Es ist eine ständige Quelle der Frustration, dass ein bedeutender Teil der Linken der Ansicht ist, dass die Schwächung der seit langem bestehenden Vorherrschaft der Vereinigten Staaten an der Spitze des hierarchischen Systems des Imperialismus an sich schon einen Angriff auf den Imperialismus darstellt.
Viele unserer Freunde, darunter auch diejenigen, die behaupten, eine sozialistische Zukunft anzustreben, sehen fälschlicherweise eine Erosion der Position der USA als Hegemon des imperialistischen Systems als einen notwendigen Schritt, der eine gerechte Zukunft, dauerhaften Frieden oder einen Schritt in Richtung Sozialismus garantiert.
Es stimmt zwar, dass der Kampf gegen den mächtigsten Nationalstaat im imperialistischen System für Souveränität, Autonomie und einen selbst gewählten Weg stets begeisterte und uneingeschränkte Unterstützung verdient, doch ein Sieg in diesem Kampf garantiert nicht unbedingt eine bessere Zukunft für die arbeitende Bevölkerung. Wie so oft in den antikolonialen Kämpfen der Nachkriegszeit kann sich eine machthungrige, ausbeuterische und undemokratische lokale herrschende Klasse an der Macht festsetzen, welche die Unterdrückung des Volkes fortsetzt oder sogar ausweitet, wenn auch vielleicht mit einem vertrauteren Gesicht.
Oder sie könnten darunter leiden, dass eine ehemalige, im Niedergang begriffene oder besiegte Großmacht durch eine andere, mächtigere Großmacht ersetzt wird. Deutschland und die Türkei, die im Ersten Weltkrieg besiegt wurden, verloren viele ihrer Kolonien an die Siegermächte; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Kolonien Japans erneut kolonialisiert und fielen in die Hände einer anderen überlegenen Macht; und natürlich besiegte Vietnam Frankreich, nur um dann in den Einflussbereich der USA zu geraten – ein Ergebnis, das durch das heldenhafte Vietnam entscheidend umgekehrt wurde.
Die Behauptung, dass der Niedergang oder Fall der USA als führende Großmacht im imperialistischen System das Ende des Imperialismus bedeuten könnte, zeugt von einem groben Missverständnis des Imperialismus. Der Imperialismus bleibt eine Phase des Kapitalismus, solange der Monopolkapitalismus existiert. Der endgültige Kampf gegen den Imperialismus ist der Kampf gegen den Kapitalismus.
Wir dürfen die Teilnehmer am globalen imperialistischen System nicht mit dem System selbst verwechseln, genauso wenig wie wir einzelne kapitalistische Unternehmen mit dem kapitalistischen System selbst gleichsetzen sollten.
Die Geschichte kennt kein Beispiel dafür, dass der Niedergang oder Sturz einer globalen oder halbglobalen Macht, die von der Spitze ihrer Herrschaft gestürzt wurde, zu einer Periode weltweiten Friedens und Wohlstands geführt hätte. Weder der Untergang des Römischen oder Oströmischen Reiches noch der Untergang des Heiligen Römischen Reiches läuteten eine solche Periode der Harmonie ein. Auch nicht der Aufstieg und Fall der Republik Venedig, der Republik der Niederlande oder der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche der Merkantilismus‐Ära. Zu Lenins Zeiten führten die Rivalitäten, die die globale Vorherrschaft Großbritanniens herausforderten, eher zu einem Weltkrieg als zu Frieden. Auch die Zeit danach brachte keine Harmonie. Stattdessen führten kapitalistische Rivalitäten mit Deutschland und Japan zu noch verheerenderen Aggressionen und Kriegen. Mit der Auflösung des einst dominierenden Britischen Empire nach dem Krieg übernahm die USA ihre Position an der Spitze der Hierarchie der Weltmächte und setzte diese brutal durch. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Lage ändern wird, wenn die USA von ihrem Thron gestoßen werden. Der Kapitalismus und seine Tendenz zu Krieg und Elend bestehen weiterhin.
