Vom Sieg zur Niederlage: Chinas sozialistischer Weg und die kapitalistische Kehrtwende (Teil II)

Vorwort der Redaktion

Die Redaktion hat sich zur schrittweisen Übersetzung der als Antwort auf Fragen aus der Arbeiterbewegung konzipierten Abhandlung Pao‐​yu Chings über den Sieg und die Niederlage des Sozialismus in China entschieden, weil sie konzise und konzentriert auf wesentliche Fragen eingeht, die zur Beurteilung Chinas entscheidend sind. Die Abhandlung wurde 2019 beim maoistischen Verlag Foreign Languages Press veröffentlicht. Die Beteiligung Chinas an der 2020 einsetzenden Seucheninszenierung hat innerhalb der kritisch gebliebenen Linken für viele Diskussionen hinsichtlich der Einschätzung Chinas vor allem im linken antiimperialistischen Kontext gesorgt. Die Debatte setzt sich fort bezüglich der Frage zur Rolle der BRICS und dem Diskurs über die Entstehung einer »multipolaren Welt« oder der Rolle Chinas hinsichtlich Syriens oder des Genozids in Gaza. Dabei wird nicht selten die Ansicht vertreten, dass China nach wie vor ein sozialistisches Land sei. Mit der Veröffentlichung von Chings Abhandlung soll die Debatte sowohl angestoßen als auch vertieft werden, denn eine akkurate Einordnung Chinas erweist sich als zunehmend dringlicher, um angemessene Analysen, Taktiken und Strategien in aktuellen antiimperialistischen Kämpfen zu formulieren. Ergänzungen, Erwiderungen, übersetzte Studien oder eigene Beiträge sind daher gerne bei der Redaktion einzureichen, um diese nicht unwichtige Debatte zu befördern. Mit Jan Müllers und Wu Bus Broschüren und Artikeln liegen zudem bereits einige fundierte Analysen vor.

Inhalt

Einführung

Frage I: Karl Marx rechnete damit, dass die sozialistische Revolution zuerst in den Ländern stattfinden würde, in denen der Kapitalismus ein fortgeschritteneres Stadium erreicht hatte. Warum fand die sozialistische Revolution zuerst in Russland und dann in China statt, wo sich der Kapitalismus erst im Anfangsstadium der Entwicklung befand?

Frage II: Wie können wir feststellen, ob Chinas Entwicklung von 1956 bis 1978 sozialistisch war?

Frage II a: Wie haben sich die Produktionsverhältnisse im staatlichen Industriesektor verändert?

Frage II b: Wie haben sich die Produktionsverhältnisse im Kollektiveigentum befindlichen Agrarsektor verändert?

Frage III: Wie hat sich der Überbau von 1949 bis 1978 von feudal und kapitalistisch zu sozialistisch verändert und wie wichtig war die Kulturrevolution für diesen Wandel?

Frage IV: Was waren weitere Errungenschaften während der sozialistischen Entwicklung Chinas?

Frage V: Wie sah Chinas sozialistische Entwicklungsstrategie aus? Wie unterschied sich Chinas sozialistische Entwicklung von der kapitalistischen Entwicklung in kolonialen und halbkolonialen Ländern?

Frage VI: Mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten war China während des sozialistischen Aufbaus konfrontiert?

Frage VII: Was ist mit China und dem chinesischen Volk nach der Machtübernahme durch die Konterrevolutionäre im Jahr 1976 geschehen?

Frage II: Wie können wir feststellen, ob Chinas Entwicklung von 1956 bis 1978 sozialistisch war?

1956 wurde das Eigentum an den Produktionsmitteln in Chinas Industriebetrieben auf den Staat übertragen. Nach Abschluss der Landreform 1953 begann die Kollektivierung der Landwirtschaft. Dann wurden 1958 Volkskommunen gebildet. Nach der Analyse meines Co‐​Autors Deng‐​yuan Hsu und mir in Rethinking Socialism (Sozialismus neu denken) war diese Eigentumsübertragung an sich kein Hinweis darauf, dass China begann sozialistisch zu sein. Ob China den Sozialismus oder den Kapitalismus entwickelte, hing davon ab, was nach der Übertragung der Produktionsmittel an den Staat und nach der Bildung der Volkskommunen geschah. Daher ist eine Darstellung der konkreten politischen Maßnahmen nach 1956 erforderlich. Von 1956 bis 1976 trieb die Kommunistische Partei Chinas konkrete politische Maßnahmen voran, die die Produktionsverhältnisse sowohl im industriellen als auch im landwirtschaftlichen Sektor Chinas grundlegend veränderten und sie sozialistisch machten.1 Auch im Überbau gab es grundlegende Veränderungen. Grundlegende Veränderungen in den Produktionsverhältnissen (Eigentum und Kontrolle über die Produktionsmittel) und grundlegende Veränderungen im Überbau (politisch, ideologisch und kulturell) sind grundlegende Maßstäbe, um zu bestimmen, ob eine Gesellschaft kapitalistisch oder sozialistisch ist. Das wird im Folgenden erläutert.

Frage II a: Wie haben sich die Produktionsverhältnisse im staatlichen Industriesektor verändert?

Eine Reihe konkreter politischer Maßnahmen veränderte die Produktionsverhältnisse in den staatlichen Industrieunternehmen grundlegend: (1) die schrittweise Abschaffung der Warenproduktion und (2) die schrittweise Abschaffung der Arbeitskraft als Ware.

Die allmähliche Abschaffung der Warenproduktion in staatlichen Unternehmen

Während des sozialistischen Übergangs in China entschied der Staat gemäß einem nationalen Plan, der auf den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen der Bevölkerung und des Landes basierte, was und wie viel jedes Industrieunternehmen produzieren sollte. Der Staat legte Investitionspläne für die Erneuerung alter Maschinen/​Anlagen und zusätzliche Investitionen für die Produktionserweiterung fest. Der Staat versorgte die Unternehmen außerdem zu vorher festgelegten Preisen mit Rohstoffen, Maschinen und Anlagen und »kaufte« die produzierten Güter ebenfalls zu vorher festgelegten Preisen. Die einzelnen Unternehmen gaben alle ihre »Einnahmenüberschüsse« über ihre »Ausgaben« an den Staat ab. Der Betrag dieser »Einnahmenüberschüsse« wurde nicht als »Gewinn« betrachtet, da die Preise für Vorleistungen und Produkte vom Staat künstlich festgelegt wurden. Diese »Einnahmenüberschüsse« wurden nicht als Indikator für die Leistungsfähigkeit der Unternehmen herangezogen. Das Maß für die Effizienz des Unternehmens war ein Vergleich mit früheren Ergebnissen – ob das Unternehmen mehr und bessere Produkte schneller hergestellt und mehr Ressourcen eingespart hatte. Damit verloren »Gewinn« und »Verlust«, wichtige Indikatoren in einer kapitalistischen Wirtschaft, jede Bedeutung. Auf diese Weise wurden staatliche Unternehmen von der Gewinnmaximierung abgekoppelt.

Als die Warenproduktion aus dem staatlichen Sektor phasenweise abgeschafft wurde, verlor das Wertgesetz (Tausch gleicher Werte) seine Funktion als Regulierungsmechanismus der Wirtschaft. In einer kapitalistischen Wirtschaft regulieren die Marktpreise Angebot und Nachfrage. Die Preise steuern, was produziert wird und wie die Ressourcen verteilt werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft fließen die Ressourcen dorthin, wo die Produktion die höchsten Profitraten erzielt. Als der staatliche Sektor in der sozialistischen Volksrepublik China die Warenproduktion abschaffte, hörte das Wertgesetz auf, die Ressourcen auf verschiedene Produktionszweige zu lenken. Diese Aufgabe übernahm stattdessen der Wirtschaftsplan. Der Wirtschaftsplan ermöglichte es, den Zweck der Produktion von der Gewinnmaximierung auf die Produktion von Gebrauchswerten zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und des Landes (sowohl der gegenwärtigen als auch der zukünftigen Bedürfnisse) umzustellen.

