten, Unterernährung, Vertreibung und riesige Zeltlager, die ganze Stadtteile ersetzt haben.

All dies sind Dinge, die der Mainstream gerne ausblendet oder zumindest herunterspielt. Was ich jedoch für das Interessanteste an diesen Kontakten halte, die aus der einfachen Bevölkerung stammen, also aus den ärmsten und am stärksten benachteiligten Schichten Gazas, ist der Einblick von innen, die Sichtweise von innen auf die aktuellen Ereignisse. Wer hätte jemals gedacht, dass es in Gaza Märkte gibt, auf denen die Menschen irgendwie noch das Nötigste zum Überleben kaufen können? Wer hätte jemals gedacht, dass ein PayPal‐​Konto ausreicht, um das Embargo zu umgehen und Geld in den Gazastreifen zu bringen? Wer hätte jemals ahnen können, was heute in den Köpfen der Menschen in Gaza vor sich geht? Mit einem, ich wiederhole, banalen Schritt haben all unsere Fantasieträume auf der anderen Seite eine reale Entsprechung gefunden.

Offen über Völkermord zu sprechen und dieses tägliche Massaker an unschuldigen Menschen mitanzusehen: Von den sozialen Medien bis zum Mainstream scheint uns nun auch das System zu zeigen, was es uns bis vor kurzem noch verheimlicht hat. Wo ist der Haken? 

Der Haken daran ist das, was Susan Sontag in ihrem 2003 während der amerikanischen Invasion im Irak veröffentlichten Buch Das Leiden anderer betrachten behandelt hat. Es heißt Gewöhnung. Die Tragödien im Fernsehen, die Alarmrufe lösen bei uns eine erste natürliche und instinktive Reaktion der Aufmerksamkeit aus.

Auf lange Sicht jedoch, wenn keine praktischen Maßnahmen folgen, verwandelt sich der Alarmzustand in Gewöhnung. Das heißt, das Signal funktioniert nicht mehr, weil es keine Verbindung zwischen dem »dort« und dem »hier« herstellen konnte. Und darin sind Fernsehen und soziale Medien tödlich. Denn sie lassen dich glauben, dass du dort bist, wenn du diese Bilder siehst. Aber im Gegenteil, sie machen dir klar, dass du hier bist und nichts dagegen tun kannst.

So macht sich Gewöhnung breit. Auf lange Sicht wissen die Medien sehr wohl, dass diese Bilder an Kraft verlieren und sogar das Gefühl der Ohnmacht der Zuschauer verstärken können, was zu Resignation und schließlich sogar zu Verärgerung darüber führt, sie zu sehen.

Spenden: https://​www​.paypal​.com/​p​a​y​p​a​l​m​e​/​a​p​o​c​a​l​i​s​s​e​g​aza

Michelangelo Severgnini auf Telegram: https://t.me/lurlo_michelangelosevergnini

https://t.me/lurlo_michelangelosevergnini

2 thoughts on “Radio Gaza – Spenden, die ankommen und helfen

  1. Nach der großen Empörung über die Gaza‐​Satire(*) der TAZ, die wirklich schlecht war, schlecht geschrieben und einfallslos, ist die Kühnheit der MagMa‐​Redaktion begrüßenswert mit »Radio Gaza – Spenden, die ankommen« (schon beim Lesen des Titels verschüttete der Autor dieser Zeilen von Lachen geschüttelt, eine Menge Kaffee, glücklicherweise neben den Laptop…) einen Beitrag zu veröffentlicht, dessen objektiver schwarzer Humor Leser, die sonst in der Zuckerwatte der Neuen Frankfurter Schule zu ersticken drohen, einmal frische Luft atmen lässt.

    Danke‐!

    (*) Um Kaffee und Erheiterung noch etwas zu »strecken«, ist das Video des Post‐​Trot Fabian Lehr über die TAZ‐​Satire sehr geeignet:

    https://​www​.youtube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​7​u​5​c​u​i​C​g​qm4

  2. Die Antwort Servergninis auf die letzte Interviewfrage ist etwas verstolpert:

    »Und darin sind Fernsehen und soziale Medien tödlich. Denn sie lassen dich glauben, dass du dort bist, wenn du diese Bilder siehst. Aber im Gegenteil, sie machen dir klar, dass du hier bist und nichts dagegen tun kannst.« 

    Niemand der noch alle Tassen im Schrank hat, glaubt sowas und niemand benötigt Bilder, um sich seiner räumlichen Distanz zu einem Geschehen bewusst zu sein – und erst recht braucht er nicht Susan Sontag.

    Die Verwirrung ist allerdings verständlich, wenn er Sontags Polemik gegen die situationistische Spektakelkritik Debords nicht als Schuldumkehr durchschaut.