Die Geschichte liefert also keine Belege dafür, dass eine unipolare Welt durch eine nachhaltige multipolare kapitalistische Welt des gegenseitigen Respekts und der Harmonie ersetzt werden könnte. Multipolarität allein als Lösung für die Unterdrückung durch den Imperialismus findet sich in der Weltgeschichte tatsächlich nirgends.
Natürlich mag es faktisch zutreffen, dass die Dominanz der Vereinigten Staaten im imperialistischen Weltsystem im Schwinden begriffen ist. Die entscheidende Niederlage in Vietnam war sicherlich ein enormer Rückschlag für die Fähigkeit der US‐Regierung, gegenüber schwächeren Staaten ihren Willen durchzusetzen. Auch die Niederlage in Afghanistan nach einem zwanzigjährigen Krieg zeugt von einer Schwächung. Der Widerstand der DVRK und die Widerstandsfähigkeit Kubas zeigen ebenfalls die Grenzen des heutigen US‐Imperialismus auf.
Darüber hinaus erfolgt die Wahrnehmung des Aufstiegs der Volksrepublik China zu einer Wirtschaftsmacht und hochentwickelten Militärmacht durch die US‐Regierung als wirtschaftlichen und militärischen Gegner, obwohl kein Anlass zu der Annahme besteht, dass die VR China eine größere Bedrohung für das imperialistische System darstellt als der Vatikan. Beide äußern heute wohlverdiente Empörung über die schlimmsten Auswüchse des Imperialismus, leisten jedoch kaum einen wesentlichen Beitrag zu dessen Sturz.
Die Marginalisierung, Schwächung oder Entmachtung der imperialistischen Großmacht ist zu begrüßen, auch wenn sich die Linke keine Illusionen darüber machen sollte, dass diese Maßnahme das Ende des Imperialismus, einen entscheidenden Schlag gegen das kapitalistische System oder einen dauerhaften Nutzen für die arbeitende Bevölkerung bedeuten würde.
Ein aktuelles Beispiel für den multipolaren Trugschluss – die romantische Illusion, dass Imperialismus nur US‐Imperialismus ist – sind die vielen linken Berichte über das Treffen der Shanghai Cooperation Organization (SCO) Anfang September, an dem Präsident Xi, Präsident Putin, Premierminister Narendra Modi und andere eurasische Staats‐ und Regierungschefs teilnahmen. Professor Michael Hudson begeisterte sich:
Die von Chinas Präsident Xi, Russlands Präsident Putin und anderen SCO‐Mitgliedern verkündeten Grundsätze bilden die Grundlage für die detaillierte Ausarbeitung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, wie sie vor 80 Jahren am Ende des Zweiten Weltkriegs versprochen wurde, aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde. Die Länder Asiens und andere Länder der Globalen Mehrheit hoffen, dass dies nur ein langer Umweg in der Geschichte war, weg von den Grundregeln der Zivilisation und ihrer internationalen Diplomatie, ihres Handels und ihrer Finanzen.
Hudson sieht eine neue Wirtschaftsordnung voraus, die ein vor achtzig Jahren gegebenes Versprechen erfüllt. Aber es wird nicht ersichtlich, wie sich eine neue kapitalistische internationale Ordnung von der früheren kapitalistischen internationalen Ordnung unterscheiden wird, abgesehen von den idealistischen Worten ihrer Befürworter. Eine Erklärung, wie die mit den kapitalistischen Großmächten verbundenen interimperialistischen Rivalitäten vermieden werden sollen, bleibt aus. Es erfolgt keine Darstellung, wie die wettbewerbsorientierte, gnadenlose Natur kapitalistischer Sozialbeziehungen gezähmt werden kann. Die Argumentation stützt sich auf hochgestochene Worte, die auf einer Konferenz gefallen sind, als ob diese oder ähnliche Worte nicht schon vor achtzig Jahren auf der Bretton‐Woods‐Konferenz gefallen wären.