Im sozialistischen China bestimmte der Wirtschaftsplan, wie Ressourcen für die Produktion von Konsumgütern wie Lebensmittel, Kleidung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum und so weiter oder für die Produktion von Produktionsgütern wie Maschinen, Ausrüstung, Infrastruktur und Gebäuden verteilt wurden. Der Wirtschaftsplan musste sorgfältig und bewusst ausgearbeitet werden, um die sehr knappen Ressourcen ausgewogen zwischen der Produktion von Konsumgütern, die den aktuellen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprachen, und Investitionsgütern, die die Produktionskapazitäten für die Zukunft erhöhten, zu verteilen. Darüber hinaus wurden unter den verschiedenen Arten von Konsumgütern diejenigen bevorzugt, die am dringendsten benötigt wurden, wie Lebensmittel, sauberes Trinkwasser, Kleidung und Wohnraum sowie grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung und so weiter. Im Wirtschaftsplan wurden diese grundlegenden Produkte und Dienstleistungen künstlich niedrig bepreist, damit sich alle Stadtbewohner sie leisten konnten.2 Andererseits galten andere Konsumgüter wie Armbanduhren in der frühen Entwicklungsphase als »Luxusartikel«, sodass der Preis für Uhren künstlich hoch angesetzt wurde (ohne Berücksichtigung der Produktionskosten), beispielsweise auf 100 Renminbi. Bei diesem Preis musste ein Arbeiter mit durchschnittlichem Einkommen mehrere Jahre sparen, um sich eine Uhr leisten zu können. In einer frühen Entwicklungsphase wurden nur geringe Ressourcen für die Produktion von Gütern wie Uhren bereitgestellt.

Unter den Produktionsgütern wurde der Schwerindustrie, die Maschinen und Ausrüstung herstellte, hohe Priorität eingeräumt, da sie die Grundlage der Industrialisierung bildete. Die Schwerindustrie produzierte Maschinen für die Leichtindustrie, beispielsweise für die Textilindustrie. Während der Industrialisierung in der Sowjetunion wurde jedoch zu viel Wert auf die Schwerindustrie gelegt, was zu Lasten der Leichtindustrie und der Landwirtschaft ging und zu einem Mangel an Lebensmitteln und anderen Konsumgütern führte. China lernte aus den Erfahrungen der Sowjetunion und bemühte sich, deren Fehler nicht zu wiederholen. Mao schrieb 1956, als die Industrialisierung gerade begann, »Über die zehn großen Beziehungen«.3 Die erste wichtige Beziehung war die zwischen der Schwerindustrie und der Leichtindustrie sowie zwischen der Industrie und der Landwirtschaft. Hier schrieb Mao: »Beim Aufbau unseres Landes liegt das Hauptgewicht auf der Schwerindustrie. Der Erzeugung der Produktionsmittel muß Vorrang gegeben werden […].«4 Im nächsten Absatz warnte Mao jedoch, dass China nicht den Fehler der UdSSR (und der osteuropäischen Länder) wiederholen sollte, einen »einseitigen« Schwerpunkt auf die Schwerindustrie zu legen und dabei die Landwirtschaft und die Leichtindustrie zu vernachlässigen, was zu einer Verknappung von Gütern und einer instabilen Währung geführt hatte. Er plädierte für eine Wirtschaftsplanung, die das Gleichgewicht zwischen Industrie und Landwirtschaft sowie zwischen Schwerindustrie und Leichtindustrie sorgfältig berücksichtigt.

Natürlich wurden bei der Ausarbeitung des umfangreichen Wirtschaftsplans für das gesamte Land Fehler gemacht; es handelte sich um ein sehr komplexes Unterfangen, das viele Wirtschaftssektoren und die Beziehungen zwischen diesen Sektoren umfasste. Der Schaden dieser Fehler konnte jedoch minimiert werden, wenn sie schnell entdeckt und korrigiert wurden. Ein erfolgreicher Wirtschaftsplan erforderte ständige Anpassungen und Neuanpassungen, und die Menschen wurden durch die Nutzung früherer Erfahrungen immer geschickter. Die kapitalistische Propaganda behauptet unermüdlich, dass das Vertrauen in die blinden Kräfte des Marktes zu besseren Ergebnissen führe als eine sorgfältig und bewusst geplante Wirtschaft. Das ist schlichtweg falsch.

Nur im Sozialismus entfernen wir uns von der Produktion von Waren zum Zwecke der Gewinnmaximierung. Wenn wir die Planwirtschaft mit der kapitalistischen Marktwirtschaft vergleichen, können wir die Überlegenheit des Sozialismus verstehen. Dieser Artikel erklärt die irrationalen und katastrophalen Folgen der kapitalistischen Wirtschaft, die von den blinden Kräften des Marktes diktiert wird, wo die Produktion von Waren auf Gewinnmaximierung basiert, was im Zeitalter des Imperialismus – der letzten Stufe des Kapitalismus – noch ausgeprägter ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Schaden für die Volkswirtschaften kolonialer und halbkolonialer Länder noch verschärft, nachdem das internationale Monopolkapital alle Barrieren durchbrochen und sich bis in alle Winkel der Welt ausgebreitet hat. Nachdem ihre Volkswirtschaften gewaltsam in den Bereich integriert wurden, in dem das internationale Monopolkapital dominiert, verloren sie die Kontrolle über ihre Ressourcen. Das in diesem Bereich geltende Wertgesetz hat den Menschen das Recht auf ein einfaches Leben genommen. Hier sind einige konkrete Beispiele.

Wir sehen viele Städte auf der Welt – sogar Städte in armen Ländern –, in denen moderne Hochhäuser und sechsspurige Autobahnen neben städtischen Slums stehen. Letztere werden von Obdachlosen bewohnt, die unter erbärmlichen Bedingungen leben. Diesen Ländern fehlen oft die Ressourcen, um die grundlegendste Infrastruktur wie Wasseraufbereitungsanlagen zu bauen, da sie einen Großteil ihrer Einnahmen für die Zinsen ihrer Schulden bei ausländischen Banken und internationalen Finanzinstitutionen aufwenden müssen. Darüber hinaus wurden diese Länder im Zeitalter des Neoliberalismus gezwungen, der Beseitigung aller Hindernisse für ausländische Investitionen zuzustimmen. Zu den ersten ausländischen Investitionen gehörten oft große Softdrinkhersteller wie Coca‐​Cola und Pepsi‐​Cola, da die Investitionen für den Bau von Abfüllanlagen sehr gering sind, während die Gewinne sehr hoch sind. Diese riesigen US‐​Softdrinkkonzerne füllen einfach Zuckerwasser mit ihrer durch WTO‐​Patentrechte geschützten Geheimrezeptur ab und warten auf die Gewinne. Die Armen, die sich keine Limonade oder Wasser in Flaschen leisten können, müssen verschmutztes Wasser trinken und leiden unter vielen durch Wasser übertragenen Krankheiten, weil ihre Regierungen nicht über die Mittel verfügen, um Wasseraufbereitungsanlagen zu bauen. Ist der Marktmechanismus wirklich ein rationaler Weg, um die Ressourcen eines Landes zu verteilen, wenn Menschen sauberes Wasser verweigert wird, während große multinationale Konzerne hohe Gewinne einstreichen? Wären die Menschen nicht besser dran gewesen, wenn ihre Wirtschaft geplant worden wäre und der Bau von Wasseraufbereitungsanlagen oberste Priorität gehabt hätte?

Es gibt viele Beispiele dafür, dass das Vertrauen in die Marktkräfte für die Menschen in kolonialen und halbkolonialen Ländern, die unter hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Einkommen leiden, nachteilige Folgen hatte. Ihre Herrscher haben sich der Macht des globalen Monopolkapitals ergeben und die Lüge geglaubt, dass ein Land in der heutigen globalisierten Welt auf der Grundlage seiner komparativen Vorteile seine Nische auf dem internationalen Markt finden und dann einfach Rohstoffe exportieren kann, um Wohlstand zu erlangen. Das Ergebnis ist, dass viele Länder ähnliche Produkte herstellen und die Exportpreise dieser Produkte sinken. Ein Beispiel dafür ist die Flutung des Weltmarktes vor einigen Jahren mit exportierten Uhren, angeführt von China. Die Preise für Uhren fielen auf ein lächerlich niedriges Niveau. Einmal zeigte mir jemand in den Vereinigten Staaten seine Uhrensammlung – hundert Uhren in verschiedenen Stilen und Farben, ausgestellt in einem sehr großen, schicken Koffer. Er prahlte stolz, dass ihn seine Sammlung nicht viel gekostet habe; Menschen mit mittlerem Einkommen in imperialistischen Ländern, die nicht reich genug sind, um sich eine Flotte teurer Autos oder ein schickes großes Haus zu leisten, können sich nun eine Uhrensammlung leisten. Eine Uhrensammlung ist ein klarer Fall von Warenfetischismus, bei dem die Uhr als Ware völlig von ihrem Gebrauchswert, nämlich der Zeitanzeige, losgelöst ist. Dieser eindeutige Fall zeigt, wie die Verteilung von Ressourcen im Imperialismus verzerrt ist. Wenn sie den internationalen Marktkräften folgen, verwenden zu viele koloniale und halbkoloniale Länder ihre Ressourcen übermäßig für die Produktion von Exportgütern – damit die Menschen in imperialistischen Ländern diese zu niedrigen Preisen sammeln können, um ihre Fetische zu befriedigen – und zu wenig für die Produktion von Gütern, die ihre Bevölkerung dringend benötigt, wie Nahrung, sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung, Bildung und Wohnraum.