    In der Schrift Sontags, auf die Severgnini sich hier bezieht, schreibt die in den Nullern dem Alterskonservativismus verfallende Protagonistin der Popliteratur der 60ger:

    »According to a highly
    influential analysis, we live in a »society of spectacle.« Each
    situation has to be turned into a spectacle to be real — that is,
    interesting — to us. People themselves aspire to become images:
    celebrities. Reality has abdicated. There are only representations:
    media.
    Fancy rhetoric, this. And very persuasive to many, because one of
    the characteristics of modernity is that people like to feel they can
    anticipate their own experience. (This view is associated in
    particular with the writings of the late Guy Debord, who thought he
    was describing an illusion, a hoax, and of Jean Baudrillard, who
    claims to believe that images, simulated realities, are all that exist
    now; it seems to be something of a French specialty.) It is common
    to say that war, like everything else that appears to be real, is
    mediatique.« (Regarding the Pain of Others)

    Nun mag das von ihr Beklagte auf die in einer sehr verzerrenden Weise auf den französischen Strukturalismus bezogene Kulturtheorie Baudrillards zutreffen; Debord und die Situationisten standen aber gerade nicht in diesem theoretischen Diskurs, sondern knüpften als Künstler, die eine revolutionäre Aufhebung der Kunst anstrebten, an die Avantgarde der 20ger und 30ger Jahre an und insbesondere an diejenigen Surrealisten, die sich weder bei Franco, noch bei Trotsky eingefunden hatten. Erst im Nachhinein, eigentlich erst infolge des Zurückdrängens der Soziologie zugunsten der »Kulturwissenschaften« an den Unis, wurden die Schriften der Situationisten, die in den 80gern bereits vergessen worden waren, für den nun ganz postmodern gedrillten Nachwuchs des Bildungsbürgertums entdeckt und der bekannten »Dekonstruktion« unterworfen.

    Wenn also Sontag – wie erinnert sein sollte: tatsächlich eine Protagonistin der Postmoderne! – 2003 von einer »highly influential analysis« spricht, hatte sie die situationistische Kritik vor sich, wie sie vom bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb bereits kooptiert worden war. (In der BRD begann diese Kooptierung Ende der 90ger mit »situationistischen« Aktionen anlässlich der Documenta‐​Ausstellungen in Kassel, organisiert von Gruppen des antifaschistischen und antinationalen Spektrums*). Sie bestätigt in ihrem Text also auf negative Weise die Umdeutung der situationistischen Künstler‐​Kritik am Kapitalimus in eine bürgerliche Medientheorie mit radical chic. (ohne das hier ausführen zu wollen: Diese Umdeutung gelingt aufgrund des Kunstcharakters der Spektakel‐​Kritik letztlich nicht; es handelt sich von einem theoretischen Standpunkt betrachtet einfach um ideologischen bürgerlichen Müll der 60ger (vor allem Castoriadis), der allerdings nach einem ästhetischen Prinzip angeordnet wird, der ihm einen subversiven Effekt genau zum Zeitpunkt seiner Herstellung Ende der Sechziger verlieh und diesen nicht überlebt hat…aber das ästhetische Prinzip eben auch nicht!) 

    Was hat Sontag davon? Sie schreibt es indirekt selbst:

    »T HE VIEW PROPOSED IN On Photography — that our capacity to
    respond to our experiences with emotional freshness and ethical
    pertinence is being sapped by the relentless diffusion of vulgar and
    appalling images— might be called the conservative critique of the
    diffusion of such images.
    I call this argument conservative because it is the sense of reality
    that is eroded. There is still a reality that exists independent of the
    attempts to weaken its authority.«

    Wir verstehen: Konservativismus und Autorität sind ihr wichtig – und diese Dinge vermisst sie in der »Gesellschaft des Spektakels«, die ihren Realitätsinn bedroht. Sie will, mit anderen Worten, zurück zu einer realistischen Interpretation der Welt und ihr Geltung verschaffen; die Situationisten wollten eine revolutionäre Veränderung und betrachteten die Kunst als Mittel dazu – nicht als Mittel, die bestehende Welt zu verklären – wie »realistisch« auch immer…

    Kein Wunder, dass Severgnini sich da verstolpert – er wird sich entscheiden müssen. 

    * ein link auf die aktuelle regelmäßige Radiosendung einer der damaligen Aktivisten des Ende der Neunziger kurzeitig ins Leben gerufenen »Situationistischen Aneignungsplatform« (SAP), mit der auch wir assoziert waren, sollte die politische Dimension der Ende der Neunziger einsetzenden »Rekuperation« der situationistischen Kritik in der BRD deutlich machen. Ob die KA eine eigene Kunstfront errichten wird, ist derzeit noch unentschieden.

    https://​www​.freie​-radios​.net/​1​3​8​046

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