Viel wurde aus der herzlichen Ankündigung von Xi und Modi gemacht, dass sie »Partner und keine Rivalen« seien. Aber wie in einem scharfsinnigen Bericht von Yves Smith weiter ausgeführt wird:
Ein neuer Artikel von Indian Punchline mit dem Titel »Indien lehnt den ›Tianjin‐Geist‹ ab und wendet sich der EU zu« befasst sich mit der Frage, ob die Vorstellung, Indien würde sich mit beiden Beinen in das Lager der SCO‐BRICS stürzen, übertrieben ist. Der wichtigste Abschnitt aus diesem Beitrag:
›Kaum war Modi nach Delhi zurückgekehrt, hatte Außenminister S. Jaishankar die aggressivsten antirussischen Politiker Europas um sich geschart, um sich demonstrativ von der Troika Russland‐Indien‐China zu distanzieren.‹
Zur Unterstreichung der Skepsis des Artikels in Indian Punchline entschied sich Modi, nicht an dem virtuellen BRICS‐Handelsgipfel teilzunehmen, der anschließend vom brasilianischen Präsidenten Lula da Silva einberufen wurde.
Stattdessen nutzte Minister Jaishankar die Gelegenheit, um das Thema der Handelsdefizite mit den BRICS‐Mitgliedern anzusprechen. Er wies darauf hin, dass diese für die größten Defizite Indiens verantwortlich sind und dass Indien eine Korrektur erwartet – kaum eine Geste des gegenseitigen Vertrauens gegenüber den BRICS‐Brüdern und ‑Schwestern Indiens. Es handelt sich vielmehr um ein Beispiel für geopolitische Feilscherei.
Auch die Volksrepublik China teilt nicht den romantischen Idealismus unserer linken Freunde, wie das folgende Zitat bestätigt:
»China ist sehr vorsichtig bei der Zusammenarbeit mit diesen beiden Ländern [Russland und Nordkorea]. Anders als im Westen dargestellt, wo sie als Verbündete dargestellt werden, befindet sich China nicht im selben Lager. Seine Sichtweise auf Kriegsführung und Sicherheitsfragen unterscheidet sich stark von der ihrer Länder«, sagte Tang Xiaoyang, Vorsitzender der Abteilung für internationale Beziehungen an der Tsinghua‐Universität, und wies darauf hin, dass Peking seit mehr als vier Jahrzehnten keinen Krieg mehr geführt hat. ›Was China will, ist Stabilität an seinen Grenzen.‹ «
Man könnte zu dem Schluss gelangen, dass die Hoffnung der Linken auf eine neue, gerechtere internationale Ordnung unter Führung der BRICS‐Staaten kaum mehr als eine Chimäre ist. Die BRICS‐Staaten scheinen bestenfalls eine opportunistische Wirtschaftsunion zu sein, die weder über das politische noch das militärische Gewicht verfügt, um einer unipolaren Welt Multipolarität aufzuzwingen.
Es gibt auch ein theoretisches Argument für eine linke Einlassung auf die Idee der Multipolarität als Antwort auf den Imperialismus. Es ist ein altes Argument. Es wurde von Karl Kautsky entwickelt und in einem Artikel mit dem Titel »Ultraimperialismus« vorgestellt, der im September 1914, nur einen Monat nach Beginn des Ersten Weltkriegs, in Die Neue Zeit veröffentlicht wurde.