Darüber hinaus ist der Markt irrational, wenn es um wichtige Entscheidungen über neue Investitionen und technologische Veränderungen geht. Ein Unternehmen in einer kapitalistischen Wirtschaft muss ständig expandieren, um seinen Marktanteil zu halten oder zu vergrößern. Wenn ein Unternehmen dies nicht tut und sein Marktanteil schrumpft, muss es irgendwann Insolvenz anmelden. Daher ist ständige Expansion in der Welt der kapitalistischen Wirtschaft eine Notwendigkeit. Die Expansion eines Unternehmens bedeutet, ständig neue Produkte zu entwickeln, neue Technologien einzuführen und in neue Produktionsanlagen zu investieren. Das Ergebnis ist, dass Fabriken oft aufgegeben werden, obwohl sie noch in gutem Zustand sind und zur Herstellung nützlicher Produkte genutzt werden könnten. Die kapitalistische Propaganda lässt uns glauben, dass die ständige und sinnlose Ausmusterung und Entsorgung alter Produkte, alter Technologien und alter Anlagen in dem vom Markt geforderten Tempo ein Zeichen des Fortschritts ist. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Nur wenn wir Menschen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, können wir rational und bewusst entscheiden, wann alte Anlagen durch neue ersetzt werden sollen, indem wir die Nützlichkeit der alten Anlage, die für die Herstellung neuer Anlagen erforderlichen Ressourcen und die Folgen für die Umwelt bei der Stilllegung der alten Anlagen abwägen.

Hier ist ein konkretes Beispiel dafür, wie ein reales Unternehmen im Kapitalismus Entscheidungen darüber trifft, wann es in neue Produkte investiert: Andy Grove, ehemaliger Präsident des großen Hightech‐​Unternehmens Intel, erklärt, warum sie bereits an mehreren neuen Modellen arbeiteten, um ihre Chips der nächsten Generation zu ersetzen, noch bevor diese als solche auf den Markt kamen: »Das ist die Kannibal‐​Strategie: Wir fressen unsere Kinder und tun dies immer schneller. So behalten wir unseren Vorsprung.«5 Alle Hightech‐​Unternehmen haben dieselbe Strategie übernommen. Als das iPhone auf den Markt kam, präsentierte Apple stolz sein innovatives neues Produkt. Doch schon bald musste Apple das erste iPhone durch die Modelle iPhone 2, 3, 4 und so weiter überflüssig machen. Heute verkauft Apple das iPhone X. Die Propaganda für den Kapitalismus verteidigt solche Verschwendung mit der Behauptung, »geplante Obsoleszenz sei ein Kennzeichen des Fortschritts«.

Zusätzlich zur »geplanten Obsoleszenz«, die die wertvollen Ressourcen der Erde kontinuierlich verschwendet, kommt die Zerstörung durch wiederholte Konjunkturzyklen hinzu. In der Aufschwungphase des Zyklus müssen sich Unternehmen auf eine weitere Expansion vorbereiten. Also bauen sie fieberhaft zusätzliche Produktionskapazitäten auf, obwohl sie wissen, dass diese Überkapazitäten zerstört werden, wenn die Konjunktur wieder einbricht. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Konjunkturzyklen aufgrund der zunehmenden Spekulationsneigung der Investoren kürzer geworden. Die zerstörerische Kraft des Kapitals auf die Umwelt vervielfachte sich in der Ära des Neoliberalismus, als koloniale und halbkoloniale Länder die Regeln des globalen Monopolkapitals akzeptierten und alle Hindernisse für den freien Zufluss von ausländischem Kapital beseitigten. Sie konkurrierten miteinander, um dem globalen Monopolkapital die größten Anreize zu bieten. Dafür hielten sie die Löhne niedrig, gestalteten die Arbeitsbedingungen flexibel, senkten die Steuern und erließen nur minimale Umweltauflagen. Mitte der 1990er Jahre lockten diese Anreize große Mengen ausländischen Kapitals in südostasiatische Länder und führten zu einer Flut neuer Fabriken, die ähnliche Billigprodukte wie Kleidung, Schuhe, Spielzeug, Elektronik und so weiter herstellten.

Die kapitalistische Propagandamaschine verkündete, dass in Asien ein Wirtschaftswunder stattgefunden habe und dass das 21. Jahrhundert das »asiatische Jahrhundert« werden würde. Dann, in den Jahren 1997 – 98, zerstörte eine weitreichende Wirtschaftskrise diese Volkswirtschaften und fast alle neu errichteten Fabriken wurden stillgelegt. Paul Krugman, ein bürgerlicher Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, verglich diese Wirtschaftskrise, von der 660 Millionen Menschen in sieben Ländern betroffen waren, die ein Viertel der Weltproduktion erbrachten, mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 in den imperialistischen Ländern.6 Die Krise begann in Südostasien und breitete sich nach Russland, Südkorea, dann nach Brasilien und darüber hinaus aus, wodurch weitere Hunderte Millionen Menschen in Not gerieten. Die lateinamerikanischen Länder, die seit den 1980er Jahren unter anhaltenden Krisen gelitten hatten, stürzten in eine noch tiefere Krise, die sich von Argentinien über Brasilien und Mexiko bis nach Uruguay, Paraguay, Bolivien, Kolumbien und Peru ausbreitete. Wir müssen fragen: Wenn das keine Barbarei ist, was dann?

Wir können uns den Fortschritt, der durch »geplante Obsoleszenz« oder die Verschwendung und das Leid des kapitalistischen Konjunkturzyklus entsteht, nicht länger leisten. Die Menge an Ressourcen – fossile Brennstoffe, Metalle, Kunststoffe und Mineralien –, die benötigt wird, um immer schneller neue Produkte herzustellen, die dann kurz nach ihrer Herstellung wieder entsorgt werden, sowie die Zerstörung, die durch wiederholte kapitalistische Krisen verursacht wird, überfordert die Erde. Wenn wir die letzte Phase des Kapitalismus genau betrachten, sehen wir ein scheinbar unaufhaltsames monströses System, das durch das entfesselte globale Monopolkapital die Welt erobert und Menschen, Land und Umwelt rücksichtslos auseinanderreißt. Der Imperialismus hat dem Monopolkapital immense Vorteile verschafft, aber er zerstört den Großteil der Weltbevölkerung, erschöpft ihre Ressourcen und zerstört ihre natürliche Umwelt. Diese Art von Fortschritt wollen wir nicht und können wir uns nicht leisten. Wir stehen vor einer gut dokumentierten Umweltkrise, die in der Geschichte der Menschheit beispiellos ist.7 Der Kapitalismus, der vom Willen des Kapitals nach grenzenloser Expansion diktiert wird, befindet sich auf Kollisionskurs mit den Grenzen des Planeten, auf dem wir alle leben.

Der Sozialismus ist die einzige Form der Entwicklung, die die Zerstörung der Erde aufhalten kann. Während des sozialistischen Aufbaus in China war die Wirtschaft bei Produktions‐ und Investitionsentscheidungen nicht von den Launen des Kapitals abhängig und litt nicht unter den Höhen und Tiefen des Konjunkturzyklus. Entscheidungen über neue Technologien wurden nicht aus einer Obsession für Marktanteile getroffen, sondern rational, unter sorgfältiger Abwägung aller relevanten Faktoren, darunter die Schonung von Ressourcen, die Rücksichtnahme auf die Umwelt und auch der Wert, der der Arbeit bei der Herstellung von Maschinen und Anlagen beigemessen wird. Während der kapitalistische Markt Unternehmen ohne die neuesten Technologien immer verdrängt, hat die sozialistische Wirtschaft gezeigt, dass mehr Unternehmen mit weniger fortschrittlicher Technologie neben denen mit fortschrittlicherer Technologie bestehen können, solange sie gemeinsam nützliche Produkte für die Menschen herstellen. Dies ist besonders wichtig für arme Länder, in denen Kapital knapp ist und in denen die ausländische Konkurrenz aufgrund überlegener Technologien eine Industrialisierung des Landes fast unmöglich gemacht hat. Die sozialistische Entwicklung in China hat gezeigt, dass ein weniger entwickeltes Land sich auf seine eigenen Ressourcen und Menschen stützen kann, um seine Wirtschaft zu entwickeln. Eine auf Selbstständigkeit basierende Entwicklung war nur mit einer sozialistischen Entwicklung möglich, in der die Logik des Kapitals nicht mehr dominierte.8