Kurz gesagt ( ich gehe hier, hier und hier ausführlicher auf die Argumente ein) argumentierte Kautsky, dass die Großmächte die Welt unter sich aufteilen und den Beschluss fassen würden, weiteren Wettbewerb und Rivalitäten zu vermeiden. Die Erfassung der Irrationalität und Kontraproduktivität von Aggression und Krieg würde zu einer Entscheidung für einen harmonischen Imperialismus führen, den Kautsky als »Ultraimperialismus« bezeichnete. Er behauptete:
Die wütende Konkurrenz der Riesenbetriebe, Riesenbanken und Milliardäre erzeugte den Kartellgedanken der großen Finanzmächte, die die kleinen schluckten. So kann auch jetzt aus dem Weltkrieg der imperialistischen Großmächte ein Zusammenschluß der stärksten unter ihnen hervorgehen, der ihrem Wettrüsten ein Ende macht.
In ähnlicher Weise stellen sich die heutigen Multipolaristen/Ultraimperialisten eine Welt vor, in der eine Gruppe mächtiger Länder die USA aufgrund ihres schlechten Verhaltens aus ihrer Führungsrolle im globalen kapitalistischen System verdrängen wird, wobei sich die EU‐Satrapen ihnen anschließen werden. An ihre Stelle werden sie eine neue »harmonische« »Win-Win«-Ordnung schaffen, die die Ungleichheiten zwischen dem »globalen Norden« und dem »globalen Süden« beseitigen wird. Die Akteure und Vollstrecker dieser neuen Ordnung werden eine bunte Mischung aus nach Klassen getrennten, kapitalistisch orientierten Staaten sein, angeführt von einer ebenso bunten Mischung aus Despoten, Theokraten und Populisten. Mit einer Ausnahme bekennen sich alle Staaten der BRICS+ zu nichts anderem als einer festen Treue zum Kapitalismus; die meisten stehen jedem alternativen Gesellschaftssystem wie dem Sozialismus feindlich gegenüber.
Lenin verspottete 1915 in einer Einleitung zu Bucharins Imperialismus und Weltwirtschaft Kautskys Argumentation und Ideen wie den Ultraimperialismus:
Abstrakt-theoretisch gesprochen kann man zu dem Schluß kommen, zu dem den auch Kautsky […] gelangt ist. […] Insbesondere hat bei Kautsky der offene Bruch mit dem Marxismus nicht die Form der Negierung oder des Vergessens der Politik angenommen, nicht die Form des ›Überspringens‹ der in der imperialistischen Epoche besonders zahlreichen und mannigfaltigen politischen Konflikte, Erschütterungen und Umgestaltungen, nicht die Form der Apologie des Imperialismus, sondern die des Traums von einem ›friedlichen‹ Kapitalismus. Der ›friedliche‹ Kapitalismus ist abgelöst durch den nichtfriedlichen, kriegerischen, katastrophenreichen Imperialismus […]. Nicht die geringste Spur von Marxismus findet sich in diesem Bestreben, dem bereits in die Wirklichkeit getretenen Imperialismus aus dem Wege zu gehen und sich dem Traum von einem ›Ultraimperialismus‹ hinzugeben, von dem man gar nicht weiß, ob er realisierbar ist. […] Marxismus auf Kredit, Marxismus auf Sicht, Marxismus für morgen; für heute aber die kleinbürgerliche, opportunistische Theorie – und nicht bloß Theorie – von einer Abstumpfung der Widersprüche.
Bei der Betrachtung stehen die Aspekte »friedlicher Kapitalismus«, »Marxismus auf Kredit« und »Abstumpfung von Widersprüchen« im Vordergrund. Lenins Schock über Kautskys – einem selbsternannten Marxisten – Inbetrachtziehung eines friedlichen Kapitalismus, einer Idee, die der Logik kapitalistischer Sozialbeziehungen widerspricht, sollte als Weckruf für Multipolaristen wirken.
»Marxismus auf Kredit« ist eine Persiflage auf die Vorstellung, dass es ebenso töricht ist, auf eine hoffnungsvolle Einigung zwischen kapitalistischen Großmächten zur Eindämmung des Imperialismus zu setzen, wie seine Kreditkarte bis zum Limit auszuschöpfen. Für Multipolaristen bedeutet dies eine Verschiebung des Tages der Abrechnung mit dem Kapitalismus in eine ferne, ferne Zukunft.
Ebenso »stumpft« Kautsky den Widerspruch zwischen rivalisierenden kapitalistischen Staaten ab, indem er sich eine unmögliche Vereinbarung zur Gewährleistung »harmonischer« Beziehungen vorstellt, eine These, die von Lenin vollständig abgelehnt wird. Kurz gesagt, Lenins Einschätzung identifiziert in Kautskys Opportunismus einen Rückzug vom sozialistischen Projekt. Dasselbe gilt für das Projekt der Multipolarität.
Eine Weigerung vieler Linker besteht darin, die Multipolarität durch die Linse von Lenins Imperialismustheorie zu betrachten, wie sie insbesondere in seiner Broschüre Der Imperialismus aus dem Jahr 1916 sehr deutlich zum Ausdruck kommt.
Allzu viele in der Linken verweigern eine Betrachtung der Multipolarität durch die Linse von Lenins Imperialismustheorie, wie sie insbesondere in seiner Broschüre Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus aus dem Jahr 1916 sehr deutlich zum Ausdruck kommt.
In Bezug auf das Versprechen der Multipolarität wird hier ein hypothetisches Szenario entworfen, in dem es den imperialistischen Mächten gelingt, die Welt aufzuteilen und ein Bündnis zu schließen, das sich dem Frieden und dem gegenseitigen Wohlstand verschreibt. Würde dieses idealisierte System der Multipolarität – das Kautsky als »Ultraimperialismus« bezeichnet – tatsächlich »Reibungen, Konflikte und Kämpfe in jeder nur denkbaren Form« beseitigen können?
Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. […]. ›Interimperialistische‹ oder ›ultraimperialistische‹ Bündnisse sind daher in der kapitalistischen Wirklichkeit, und nicht in der banalen Spießerphantasie englischer Pfaffen oder des deutschen ›Marxisten‹ Kautsky, notwendigerweise nur ›Atempausen‹ zwischen Kriegen – gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in der Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.
Lenin argumentiert also, dass bei fortbestehendem Kapitalismus der Klassenkampf auf internationaler Ebene unvermindert weitergeht und sich in Form von interimperialistischen Rivalitäten und Kriegen manifestiert.
Natürlich kann man Lenins Argumentation ablehnen, sogar Lenins Theorie des Imperialismus. Man kann Lenins Ansichten auch als für seine Zeit relevant, aber angesichts der vielen Veränderungen im globalen Kapitalismus heute nicht mehr anwendbar loben. Das würde bedeuten, dass das System des Imperialismus, das Lenin zu analysieren versuchte, nicht mehr existiert und durch ein anderes System ersetzt wurde.
Es gibt einen Präzedenzfall für die Korrektur von Lenins Theorie. Kwame Nkrumah zeigte 1965 in einem Artikel, dass der Imperialismus das Kolonialprojekt weitgehend zugunsten einer rationaleren, effizienteren, aber immer noch brutal ausbeuterischen Form des Imperialismus aufgegeben hatte: dem Neokolonialismus. Sein Buch Neokolonialismus: Die letzte Stufe des Imperialismus legt dies überzeugend dar.
Es ist nicht einzusehen, dass das letzte Wort über den heutigen Imperialismus bei Lenin liegt.
Und genau diesen Ansatz verfolgt Carlos Garrido in seinem aktuellen Essay »Warum Russland und China KEINE Imperialisten sind: Eine marxistisch‐leninistische Bewertung der Entwicklung des Imperialismus seit 1917«. In diesem kurzen Essay erfolgt eine ambitionierte Untersuchung zahlreicher Themen, darunter die Irrtümer »dogmatischer Marxisten‐Leninisten«, die Stellung Russlands und der VR China im imperialistischen System (sofern sie überhaupt eine haben), die marxistische Methodik, den aktuellen Status des Finanzkapitals, Michael Hudsons Konzept des Superimperialismus, die Bedeutung von Bretton Woods und die Aufgabe des Goldstandards sowie die Relevanz von Lenins Imperialismustheorie für die heutige Weltwirtschaft.