Als staatliche Industrieunternehmen die Warenproduktion einstellten, war dies ein grundlegender und bedeutender Schritt in Richtung Kommunismus. In diesem Prozess wurde jedes staatliche Unternehmen als Teil des Ganzen betrachtet und unterlag einem einheitlichen Rechnungslegungssystem. Anstatt miteinander zu konkurrieren, arbeiteten die verschiedenen Unternehmen einer Branche zusammen. So half beispielsweise ein technologisch fortschrittliches Stahlunternehmen beim Aufbau eines neuen Stahlwerks, indem es die Planung der Anlage, Maschinen und Ausrüstung sowie sogar technisches Personal zur Verfügung stellte. Erfahrene Ingenieure aus dem alten Stahlwerk gingen in das neu errichtete Werk, um dort zu beraten, oder Ingenieure aus den neuen Werken wurden in den fortgeschritteneren Werken geschult. Da sowohl das alte als auch das neue Werk Teil desselben Ganzen waren, betrachtete das alte Werk die Hilfe für das neue Werk nicht als »Ausgabe«. Durch diese Zusammenarbeit breitete sich die Industrialisierung im sozialistischen China von der Ostküste und dem Nordosten, wo die Industrialisierung weiter fortgeschritten war, auf die abgelegeneren Regionen im Norden und Nordwesten aus. Es gab sogar einen eingängigen Ausdruck, um dieses Phänomen zu beschreiben: »Eine alte Henne legt überall Eier« – was in diesem Beispiel bedeutet, dass ein älteres Stahlwerk Dutzende neuer Stahlwerke hervorbrachte. Dies zeigte, dass Zusammenarbeit der Konkurrenz weit überlegen war.

Die allmähliche Abschaffung der Arbeitskraft als Ware

Während des sozialistischen Aufbaus in China wurde die Arbeitskraft als Ware, die gekauft und verkauft werden konnte, allmählich abgeschafft. Dies ist ein ebenso wichtiges Merkmal des Sozialismus, das ihn grundlegend vom Kapitalismus unterscheidet. Der Staat führte eine achtstufige Lohnskala ein, die landesweit für alle Arbeiter in staatlichen Betrieben galt. Die Lohnskala basierte auf den Qualifikationen und der Betriebszugehörigkeit der Arbeiter, wobei die Lebenshaltungskosten in den verschiedenen Landesteilen berücksichtigt wurden. Ingenieure mit Hochschulabschluss erhielten höhere Löhne. Im Laufe der Zeit wurden jedoch die Löhne der Ingenieure gesenkt, wenn sie ihre Hochschulausbildung nach 1949 absolviert hatten, als der Staat ihre Studiengebühren und Lebenshaltungskosten übernommen hatte.9

Während des sozialistischen Aufbaus erhielten staatliche Unternehmen vom Staat Lohnfonds zur Deckung ihrer gesamten Lohnkosten sowie der Kosten für Sozialleistungen für die Arbeiter, darunter Wohnungen zu niedrigen Mieten, subventionierte Lebensmittel und Versorgungsleistungen, im Wesentlichen kostenlose medizinische Versorgung, Bildung und andere Dienstleistungen. Die Übertragung der Lohnfonds vom Staat auf die Arbeiter über die Unternehmen entband die für die Unternehmen verantwortlichen Kader (in China als »ganbu«, wörtlich übersetzt »Rückgratpersonal«, bezeichnet) von der Verantwortung, die Lohn‐ und Sozialleistungen aus den Unternehmensgewinnen zu bezahlen. Manager in kapitalistischen Ländern entlassen oft Arbeiter, reduzieren die Arbeitszeiten oder kürzen die Sozialleistungen der Arbeiter, wenn das von ihnen geleitete Unternehmen die Gewinnziele nicht erreicht. Ganbu in staatlichen Unternehmen hatten keine solche Befugnis, da der Staat die Arbeitsplätze der Arbeiter durch die Übertragung der Lohnfonds zur Deckung der Löhne und Sozialleistungen garantierte. Die direkte Übertragung der Lohnfonds vom Staat über die Unternehmen an die Arbeiter war die einzige Möglichkeit, die dauerhafte Beschäftigung und die Höhe der Löhne und Sozialleistungen der Arbeiter zu garantieren.

Es ist wichtig, die völlig unterschiedlichen Perspektiven auf die Löhne und Sozialleistungen der Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft im Vergleich zu einer sozialistischen Gesellschaft zu betrachten. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist das Ziel der Produktion die Gewinnmaximierung. Der Gewinn in einem kapitalistischen Unternehmen hängt von der den Arbeitern entzogenen Mehrwert ab, daher ist die gesamte industrielle Organisation darauf ausgerichtet, die Produktion »effizient« zu gestalten, um den Mehrwert der Arbeiter zu steigern. Höhere Löhne und bessere Sozialleistungen verringern logischerweise den Mehrwert und wirken sich negativ auf den Gewinn aus, sodass sie so niedrig wie möglich gehalten werden müssen. In einer sozialistischen Gesellschaft hingegen ist eines der wichtigsten Ziele der Produktion die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen. Höhere Löhne und bessere Sozialleistungen sind genau die Gründe, warum der Zweck der Produktion erfüllt wird. In staatlichen Fabriken waren die für verschiedene Abteilungen zuständigen Kader (Ganbu) nicht nur für die Verwaltung der Produktionsangelegenheiten zuständig, sondern auch für viele Aspekte des Lebens der Arbeiter, darunter Ernährung, Wohnen, Versorgung, Kindergärten und Schulen (manchmal sogar bis zur Hochschule) sowie Freizeitgestaltung und die Organisation des politischen Studiums. Ganbu fungierten sogar als Berater/​Sozialarbeiter, um Probleme zwischen Familienmitgliedern und/​oder Kollegen zu lösen. Mit anderen Worten, Ganbu widmeten allen Aspekten des Lebens der Arbeiter große Aufmerksamkeit. Wenn ein Ganbu diesen Teil seiner Verantwortung vernachlässigte oder diese Angelegenheiten nicht fair behandelte, wurde er kritisiert.

Ob Arbeitskraft eine Ware ist oder nicht, ist von entscheidender Bedeutung. Marx widmete den ersten Band seines Werks »Das Kapital« der Erklärung, wie der Kapitalist den Arbeitern im Produktionsprozess Mehrwert entzieht. Er analysierte, wie Mehrwert beim Verkauf des Produkts in Profit umgewandelt wird. Marx erklärte, dass Ausbeutung im Gegensatz zur feudalen Gesellschaft in der kapitalistischen Gesellschaft während des Produktionsprozesses stattfindet, in dem der Kapitalist Arbeitskraft als Ware kauft. Daher können wir die Ausbeutung nur beenden, indem wir den Kauf und Verkauf von Arbeitskraft als Ware beenden. Ob Arbeitskraft eine Ware ist oder nicht, bestimmt zwangsläufig, wie der Arbeiter behandelt wird. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Arbeitskraft eine Ware ist, kann der Arbeiter jederzeit eingestellt und entlassen werden. Für den Kapitalisten besteht das einzige Interesse darin, die Arbeitskraft zu kaufen, wenn er sie braucht, und den Kauf einzustellen, wenn er sie nicht mehr braucht. Der Kapitalist kümmert sich nicht um den Arbeiter. Im Gegensatz dazu war einem Arbeiter im sozialistischen China ein Arbeitsplatz und ein Lebensunterhalt einschließlich Rente und medizinischer Versorgung garantiert. In der sozialistischen Gesellschaft, in der die Arbeitskraft keine Ware mehr war, wurden die Arbeiter als Schöpfer des Reichtums sowohl für die Fabrik als auch für die gesamte Gesellschaft behandelt. Dies war der wichtigste Grund, warum Arbeiter im sozialistischen China so hoch geachtet wurden. Nirgendwo auf der Welt und zu keiner Zeit in der Geschichte wurde Arbeitern jemals solche Achtung und Würde entgegengebracht.