Die Behandlung aller dieser Themen würde uns weit von der aktuellen Diskussion entfernen, obwohl sie einer weiteren Untersuchung bedürfen. Auf den Punkt gebracht schreibt er:
Meines Erachtens hat sich die imperialistische Phase, die Lenin 1917 richtig eingeschätzt hat, in den Nachkriegsjahren mit der Entwicklung des Bretton‐Woods‐Systems teilweise qualitativ weiterentwickelt. Das bedeutet nicht, dass Lenin »falsch« lag, sondern lediglich, dass sein Untersuchungsgegenstand – den er zum Zeitpunkt seiner Abhandlung richtig eingeschätzt hatte – Entwicklungen durchlaufen hat, die eine entsprechende Verfeinerung des Verständnisses des Imperialismus bei allen, die sich derselben marxistischen Weltanschauung verschrieben haben, erforderlich machen. Bretton Woods bewirkt eine Verwandlung des Imperialismus von einem internationalen zu einem globalen Phänomen, das nicht mehr durch imperialistische Großmächte verkörpert wird, sondern durch globale Finanzinstitutionen (den IWF und die Weltbank), die von den USA kontrolliert werden und deren Struktur auf der Hegemonie des Dollars basiert.
Er fügt hinzu, dass mit Nixons Abkehr vom Goldstandard »Imperialismus zum Synonym für die Unipolarität und Hegemonie der USA wird«.
Diese Aussage ist falsch. Garrido bekräftigt: »Imperialismus [zu Lenins Zeiten] war nicht einfach eine politische Strategie (wie die Kautskyaner behaupteten), sondern eine integrale Entwicklung der kapitalistischen Lebensweise selbst« [Hervorhebung von mir].
Ebenso handelt es sich beim Imperialismus heute nicht um eine Reihe politischer Strategien, sondern um einen wesentlichen Ausdruck des zeitgenössischen Kapitalismus.
Dennoch folgt Garrido Kautsky darin, den heutigen Imperialismus mit einer Reihe politischer Maßnahmen zu verwechseln: Bretton Woods und der Rückzug der USA vom Goldstandard. Die gesamte Handels‐ und Finanzinfrastruktur der Nachkriegszeit war das Ergebnis politischer Entscheidungen. Sie wurde nicht durch einen »neuen« Imperialismus geprägt, sondern durch die überwältigende Wirtschaftsmacht der USA nach dem Krieg. Wie Garrido weiß, wird diese Asymmetrie heute in Frage gestellt, aber es handelt sich dabei um eine Herausforderung für die Politik oder die Macht der USA und nicht für das imperialistische System.
Die »Transformation«, die Garrido zu sehen glaubt, ist lediglich eine Neuordnung des internationalen Systems, das vor dem Krieg existierte, wobei New York nun London als Finanzzentrum des kapitalistischen Universums ersetzt. Es ist die Ablösung der riesigen kolonialen Welt und der blutigen Rivalitäten und wechselnden Allianzen und Hierarchien der Zwischenkriegswelt durch die Schaffung eines neokolonialen Systems, das von den USA dominiert und durch ihre Übernahme der Rolle des Hüters des Kapitalismus im Kalten Krieg gestärkt wird. Die monopolkapitalistische Basis ist qualitativ dieselbe, aber ihr Überbau ändert sich mit den historischen Umständen. Das Bretton‐Woods‐System und die spätere Abschaffung des Goldstandards spiegeln diese veränderten Umstände wider.
Wie funktioniert Garridos »neuer« Imperialismus?
Wichtig ist, dass sich der Kapitalismus zu einer höheren Stufe entwickelt hat, dass der Imperialismus, von dem Lenin schrieb, nicht mehr die ›letzte‹ Stufe des Kapitalismus ist, sondern dass er – durch seine immanente dialektische Entwicklung – einer neuen Form Platz gemacht hat, die durch eine Vertiefung ihrer charakteristischen Grundlage im Finanzkapital gekennzeichnet ist.
Wir befinden uns endlich in der Ära des kapitalistischen Imperialismus, die Marx im dritten Band von ›Das Kapital‹ vorhergesagt hat, in der sich die vorherrschende Logik der Akkumulation vollständig von G‑W‐G’ zu G‑G’ gewandelt hat, das heißt von produktivem Kapital zu verzinslichem, parasitärem Finanzkapital.
Garridos Verweis auf Band III von Das Kapital scheint im Widerspruch zu meiner und der Lesart anderer zu stehen. In Kapitel 51, dem letzten vollständigen Kapitel, bringt Marx über Engels die Dinge zurück zum Anfang, zur Warenproduktion. Er widerlegt die Ansicht, dass es eine unabhängige Quelle für Wert in der Verteilung gibt – im Umlauf, in der Rente oder im »Profit«. Es ist die Lohnarbeit in der Warenproduktion, die im kapitalistischen Produktionsmodus Wert schafft. Deshalb stellt Marx in Band III fest: »Die wirkliche Wissenschaft der modernen Ökonomie beginnt erst, wo die theoretische Betrachtung vom Zirkulationsprozeß zum Produktionsprozeß übergeht.«
Natürlich erkennt Marx die Aktienmärkte an und wäre von den exotischen Instrumenten des Finanzsektors wie Derivaten und Swaps nicht schockiert. Marx erklärt sie unter der Rubrik »fiktives Kapital«. Mit »fiktiv« meint Marx zukunftsorientierte Schuldverschreibungen gegen zukünftige Werte oder »Wetten«. Sie zirkulieren unter Kapitalisten und werden als bedingter Wert erworben. Sie werden in Zeiten der Überakkumulation – der Superkonzentration von Kapital in wenigen Händen – attraktiv, wenn die Investitionsmöglichkeiten in der produktiven Wirtschaft knapp werden. Und sie verschwinden auf wundersame Weise, wenn die Zukunft, von der sie abhängen, nicht eintritt.
Garridos Missverständnis der internationalen Rolle des Finanzkapitals veranlasst ihn zu der Behauptung, dass »… der Löwenanteil der vom imperialistischen System erzielten Gewinne durch Schulden und Zinsen angehäuft wird«. Auf seinem Höhepunkt vor der großen Krise von 2007 – 2009 machte der Finanzsektor (im weitesten Sinne: Finanzen, Versicherungen, Immobilien) vielleicht vierzig Prozent der US‐Gewinne aus; heute, mit den NASDAQ‐Technologieunternehmen, ist dieser Prozentsatz wahrscheinlich geringer. Aber das sind nur die Gewinne in den USA. Mit der Deindustrialisierung hat sich die industrielle Warenproduktion nach China, Indonesien, Vietnam, Indien, Brasilien, Osteuropa und andere Niedriglohnländer verlagert, und die USA sind zum Zentrum der Weltfinanz geworden. Wenn die Warenproduktion ins Stocken gerät, bricht das gesamte Gebäude des fiktiven Kapitals zusammen, zusammen mit seinen fiktiven Gewinnen.
Wie in allen drei Bänden von Das Kapital ausführlich dargelegt wird, ist die Warenproduktion die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise und Lohnarbeit die Quelle des Werts, nicht die mystifizierenden Manöver der Wall‐Street‐Betrüger.