Als die Arbeitskraft aufhörte, eine Ware zu sein, veränderte sich zudem das Verhältnis zwischen Arbeitern und Maschinen grundlegend. Lebendige Arbeit befehligte die Maschinen (tote Arbeit enthaltendes Kapital) und nicht mehr umgekehrt. In den Anfängen des Kapitalismus zerstörten die Ludditen Maschinen, weil sie glaubten, dass Maschinen ihre Feinde seien, die ihre Arbeitsplätze überflüssig machen könnten. In kapitalistischen Fließbandfabriken jubeln die Arbeiter, wenn die Fertigungsstraße zusammenbricht. Während des sozialistischen Aufbaus in China wurden Maschinen nicht als Feinde betrachtet; die Arbeiter behandelten Maschinen als wertvolle Werkzeuge, die ihnen bei der Produktion halfen. Die Arbeiter waren stolz, wenn sie die Fertigkeiten beherrschten, Maschinen richtig zu bedienen, um die besten Produkte herzustellen. Sie achteten sehr auf die Wartung der Maschinen, viele gingen sogar an ihrem freien Tag zur Arbeit, um nach den Maschinen zu sehen. (Die Arbeiter lebten in Industriekomplexen, die nur wenige Gehminuten von den Fabriken entfernt waren.)

Auch wenn Chinas Entwicklung zwischen 1956 bis 1978 sozialistisch war, bestanden weiterhin Widersprüche innerhalb des industriellen Sektors sowie zwischen der wirtschaftlichen Basis und dem Überbau. Wenn wir sagen, dass die staatseigenen Industrien die Warenproduktion und die Arbeitskraft als Ware abschafften, bedeutet dies nicht, dass dieser Prozess abgeschlossen war. Tatsächlich dauert der Prozess der Abschaffung der Warenproduktion und der Ware Arbeitskraft sehr lange. Dennoch konnten wir innerhalb eines kurzen Zeitraums von zwei Jahrzehnten zwischen 1956 bis 1978 erkennen, wie sich eine sozialistische Gesellschaft qualitativ von einer kapitalistischen Gesellschaft unterscheidet. Dies wird in der Diskussion über die Veränderungen im Überbau und die Herausforderungen, denen China bei der Entwicklung des Sozialismus gegenüberstand, weiter untersucht werden.

Frage II b: Wie haben sich die Produktionsverhältnisse im Kollektiveigentum befindlichen Agrarsektor verändert?

Gegen Ende der Landreform gab es innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas zwei gegensätzliche Ansichten darüber, wie die chinesische Landwirtschaft entwickelt werden sollte. Die Debatte zwischen diesen gegensätzlichen Ansichten spiegelte die grundlegenden Differenzen zwischen Mao Zedong und Liu Shaoqi (und später Deng Xiaoping) in Fragen der Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft wider. Als die Produktionsmittel im industriellen Sektor vom privaten Sektor auf den Staat übertragen wurden, waren sich die Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas grundsätzlich einig, auch wenn einige Mitglieder (vor allem Liu und seine Anhänger) der Meinung waren, dass die Übertragung langsamer hätte erfolgen sollen. In Bezug auf die Entwicklung des Agrarsektors waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen Mao und Liu jedoch groß und grundlegend. Nach Ansicht von Liu bestand nach der Landreform und der Verstaatlichung der Produktionsmittel im industriellen Sektor der Hauptwiderspruch in China zwischen dem »fortgeschrittenen sozialen System« (sprich den Produktionsverhältnissen) und den »rückständigen gesellschaftlichen Produktivkräften«, wie dies in der Resolution des VIII. Nationalkongresses der KP Chinas von 1956 klar zum Ausdruck kam.10 Daher bestand laut Liu (und später Deng) die Hauptaufgabe der KP Chinas darin, sich der Entwicklung der Produktivkräfte zu widmen. Mao hingegen war der Ansicht, dass das Gesellschaftssystem (die Produktionsverhältnisse und der Überbau) noch lange nicht fortgeschritten sei und dass sowohl innerhalb der wirtschaftlichen Basis als auch zwischen der wirtschaftlichen Basis und dem Überbau weiterhin Widersprüche bestünden.11 Diese philosophischen Differenzen zwischen Mao und Liu führten dazu, dass sie die sozialistische Entwicklung Chinas aus völlig unterschiedlichen Perspektiven betrachteten.

Mao war ein überzeugter Anhänger des marxistischen dialektischen Materialismus. Er sah, dass im Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen die Produktivkräfte der wesentliche Aspekt sind. Im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist die Praxis der wesentliche Aspekt, im Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Basis und dem Überbau ist die wirtschaftliche Basis der wesentliche Aspekt. Mao glaubte jedoch auch, dass unter bestimmten Bedingungen Aspekte wie die Produktionsverhältnisse, die Theorie und der Überbau in den Vordergrund treten und eine wesentliche und entscheidende Rolle spielen können. Mao erklärte, dass Menschen, die diese jeweiligen Positionen (Produktionskräfte vs. Produktionsverhältnisse, Theorie vs. Praxis und wirtschaftliche Basis vs. Überbau) als feststehend und nicht veränderbar betrachten, einen mechanisch‐​materialistischen Standpunkt vertreten und keinen dialektisch‐​materialistischen. Der mechanisch‐​materialistische Standpunkt vertrat die Auffassung, dass unter keinen Umständen die Produktionsverhältnisse, die Theorie oder der Überbau zum dominierenden Aspekt des Widerspruchs werden könnten.

Mao vertrat nicht den mechanisch‐​materialistischen Standpunkt; er glaubte, dass unter bestimmten Bedingungen die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse die Plätze tauschen könnten und die Produktionsverhältnisse die dominierende Rolle bei der Herbeiführung von Veränderungen spielen könnten. Wenn beispielsweise die Produktionsverhältnisse über einen langen Zeitraum unverändert bleiben, können die Produktivkräfte stagnieren und sich nicht weiterentwickeln, es sei denn, es kommt zu einer Veränderung der Produktionsverhältnisse (zum Beispiel durch eine Revolution). In diesem Fall können die Produktionsverhältnisse die hauptsächliche und entscheidende Rolle spielen.12 Mao erklärte weiter, dass zwar im Widerspruch zwischen Überbau und wirtschaftlicher Basis die wirtschaftliche Basis der hauptsächliche Aspekt ist, unter bestimmten Bedingungen jedoch der Überbau zum hauptsächlichen Aspekt werden kann. Während einer Revolution werden die Produktionsverhältnisse durch Menschen verändert, die aktiv am Klassenkampf (politischer, ideologischer und kultureller Kampf im Bereich der Überbau) beteiligt sind und die eine führende Rolle bei der Veränderung der Produktionsverhältnisse spielen können. Der dialektische Materialismus war für Maos Analyse des sozialen Wandels von grundlegender Bedeutung. Er spielte die wichtigste Rolle bei der Ausarbeitung seiner Strategie zum Sieg im langen revolutionären Krieg und auch bei der Gestaltung seiner Strategie für die politische und wirtschaftliche Entwicklung während des sozialistischen Übergangs.

Damit die feudale Ideologie ihren Einfluss verlieren konnte, musste ihre materielle Grundlage, die feudale Landbesitzordnung, zerstört werden. Doch selbst als die Landreform das feudale Landbesitzsystem beendete, erkannte Mao, dass die feudale Ideologie weiterhin Bestand hatte; wenn man sie nicht bekämpfte, konnte sie sich leicht in der neuen wirtschaftlichen Basis festsetzen. Ohne sorgfältige ideologische Arbeit zur Beseitigung der feudalen Ideologie hätte diese daher verhindern können, dass die neue wirtschaftliche Basis Fuß fassen konnte. Mao betrachtete die Landreform nicht nur als Mittel zur Umverteilung des Landes an die Bauern, sondern auch als soziale Bewegung zur Verbreitung einer neuen Ideologie, die erklärte, warum Ausbeutung falsch war und dass es ungerecht war, dass die Grundbesitzer den Bauern die Früchte ihrer Arbeit gewaltsam wegnahmen. Als die Bauern diese neue Denkweise übernahmen, wurden sie entschlossen und befähigt, vergangenes Unrecht zu korrigieren. Sie waren beflügelt, die Landreform zu vollenden und sich an Bewegungen zur Kollektivierung der Landwirtschaft zu beteiligen.