Garrido schließt sich vielen linken Verfechtern der Multipolarität an, indem er den Imperialismus vom kapitalistischen System abkoppelt, sei es durch eine Überarbeitung des Ausbeutungsmechanismus, durch die Leugnung der Logik des kapitalistischen Wettbewerbs und der Rivalität oder durch eine Neudefinition seiner Merkmale. Garridos einzigartiger Beitrag zu diesem Manöver besteht darin, die Ungerechtigkeit des Imperialismus nicht in der Ausbeutung der Arbeiterschaft, sondern in »Schulden und Zinsen« zu sehen.
In der Welt der linken Multipolaristen sind die BRICS‐Staaten (für Garrido Russland und die VR China) die wahren Antiimperialisten. Aber für diejenigen, die weniger theoretisch veranlagt sind, für diejenigen, die sich nicht in theoretische Debatten verstricken wollen, gibt es einen praktischen Lackmustest: Palästina. Wenn ein genozidaler Angriff auf das palästinensische Volk durch einen theokratischen Groß‐Israel‐Staat der derzeit bedeutendste imperialistische Akt ist, wo sind dann diese Antiimperialisten? Haben sie internationalen Widerstand organisiert, den Handel eingestellt, Sanktionen verhängt, die Anerkennung oder Zusammenarbeit zurückgezogen, freiwillige Kämpfer entsandt oder auf andere Weise materiellen Widerstand geleistet?
In der Vergangenheit halfen China und die Sowjetunion Vietnam mit Material und physischer Unterstützung im Kampf gegen den Imperialismus; die Sowjets trieben Kuba Anfang der 1960er Jahre an den Rand eines Krieges, um es gegen imperiale Bedrohungen zu unterstützen; die Kubaner kämpften und starben in den 1990er Jahren in Angola gegen Imperialismus und Apartheid. Sogar die USA schlossen sich 1956 der Sowjetunion an, um die imperialen Pläne Großbritanniens, Frankreichs und Israels für den Suezkanal zu vereiteln.
Werden die heute gefeierten »Antiimperialisten« aktiv werden oder bleibt Multipolarität nur ein leeres Wort?
Erschienen am 28. September 2025 auf Marxism‐Leninism Today
Bild: Von links nach rechts der brasilianische Präsident Lula da Silva, der chinesische Präsident Xi Jinping, der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa, der indische Premierminister Narendra Modi und der russische Außenminister Sergey Lavrov auf einem Familienfoto, Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr 2023 in Johannesburg, Südafrika, am 22. August 2023. 15. BRICS‐Gipfel – https://www.flickr.com/photos/197960982@N04/53137049345/

Zum Verständnis des Kapitalismus und Imperialismus bei Lenin siehe https://magma-magazin.su/2024/06/sunnifa/ueber-lenins-verstaendnis-von-kapitalismus-imperialismus-und-sozialismus/ .
Moral aus der Geschicht‹: Um die Gefahr des Imperialismus nach dem Sturz der US‐Vormachtstellung einschätzen zu können, ist Fleißarbeit gefragt: Wie sind die 10 dann größten/mächtigsten Nationalstaaten wirtschaftlich organisiert? So, dass sie Imperialismus brauchen, damit ihre Wirtschaften funktionieren können? Oder so, dass sie auch ohne Imperialismus auskommen könnten, so dass ihre dann eventuell imperialistischen Außenpolitiken eher eine politische als eine ökonomisch existenzielle Frage wären? Wie sind die ökonomischen und militärischen Möglichkeiten ersterer beschaffen, einen erfolgreichen Imperialismus hinzukriegen? Werden sie mangels imperialistischer Erfolgsmöglichkeiten zu Mischwirtschaften gezwungen sein?
Und ein Aspekt noch: Im Moment führt gesellschaftliche Unruhe in Ländern wie Iran und vielen weiteren dazu, dass sofort das euroatlantische Imperium reingrätscht und die dann neue Regierung in die Tasche steckt, damit die Ausplünderung beginnen kann. Deshalb dulden Mehrheiten der Proletariate in vielen Ländern autoritäre Regime, solange sie dabei materiell nicht vor die Hunde gehen. Das wird anders werden.