Die Landreform in den neu befreiten Gebieten auf dem chinesischen Land von 1949 bis 1952 verschaffte Hunderten Millionen Bauern zum ersten Mal in ihrem Leben ein Stück eigenes Land. Obwohl der durchschnittliche Landbesitz nur 0,2 Hektar pro Kopf betrug, bewirtschafteten die Bauern ihr neu erworbenes Land mit großer Begeisterung. Die Produktion von Getreide und Baumwolle stieg zwischen 1949 und 1952 rapide an. Bis 1953 stagnierte jedoch die Getreideproduktion und die Baumwollproduktion ging zurück.13

Nach hundert Jahren der Zerstörung durch Kriege und Vernachlässigung durch die Großgrundbesitzer war die natürliche Umgebung für die Landwirtschaft in China sehr fragil. Das Ackerland war knapp und unfruchtbar. Die landwirtschaftliche Infrastruktur, wie beispielsweise die Bewässerung, war völlig zerstört. Vor der Befreiung waren Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen weit verbreitet, Hungersnöte an der Tagesordnung. Nach Abschluss der Landreform im Jahr 1953 besaßen die meisten Bauern, mehr als 300 Millionen Menschen, neben sehr kleinen Parzellen minderwertigen Landes nur sehr wenige landwirtschaftliche Geräte. Unter den armen und unteren Mittelbauern – 60 bis 70 Prozent der chinesischen Bauernschaft – besaßen viele nicht einmal einen Pflug, geschweige denn andere landwirtschaftliche Geräte oder Zugtiere. Ohne landwirtschaftliche Geräte konnte die Produktion nicht allein durch Enthusiasmus gesteigert werden. Darüber hinaus wurden 1953 und 1954 große Teile der Anbauflächen von Überschwemmungen und Dürren heimgesucht. Einzelne Bauern waren solchen Naturkatastrophen schutzlos ausgeliefert. Vor der Befreiung waren viele Bauern bei Naturkatastrophen gezwungen, in benachbarte Provinzen zu ziehen, um zu überleben. Nach der Landreform, als die Gesundheitsbedingungen fast aller Bauern noch sehr schlecht waren, wurden Familien oft durch Krankheit oder den Tod eines Familienmitglieds zerstört. Einige Bauernfamilien hatten auch keine produktiven Arbeitskräfte mehr, da ihre Angehörigen im Krieg gegen Japan und/​oder im Krieg gegen die Kuomintang ihr Leben verloren hatten. Wenn Bauernfamilien mit einem dieser Probleme konfrontiert waren, mussten sie Geld leihen. Angesichts der Schulden zu Wucherzinsen waren einige Bauern gezwungen, ihr neu erworbenes Land zu verkaufen. Vor Beginn der Genossenschaftsbewegung hatten Landverkäufe und private Kreditaufnahmen zugenommen, ebenso wie die Zahl der Bauern, die sich als Landarbeiter verdingten.14

Obwohl die Landreform den Hauptwiderspruch zwischen Bauern und Großgrundbesitzern beseitigte, konnte sie das dringende Bedürfnis nach einer Steigerung der Produktion zur Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Mehrheit der Bauern nicht lösen. Die neue Situation zeigte, dass die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft keine stabile Situation und keine tragfähige Lösung für die landwirtschaftliche Entwicklung war. Die landwirtschaftliche Situation in China zu dieser Zeit war sehr ähnlich wie in vielen kolonialen und halbkolonialen Ländern der Welt heute. Es war offensichtlich, dass die landwirtschaftliche Produktion modernisiert und der Produktionsumfang erhöht werden musste. In China verschärfte sich nach der Landreform der Kampf um die landwirtschaftliche Entwicklung. Der Hauptstreitpunkt war nicht, ob die landwirtschaftliche Produktion ausgeweitet und modernisiert werden musste, sondern wie dies erreicht werden sollte. Mit anderen Worten: Mechanisierung oder Kollektivierung – was sollte zuerst kommen? Mao war der Ansicht, dass die Bauern organisiert werden könnten, um ihre kleinen Parzellen zusammenzulegen und ihre begrenzten Produktionsmittel zu teilen, um zunächst die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und dann Verbesserungen an den Böden vorzunehmen und eine Infrastruktur aufzubauen, um das Land für die Mechanisierung und Modernisierung vorzubereiten. Liu Shaoqi hingegen war der Ansicht, dass nach der Landreform weitere Veränderungen der Produktionsverhältnisse unnötig seien und alle Anstrengungen auf die Entwicklung der Produktivkräfte konzentriert werden sollten. Liu glaubte, dass nur dann die Voraussetzungen für die Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion gegeben seien, wenn China genügend Stahl produzieren und die Technologie zur Herstellung von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten erwerben könne.

Aus einer mechanisch‐​materialistischen Perspektive sind die Produktivkräfte immer der dominierende Aspekt im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – die Produktionsverhältnisse können niemals zum dominierenden Aspekt werden. Aus dieser Sicht ist dieses Verhältnis feststehend, weshalb Liu darauf bestand, dass die Mechanisierung zuerst kommen müsse. Mao hingegen glaubte, dass weitere Veränderungen in den Produktionsverhältnissen, also die Kollektivierung, zum Hauptaspekt des Widerspruchs geworden seien und dass deren Veränderung zur Entwicklung der Produktivkräfte beitragen würde. Mao sah die Energie und den Enthusiasmus der chinesischen Arbeiter als Quelle für die wirtschaftliche Entwicklung. Er erkannte, dass die Mobilisierung der Bauern und die Hebung ihres Bewusstseins auf eine höhere Ebene die Möglichkeit schufen, die Produktion in einem größeren Maßstab als einem einzelnen Bauernhof zu organisieren. Er sah, dass die Ideologie (im Bereich der Überbau) eine wichtige Rolle bei der Veränderung der Produktionsverhältnisse vom privaten Besitz und der Bewirtschaftung kleiner Grundstücke zur Kollektivierung spielen konnte.

Mao gewann die erste große Debatte innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas über die Frage, wie die Landwirtschaft Chinas entwickelt werden sollte. Die Kollektivierung begann kurz nach der Landreform, zunächst durch die Organisation von Selbsthilfeteams in der Produktion, dann durch einfache Genossenschaften und fortgeschrittene Genossenschaften und schließlich durch die Bildung von Kommunen im Jahr 1958.

Eines der größten Probleme in der chinesischen Landwirtschaft war und ist der Mangel an Ackerland. China verfügt über weniger als 9 Prozent der weltweiten Ackerfläche, muss jedoch Nahrungsmittel und andere landwirtschaftliche Produkte für 22 Prozent der Weltbevölkerung produzieren. Pro Kopf beträgt die landwirtschaftliche Nutzfläche etwas mehr als ein Mu oder 0,0827 Hektar (1 Mu = 0,067 Hektar) – etwa ein Drittel des weltweiten Durchschnitts. Nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs glaubten westliche Experten nicht, dass China jemals in der Lage sein würde, seine Bevölkerung zu ernähren. Angesichts der begrenzten Anbaufläche war die einzige Möglichkeit zur Steigerung der Produktion eine intensive Bewirtschaftung, um den Ertrag pro Anbaufläche zu erhöhen. Zwischen 1952 und 1978 gelang es China durch die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Erträge pro Einheit Anbaufläche zu verdoppeln.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft begann nach Abschluss der Landreform. Sie begann mit Selbsthilfeteams. Mehrere (20 oder mehr) Bauernhaushalte organisierten sich, um ihre Werkzeuge und Arbeitskräfte für die Produktion gemeinsam zu nutzen. Das erwies sich als nicht allzu schwierig, denn wenn die landwirtschaftlichen Geräte und Arbeitskräfte besser genutzt wurden, stieg der Ertrag und alle Familien profitierten davon.

Der nächste Schritt in der Kollektivierung der Landwirtschaft war die Gründung von einfachen Genossenschaften, in denen Bauernhaushalte ihr Land und ihre Produktionsmittel für die landwirtschaftliche Produktion zusammenlegten, aber weiterhin Eigentümer ihrer Werkzeuge blieben. Dieses Eigentumsrecht berechtigte die Bauernhaushalte, die diese Werkzeuge besaßen, zusätzlich zu den Anteilen, die jeder Haushalt entsprechend seinem Arbeitsaufwand erhielt, einen Anteil an der Produktion zu beanspruchen. In dieser Phase der Organisation wurde es komplizierter, da die Entscheidung der Bauern, beizutreten oder nicht, von ihren potenziellen Gewinnen abhing. Mao erkannte, dass die Beteiligung der Bauern auf freiwilliger Basis erfolgen musste, damit die Genossenschaften auf einer soliden Grundlage stehen konnten. Die Politik der Kommunistischen Partei Chinas bestand darin, die Bauern zum Beitritt zu den Genossenschaften zu ermutigen, jedoch ihre Entscheidung, allein weiterzumachen, zu respektieren. Die armen und unteren Mittelbau‐​Bauern (mehr als 65 bis 70 Prozent aller Bauern), die ein kleines Stück Land, aber nur sehr wenige landwirtschaftliche Geräte besaßen, hatten kaum eine Chance, sich selbst zu versorgen. Sie waren die überzeugtesten Anhänger der Genossenschaften. Die reichen und einige der oberen Mittelbau‐​Bauern, die größere Grundstücke und einige landwirtschaftliche Geräte besaßen, konnten Arbeiter anstellen und ihre Produktion steigern, weshalb sie sich gegen den Beitritt zu den Genossenschaften aussprachen. Die mittleren Bauern nahmen eine abwartende Haltung ein, um zu sehen, wie sich die Genossenschaften entwickelten. Für den Erfolg der Genossenschaftsbewegung war es entscheidend, dass die Genossenschaften ihre Produktion steigerten, um die mittleren Bauern für sich zu gewinnen. Schließlich konnten die mittleren Bauern überzeugt werden. Die reichen Bauern hatten keine andere Wahl, als sich den Genossenschaften anzuschließen, auch wenn sie dies nur widerwillig taten, da sie keine Arbeitskräfte mehr einstellen konnten.

Die Organisation der Bauern in Genossenschaften war keine leichte Aufgabe. Zum einen hatten die Bauern in China noch nie Erfahrungen mit gemeinschaftlicher Arbeit gemacht. Sie wussten nicht, wie das funktionieren sollte. Als sich die Genossenschaftsbewegung über das Land ausbreitete, gab es große Bedenken, ob die Genossenschaften die Produktion steigern und diese Steigerungen aufrechterhalten könnten. Es gab Fälle, wenn auch nur sehr wenige, in denen die Ernteerträge zurückgingen und die Organisationsbemühungen scheiterten. Der Erfolg der Genossenschaftsbewegung ist der Politik der Kommunistischen Partei Chinas zu verdanken, die sich auf die armen Bauern stützte und die Mittelbauern für sich gewann. Anerkennung gebührt auch der Mehrheit der Parteikader, die gerade den Krieg hinter sich hatten und so gut wie nichts über die Organisation von Genossenschaften wussten. Diese Kader stammten jedoch meist aus armen Bauernfamilien und verstanden daher sehr gut ihre Kämpfe und Hoffnungen auf ein besseres Leben. Sie vertrauten der Partei aufgrund ihrer Erfahrungen während des Revolutionskrieges und der von ihr durchgeführten Landreform. Sie arbeiteten unermüdlich und mit ganzem Herzen für die Partei und führten die Kollektivierung der Landwirtschaft erfolgreich durch.

Nach den elementaren Genossenschaften war der nächste Schritt die Bildung fortgeschrittener Genossenschaften. Wie William Hinton, bekannter Autor zahlreicher Bücher und Artikel über Chinas Landreform und Kollektivierung, in Shenfan hervorhob, wurde nach der Bildung der elementaren Genossenschaften und dem Beginn des Produktionsanstiegs deutlich, dass dieser Anstieg größtenteils auf intensivere Arbeit und nicht auf den Einsatz von landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen zurückzuführen war.15 Die Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder begann sich darüber zu ärgern, dass die Werkzeugbesitzer weiterhin einen größeren Teil der steigenden Einnahmen der Genossenschaft einstrichen. Die Frage, wie hoch die Dividenden an die Besitzer der Produktionsmittel sein sollten, wurde immer komplexer und spaltete die Genossenschaft. Die Lösung bestand darin, zu fortgeschrittenen Genossenschaften überzugehen, in denen die Genossenschaften die Produktionsmittel von ihren Besitzern gegen eine einmalige Zahlung zu ausgehandelten Preisen kauften. Auf diese Weise entwickelten sich die Genossenschaften von der elementaren zur fortgeschrittenen Stufe. Mit steigenden Einkommen konnten die fortgeschrittenen Genossenschaften von den angesammelten Mitteln mehr landwirtschaftliche Geräte kaufen. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Einkommen in den ländlichen Gebieten Chinas nur noch nach dem Arbeitsaufwand der einzelnen Arbeiter verteilt; landwirtschaftliche Geräte (Kapital) hatten keinen Anspruch mehr auf einen Anteil am Gesamteinkommen.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde 1958 mit der Bildung der Kommunen abgeschlossen. Die Kommunen hatten ein dreistufiges Eigentumssystem: Kommunen, Produktionsbrigaden und Produktionsgruppen. Im Jahr 1962 bestanden Produktionsgruppen aus 15 bis 30 Bauernfamilien mit durchschnittlich 24,9 Familien; Produktionsbrigaden, die etwa die Größe eines Dorfes hatten, umfassten durchschnittlich 7,9 Produktionsgruppen; Kommunen, die etwa die Größe eines Landkreises hatten, umfassten durchschnittlich 9,4 Produktionsbrigaden. Jede Kommune verwaltete die landwirtschaftliche (und später auch die industrielle) Produktion, den Handel, das Bildungswesen, die Sozialfürsorge und die Selbstverteidigung (mit einer eigenen Miliz). Die Kommunen verwalteten auch ihre eigenen Finanzen und waren für die Erhebung und Abführung von Steuern an den Staat, einen Investitionsfonds (Saatgut, neue landwirtschaftliche Geräte und/​oder Aufbau der Infrastruktur) und einen Sozialfonds (medizinische Versorgung, Bildung, Alten‐ und Bedürftigenpflege) für alle Gemeindemitglieder verantwortlich.16

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte nutzten die Kommunen ihre angesammelten Mittel, um groß angelegte Bewässerungs‐ und Entwässerungssysteme, Straßen und Krankenhäuser zu bauen und große landwirtschaftliche Geräte anzuschaffen. Ende der 1960er Jahre begann die Industrialisierung des ländlichen Raums, wobei auch die Kommunen Fabriken besaßen. Produktionsbrigaden bauten Fabriken, große landwirtschaftliche Maschinen, Mühlen, Tier‐ und Geflügelzuchtbetriebe, Nähereien und andere Einrichtungen und waren deren Eigentümer. Die Mitglieder der Brigaden nutzten diese Einrichtungen gemeinsam.

Produktionsgruppen besaßen Land und kleine landwirtschaftliche Geräte. Jede Gruppe fungierte als grundlegende Rechnungseinheit. Die Gruppenmitglieder wählten ihren Gruppenleiter, der für die Produktion und Verteilung zuständig war, aber weiterhin mit den anderen Gruppenmitgliedern die landwirtschaftlichen Arbeiten verrichtete. Nach Abführung der Steuern an den Staat (über die Kommune) leisteten sie Zahlungen an die Kommune für den Vermögens‐ und Sozialfonds. Zur Erntezeit verteilte die Gruppe die Getreidequote an ihre Mitglieder nach Alter und körperlicher Leistungsfähigkeit. Der Rest des Einkommens wurde dann an die Gruppenmitglieder entsprechend der Anzahl der Arbeitspunkte verteilt, die jedes Mitglied im Laufe des Jahres erworben hatte. Ein Arbeitstag brachte mindestens fünf und höchstens zehn Arbeitspunkte ein, je nach körperlicher Kraft und den für die Arbeit erforderlichen Fähigkeiten. Die Einstellung der Teammitglieder zur Arbeit, wie zum Beispiel die Bereitschaft, anderen zu helfen, wurde ebenfalls bei der Bewertung des Wertes eines Arbeitstages berücksichtigt. Die Bewertung und Einstufung der Arbeitspunkte, die jede Person für einen Arbeitstag verdient hatte, wurde von allen Teammitgliedern diskutiert, debattiert und demokratisch beschlossen.

Mit Ausnahme einiger sehr armer Kommunen verbesserte sich das Leben der meisten Menschen im ländlichen China dramatisch. Jedes Mitglied der Produktionsgruppe erhielt eine Getreidequote von seiner Produktionsgruppe, auch wenn es zu jung, zu alt oder zu krank war, um zu arbeiten. Zusätzlich zu den Nahrungsmitteln erhielten die Mitglieder eine kostengünstige Gesundheitsversorgung und eine kostengünstige Ausbildung, die aus dem Sozialfonds der Kommune bezahlt wurden, der auch die wichtigsten Ausgaben für bedürftige Familien übernahm.17 Darüber hinaus stellte der Staat Mittel für die Bildung (Lehrergehälter und Schulbau) in den ländlichen Gebieten sowie für die Ausbildung von Lehrern und Gesundheitspersonal, die auf dem Land arbeiteten, bereit.

Die Bildung von Kommunen veränderte die Produktionsverhältnisse im Agrarsektor grundlegend. Dieser grundlegende Wandel der Produktionsverhältnisse war der Hauptgrund für die rasante Entwicklung der Produktivkräfte in der chinesischen Landwirtschaft. Durch die Zusammenlegung ihres Landes und die Bündelung ihrer Werkzeuge konnten die chinesischen Bauern gemeinsam daran arbeiten, die Qualität des Bodens zu verbessern und eine landwirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen. Sie konnten mehr Geld für den Kauf besserer Werkzeuge ansammeln und arbeiteten extrem hart daran, die Fruchtbarkeit des Bodens zu verbessern. Als es noch keine chemischen Düngemittel gab, sammelten, konservierten, transportierten und verwendeten sie tierische und menschliche Exkremente, um den Boden zu verbessern. Wenn die Bauern nicht mit der Planung und Ernte beschäftigt waren, arbeiteten sie gemeinsam daran, den Boden für die Mechanisierung vorzubereiten, indem sie Grundstücke zusammengelegt, den Boden geebnet, kleine Bäche aufgefüllt und in hügeligen Gebieten Terrassen angelegt haben. Eine große Zahl von Bauern wurde organisiert, um an Projekten zur Erhaltung und Verbesserung der Böden zu arbeiten. Diese Projekte wurden Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre beschleunigt, als die landwirtschaftliche Produktion stabiler war und mehr Arbeitskräfte von der Landwirtschaft auf den Bau umgeleitet werden konnten. In Zeiten, in denen die landwirtschaftliche Arbeit ruhiger war, arbeiteten sie auch an Projekten zur Bodenverbesserung und zum Aufbau der Infrastruktur. Infolgedessen verlängerten die Bauern in China ihre aktive Arbeitszeit von 119 Tagen im Jahr in den 1950er Jahren auf 250 Tage im Jahr in den 1970er Jahren.18

Alexander Eckstein, Experte für die chinesische Wirtschaft, äußerte sich in seinem Artikel »The Chinese Development Model« (Das chinesische Entwicklungsmodell) wie folgt zum Bau von kapitalintensiven Projekten in landwirtschaftlichen Gebieten:

»Konkret bedeutet dies, die geografischen Gegebenheiten eines Gebiets so umzugestalten, dass die physischen Voraussetzungen für den Einsatz einer geeigneten Kombination anderer Produktionsfaktoren – Arbeitskräfte, Maschinen, Düngemittel und verbesserte Saatgutarten – geschaffen werden, um hohe und stabile Erträge zu erzielen. Dies erfordert oft die Begradigung oder Terrassierung des Geländes; manchmal müssen Berge eingeebnet und der Boden in Körben mehrere Kilometer weit transportiert werden, um einen riesigen Damm zu bauen oder bestimmte Gebiete mit Mutterboden zu bedecken. In vielen Gebieten bedeutet dies den Bau von unterirdischen Entwässerungskanälen, Stauseen, Kanälen, Bewässerungskanälen, Pumpstationen und Rohrbrunnen.«19

Neben all den Feldarbeiten und Kapitalinvestitionen trug die im Rahmen der Kommunen organisierte landwirtschaftliche Produktion in China auch zum Fortschritt der Agrartechnologie bei. Als sich die landwirtschaftliche Entwicklung Mitte der 1960er Jahre stabilisierte, begann die Industrialisierung des ländlichen Raums, angetrieben durch die Energie, die während des Großen Sprungs nach vorn freigesetzt worden war. Mitte der 1960er Jahre entstanden parallel zum Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion kleine Industriebetriebe, die von Produktionsbrigaden und Kommunen auf dem Land gegründet wurden. (Einzelheiten zu den Errungenschaften der chinesischen Landwirtschaft sind in Frage VI. unten aufgeführt.)

Verweise

1 Obwohl kapitalistische Programme offiziell erst 1978 begannen, stellte die Kommunistische Partei Chinas bereits 1976 jegliche sozialistische Entwicklung ein. Die zwei Jahre zwischen 1976 und 1978 können als Übergangsphase betrachtet werden.

2 In den Städten wurden Lebensmittel und Kleidung rationiert und zu niedrigen Preisen verkauft, um sicherzustellen, dass sich jeder Einwohner diese leisten konnte.

3 Mao Tsetung – Über die zehn großen Beziehungen, Ausgewählte Werke Bd. 5, S. 320 – 346, Verlag für fremdsprachige Literatur Peking 1978, S. 321.

4 Ebenda.

5 https://​www​.wired​.com/​1​9​9​8​/​0​3​/​i​n​s​i​d​e​-​i​n​t​e​l​s​-​n​e​w​-​c​eo/

6 Paul Krugman, The Return of Depression Economics, WW. Norton & Co., 1999.

7 Die Globale Kommission für Wirtschaft und Klima: https://​newclimateeconomy​.net/​D​o​w​n​l​o​a​d​e​d​_​P​d​f​/​G​l​o​b​a​l​_​r​e​p​o​r​t​/​2​0​1​6​/​T​h​e​-​S​u​s​t​a​i​n​a​b​l​e​-​I​n​f​r​a​s​t​r​u​c​t​u​r​e​-​I​m​p​e​r​a​t​i​v​e​/​G​l​o​b​a​l​-​R​e​p​o​r​t​-​a​n​d​-​S​e​c​t​i​o​n​s​/​N​C​E​_​2​0​1​6​R​e​p​o​r​t​.​pdf; UN‐​Umweltprogramm/​Emissions Gap Report 2018: https://​wedocs​.unep​.org/​b​i​t​s​t​r​e​a​m​/​h​a​n​d​l​e​/​2​0​.​5​0​0​.​1​1​8​2​2​/​2​6​8​9​5​/​E​G​R​2​0​1​8​_​F​u​l​l​R​e​p​o​r​t​_​E​N​.​pdf; Hintergrunddokument zum Global Sustainable Development Report 2019 einer Gruppe von »unabhängigen Wissenschaftlern«, die von den Vereinten Nationen ernannt wurden: https://​bios​.fi/​b​i​o​s​-​g​o​v​e​r​n​a​n​c​e​_​o​f​_​e​c​o​n​o​m​i​c​_​t​r​a​n​s​i​t​ion. pdf

8 Siehe Frage V.

9 Alle Kosten für die Hochschulausbildung wurden vom Staat übernommen, einschließlich Studiengebühren, Bücher sowie Unterkunft und Verpflegung. Darüber hinaus erhielten die Studenten eine monatliche Zuwendung für sonstige Ausgaben.

10 Siehe »Resolution of the Eighth National Congress of the Communist Party of China« in Eighth National Congress of the Communist Party of China, Vol. I: Documents, Foreign Languages Press, Beijing, 1956, S. 116. [Deutsche Ausgabe: Der VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, 2 Bde, Verlag für fremdsprachige Literatur Peking 1956.]

11 Mao Tsetung,»Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk«, in: Ausgewählte Werke, Band 5, Verlag für fremdsprachige Literatur Peking 1978, S.434 – 476.

12 Ebenda, S. 336.

13 Siehe Su Xing, »The Two Line Struggle, Socialist vs. Capitalist, after the Land Reform« in Jing Jin Yan Jiu [Research in Economics], 1965, no. 7, S. 24.

14 Ebenda.

15 William Hinton, Shenfan, The Continuing Revolution in a Chinese Village, Random House, 1983, S. 120 – 121.

16 Die Kommune übernahm die medizinischen Kosten ihrer Mitglieder, sodass die Auslagen für medizinische Behandlungen für die Mitglieder äußerst gering waren. Die Studenten bezahlten nur ihre Grundausstattung wie Hefte und Stifte.

17 Die fünf Garantien für bedürftige Familien (einschließlich Menschen, die ihre Arbeitsfähigkeit verloren hatten, oder ältere Menschen ohne Kinder) waren: Nahrung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Versorgung und Bestattung.

18 Nicholas R. Lardy, Economic Growth and Employment in China, Oxford University Press, 1979, S. 7 – 8.

19 Ecksteins Originalfußnote: »Diese großen Bauprojekte sind bereits seit einiger Zeit im Gange. Sie konnten während meines Besuchs in China im Dezember 1972 beobachtet werden. Sie erhielten neuen Auftrieb durch die Nationale Konferenz zum Lernen von Taichai, die im September und Oktober 1975 stattfand, und wurden ausführlich in ›American Rural Small‐​Scale Industry Delegation, Rural Small‐​Scale Industry‹ beschrieben, Kapitel 5, S. 2 – 5 und Kapitel 6, S. 7.«

Bild: Kinder beim Essen in einem Kindergarten einer Volkskommune Unbekannter Autor – Chinesisches Buch »10th Anniversary Photo Collection of the People’s Republic of China 1949 – 1959« (Fotoband zum 10. Jahrestag der Volksrepublik China), herausgegeben vom Redaktionskomitee zum 10. Jahrestag der Volksrepublik China

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert