
»Die Synapse ist nichts anderes als ein Mechanismus … und muss ihre genaue Entsprechung in der Rechenmaschine haben.«1
Norbert Wiener
»Die Synapse im lebenden Organismus entspricht dem Schaltgerät in der Maschine.«2
Norbert Wiener
»Das Denken aber als materiell bezeichnen heißt einen falschen Schritt tun zur Vermengung von Materialismus und Idealismus.«3
Lenin
»Wir werden sicher das Denken einmal experimentell auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn ›reduzieren‹; ist aber damit das Wesen des Denkens erschöpft?«4
Friedrich Engels
Einleitung
Die Kybernetik ist eine Reihe von Theorien und Praktiken, die hauptsächlich vom amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener in den späten 1940er Jahren entwickelt wurden. Er erfand seine Theorien während des Zweiten Weltkriegs, als er für das US‐Militär arbeitete. Die Kybernetik ist schwer genau zu definieren, aber ihre Befürworter sagen in der Regel, dass sie sich mit »Information« und der »Kontrolle« von Prozessen befasst und Analogien verwendet, die Lebewesen und die Gesellschaft mit Maschinen gleichsetzen. Ein Kybernetiker könnte beispielsweise die Funktionsweise eines Staates als eine Art Maschine oder die Funktionsweise des menschlichen Geistes als einen Rechner beschreiben. Die genaue Definition der Kybernetik und die genaue Bedeutung kybernetischer Ideen werden später in diesem Artikel erörtert.
1952 veröffentlichte Michail G. Jaroschewski in der sowjetischen Literaturzeitschrift einen Artikel mit dem Titel »Kybernetik – ›Wissenschaft‹ der Obskurantisten«. Es folgten weitere Artikel. Die Kybernetik wurde in der UdSSR heftig kritisiert und schließlich im Kurzen Philosophischen Wörterbuch von 1954 als reaktionäre Pseudowissenschaft bezeichnet. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Kybernetik jedoch in der revisionistischen UdSSR vollständig akzeptiert und von der Regierung stark gefördert. Das ging so weit, dass sie in das Parteiprogramm der Chruschtschow‐Anhänger aufgenommen wurde und Chruschtschow sie als unerlässlich für den Aufbau des Kommunismus lobte. Die Zeit der frühen 1950er Jahre wird daher heute als »Anti‐Kybernetik‐Kampagne« bezeichnet.
Dieser Artikel untersucht die Bedeutung dieser »Kampagne«, geht den Gründen für die spätere Akzeptanz der Kybernetik nach und beleuchtet die angeblichen Vor‐ und Nachteile der Kybernetik.
1. Warum ist Kybernetik eine Pseudowissenschaft?
Lassen Sie uns zunächst die sowjetische Kritik an der Kybernetik besprechen. Es lohnt sich, den vollständigen Eintrag aus dem Kurzen Philosophischen Wörterbuch von 1954 zu zitieren. Danach werde ich versuchen, seine Bedeutung zu entschlüsseln:
»Die Kybernetik (vom griechischen Wort für Steuermann, Leiter) ist eine reaktionäre Pseudowissenschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entstand und sich in anderen kapitalistischen Ländern weit verbreitete. Sie ist eine Form des modernen Mechanismus. Die Anhänger der Kybernetik definieren sie als eine universelle Wissenschaft der Zusammenhänge und Kommunikation in der Technik, bei Tieren und im gesellschaftlichen Leben sowie der ›allgemeinen Organisation‹ und Steuerung aller Prozesse in Natur und Gesellschaft. Dabei identifiziert die Kybernetik mechanische, biologische und soziale Korrelationen und Gesetze miteinander. Wie jede mechanistische Theorie leugnet die Kybernetik die qualitative Spezifität von Gesetzen in den verschiedenen Formen des Seins und der Entwicklung der Materie und reduziert sie auf mechanische Gesetze. Im Gegensatz zum alten Mechanismus des 17. und 18. Jahrhunderts betrachtet die Kybernetik die psycho‐physiologischen und sozialen Phänomene nicht mehr als analog zu den einfachsten Mechanismen, sondern zu elektronischen Maschinen und Apparaten, wobei sie die Arbeit des Gehirns mit der Arbeit eines automatischen Rechners und das Leben der Gesellschaft mit einem System der elektrischen und informativen Kommunikation gleichsetzt. Die Kybernetik richtet sich in ihrem Kern gegen die materialistische Dialektik, gegen die moderne wissenschaftliche Physiologie, die von Ivan Pawlow begründet wurde, und gegen die marxistische, wissenschaftliche Auffassung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens. Diese mechanistische, metaphysische Pseudowissenschaft ist am besten mit dem Idealismus in der Philosophie, Psychologie und Soziologie kompatibel.
Die Kybernetik macht eine grundlegende Eigenschaft der bürgerlichen Weltanschauung besonders deutlich, nämlich ihre Unmenschlichkeit, ihr Bestreben, den Arbeiter zu einem Zubehörteil einer Maschine, zu einem Produktionsinstrument und zu einer Kriegswaffe zu machen. Die imperialistische Utopie, den lebendigen, denkenden Menschen, der für seine eigenen Interessen kämpft, durch eine Maschine in der Produktion wie im Krieg zu ersetzen, ist charakteristisch für die Kybernetik. Die Anstifter eines neuen Weltkriegs nutzen die Kybernetik für ihre schmutzigen, praktischen Angelegenheiten. Unter dem Deckmantel der Kybernetik‐Propaganda in den Ländern des Imperialismus werden Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen angezogen, um neue Methoden zur Massenvernichtung von Menschen zu entwickeln – elektronische, telemechanische, automatische Waffen, deren Entwurf und Produktion sich zu einem großen Zweig der Militärindustrie der kapitalistischen Länder entwickelt haben.«5
1.1 Kybernetik ist keine Wissenschaft, sondern eine Pseudowissenschaft
Zuallererst bestritten die Sowjetmarxisten, dass die Kybernetik eine Wissenschaft sei. Sie besitzt weder einen präzisen Gegenstand noch eine genaue Definition. Alle angeblichen Fortschritte der Kybernetik wurden in Wirklichkeit von anderen Disziplinen wie der Elektrotechnik, der Informatik, der Mathematik oder der Physiologie gemacht. Die Kybernetik überschneidet sich auf verworrene und willkürliche Weise mit anderen Wissenschaften. Während eine echte »Hybridwissenschaft« wie die Biochemie die chemischen Prozesse in der Biologie untersucht, tut die Kybernetik nichts vergleichbares. Sie ist eher eine Weltanschauung oder eine philosophische Theorie als eine Wissenschaft.
So schreibt Slava Gerovitch in seinem Buch über Kybernetik:
»Kybernetik ist ein ungewöhnliches historisches Phänomen. Sie ist keine traditionelle wissenschaftliche Disziplin, keine spezifische Ingenieurstechnik und keine philosophische Doktrin, obwohl sie viele Elemente aus Wissenschaft, Technik und Philosophie vereint. Wie in Norbert Wieners klassischem Buch ›Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine‹ von 1948 dargelegt, umfasst die Kybernetik eine Reihe von Analogien zwischen Menschen und selbstregulierenden Maschinen: menschliches Verhalten wird mit dem Betrieb eines Servomechanismus verglichen; menschliche Kommunikation wird mit der Übertragung von Signalen über Telefonleitungen verglichen; das menschliche Gehirn wird mit Computerhardware und der menschliche Geist mit Software verglichen; Ordnung wird mit Leben, Gewissheit und Information gleichgesetzt; Unordnung wird mit Tod, Unsicherheit und Entropie in Verbindung gebracht. Kybernetiker betrachten Kontrolle als eine Form der Kommunikation und Kommunikation als eine Form der Kontrolle: Beide zeichnen sich durch zielgerichtetes Handeln aus, das auf Informationsaustausch über Rückkopplungsschleifen basiert. Die Kybernetik vereint verschiedene mathematische Modelle, Erklärungsmodelle und ansprechende Metaphern aus verschiedenen Disziplinen – Physiologie (Homöostase und Reflex), Psychologie (Verhalten und Ziel), Regelungstechnik (Steuerung und Rückkopplung), Thermodynamik (Entropie und Ordnung) und Nachrichtentechnik (Information, Signal und Rauschen) – und verallgemeinert sie so, dass sie gleichermaßen auf lebende Organismen, selbstregulierende Maschinen und die menschliche Gesellschaft anwendbar sind.«6
1.2 Die Kybernetik ignoriert qualitative Unterschiede. Sie ist eine vulgarisierende Theorie
Dies führt uns zum zweiten Problem der Kybernetik. Sie versucht, eine universelle Wissenschaft zu sein, die gleichermaßen auf lebende, nicht lebende, materielle und nicht materielle, bewusste und nicht bewusste, soziale und nicht soziale Bereiche anwendbar ist. All diese Bereiche sind qualitativ so unterschiedlich, dass sie nicht gleichgesetzt werden können. Damit dasselbe Gesetz wirklich auf all diese Bereiche angewendet werden kann, muss das Gesetz extrem weit gefasst sein, ähnlich wie eine philosophische Verallgemeinerung wie die Gesetze der Dialektik. Zweitens würden wir erwarten, dass das Gesetz auf qualitativ unterschiedlichen Organisationsebenen etwas anders funktioniert. Die Kybernetik beachtet jedoch keine dieser Kritikpunkte, sondern legt stattdessen auf allen Ebenen der Existenz genau dieselben Gesetze fest.
»Zusammenfassend lässt sich sagen: Die vielen Automaten der heutigen Zeit … lassen sich sehr gut in physiologischen Begriffen beschreiben. Es ist kaum ein Wunder, dass sie mit den Mechanismen der Physiologie unter einer Theorie zusammengefasst werden können (Wiener, Cybernetics, S. 43).«
»Es gibt keinen Grund, warum die grundlegende Funktionsweise des lebenden Organismus nicht dieselbe sein sollte wie die des Automaten (Wiener, Cybernetics, S. 44).«
W. Ross Ashby schreibt in seinem Buch Introduction to Cybernetics, dass »der Arbeiter in einer der biologischen Wissenschaften«, »der Ökologe«, »der Ökonom«, »der Soziologe« und »der Psychotherapeut« alle kybernetische Prinzipien anwenden könnten. Jemand könnte argumentieren, dass die gleichen »einfachen Mechanismen« der Kybernetik für diese verschiedenen Bereiche nicht geeignet sind. Ashby versichert jedoch, dass »dies jedoch nicht der Fall ist«.7
In Wirklichkeit sind kybernetische »Gesetze« überhaupt keine Gesetze, daher wäre es besser, sie als Prinzipien zu bezeichnen. Diese Prinzipien beinhalten Dinge wie »Schleifen« und »Rückkopplung«. Laut Kybernetik überträgt und reagiert alles auf »Informationen« in Schleifen: Eine Art Reiz wird empfangen und löst Reaktionen aus. Dieser Prozess läuft als Schleife weiter. Kybernetiker haben oft etwas wie das Gehen als Beispiel verwendet. Während der Prozess abläuft, erhält der Körper neue Reize, die auf sich ändernden Umständen basieren, und korrigiert seine Handlungen auf der Grundlage dieser neuen Informationen. Dies wird als Rückkopplung (feedback) bezeichnet. Ein Prozess oder eine Informationen erhaltende »Schleife« (loop) korrigiert sich selbst anhand von »Rückkopplungsmechanismen«. Sie wird als »kontrolliert« oder sogar als »selbstgesteuert« bezeichnet.
Diese Konzepte stammen aus tatsächlichen Bereichen der Wissenschaft oder Technik, wie beispielsweise der Physiologie, der Regelungstechnik und so fort. Sie sind in ihren eigenen Bereichen oft gültig. Die Kybernetik wendet sie jedoch willkürlich und ungenau auf Bereiche an, in die sie nicht gehören. Die zur Beschreibung der Bewegung mechanischer Maschinen entwickelten Prinzipien sind zu grob, um Lebewesen zu beschreiben. Ebenso sind die zur Beschreibung der Bewegung unbewusster Lebewesen entwickelten Prinzipien zu grob, um Bewusstsein oder Gesellschaft zu beschreiben. Dennoch haben Kybernetiker die Medien mit einem Sensor gleichgesetzt, der von den Menschen Reize empfängt, während sie den Präsidenten mit einem Logikschaltkreis gleichsetzen, der auf diese Reize reagiert.
»Kybernetiker kombinierten Konzepte aus der Physiologie (Homöostase und Reflex), Psychologie (Verhalten und Ziel), Regelungstechnik (Steuerung und Rückkopplung), Thermodynamik (Entropie und Ordnung) und Nachrichtentechnik (Information, Signal und Rauschen) und verallgemeinerten sie so, dass sie gleichermaßen auf lebende Organismen, selbstregulierende Maschinen (wie Servomechanismen und Computer) und die menschliche Gesellschaft anwendbar waren.«8
Wiener verstand den Unterschied zwischen Leben und Tod, bewusst und unbewusst, nicht als qualitativ unterschiedliche Organisationsebenen der Materie, sondern als rein quantitative Unterschiede, die sich in unterschiedlichen Entropiewerten äußern – ein Begriff, den er aus der Physik entlehnte und auf alle anderen Bereiche übertrug.
Wiener »schlug vor, dass es am besten sei, alle Fragen aufwerfenden Beiworte wie ›Leben‹ und ›Seele‹ zu vermeiden und nur von der Abnahme der Entropie bei Menschen und Maschinen zu sprechen.«9
Ein Beleg dafür, wie unwissenschaftlich, ungenau und oberflächlich Wiener mit seinen Konzepten umging und wie stark diese Methode vulgarisierend war, zeigt sich darin, dass Wiener sogar Organisation mit Schönheit und Entropie mit Hässlichkeit gleichsetzte. Daher wäre es vermutlich möglich zu zeigen, dass ein Kunstwerk schöner ist, wenn es organisierter und weniger entropisch ist. (Auf welcher Grundlage betrachten wir etwas als organisierter? Das hat Wiener nicht gesagt.) Daher würden Schönheit und ästhetischer Wert selbst auf bloße Zahlen und Mengen reduziert:
»Für Wiener wurde der Begriff der Entropie … zu einem Maß für Auswahl, Zufall und Organisation, mit all den reichen kulturellen Konnotationen dieser Konzepte, einschließlich Schönheit und Melodie.«10
Die Popularisierung der Kybernetik in der westlichen Wissenschaft beruhte auf einem Zirkelschluss, den Gerovitch in seinem Buch beschreibt.
»Der Historiker Geoffrey Bowker hat diesen zirkulären Prozess als ein Hauptmerkmal der Sprache der Kybernetik beschrieben. Er diente einer wichtigen sozialen Funktion, indem er den ›Legitimitätsaustausch‹ zwischen Wissenschaftlern unterstützte: ›Ein isolierter Wissenschaftler, der eine abwegige Behauptung aufstellte, konnte rhetorische Legitimität erlangen, indem er auf die Unterstützung eines anderen Fachgebiets verwies, das wiederum auf das Fachgebiet des ersten Wissenschaftlers verwies, um seine Behauptungen zu untermauern. Die Sprache der Kybernetik bot einen Ort, an dem dieser Austausch stattfinden konnte.‹ In Bowkers Worten: Der Autor der ›Conditional Probability Machine‹, A. M. Uttley, ›nutzte die Mathematik, um seine Physiologie zu unterstützen; und die Physiologie, um seine Mathematik zu unterstützen. Dabei verwendete er kybernetische Terminologie, um zwischen den formalen Eigenschaften von Klassifizierungsmaschinen und der Natur des Gehirns zu wechseln.‹ … [Ein ähnlicher Trick wurde von Wiener angewandt] Auf den ersten Seiten seiner Kybernetik schlug Wiener den Computer als Modell für das Nervensystem vor … Ein paar Seiten weiter drehte er diese Analogie um und beschrieb den Computer selbst in neurophysiologischen Begriffen … In einem anderen Beispiel wurde die physiologische Homöostase als rückkopplungsgesteuerter Servomechanismus konzipiert, während Servomechanismen selbst in anthropomorphen Begriffen beschrieben wurden. Die Historikerin Lily Kay argumentierte, dass ›die Darstellung der Homöostase als negatives Feedback und die anschließende Umdeutung solcher Servomechanismen als organismische Homöostase auf eine Zirkularität hinauslief.‹«11
Kybernetiker haben diese Methode der falschen Gleichsetzungen dann auf weitreichende philosophische Fragen ausgedehnt und kamen durch semantische Tricks und logische Fehlschlüsse zu den gewünschten Schlussfolgerungen:
»Zuerst stellten die Kybernetiker grandiose Fragen: Was ist Leben? Wie erkennen wir die Welt? Was bestimmt das menschliche Verhalten? Als Nächstes übersetzten sie diese Fragen in die Cybersprache und ersetzten sie dann durch viel engere Versionen, die innerhalb eines bestimmten Fachgebiets beantwortet werden konnten: Mathematik, Logik, Regelungstheorie oder Nachrichtentechnik. Dann sagten sie, dass diese grandiosen Fragen nun »präzise definiert« seien. Nachdem sie die Antwort auf eine »präzise definierte« Frage erhalten hatten, behaupteten sie, dass sie universell angewendet werden könne, weit über das ursprüngliche Fachgebiet hinaus. So wurde Cyberspeak zu einer universellen Sprache für die Beantwortung hochtrabender Fragen.«12
1.3 Kybernetik ist eine Form des Mechanismus
Das Problem, das von den Sowjets oft betont wurde, ist, dass die Kybernetik eine moderne Form des Mechanismus oder des mechanischen Materialismus ist. Wie das Wörterbuch feststellt, setzte der mechanische Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts Menschen und Natur mit einfachen mechanischen Maschinen gleich. Die Kybernetik setzt alles mit Computern oder elektrischen Rechenmaschinen gleich. Diese Tendenz ist heute weit verbreitet. Viele Menschen haben sich so sehr daran gewöhnt, dass sie sie kaum noch in Frage stellen.
Es geht jedoch über die bloße Gleichsetzung von Lebewesen und Gesellschaften mit toten Maschinen hinaus. Die Kybernetik sieht alles auch mechanisch, metaphysisch, sprich antidialektisch. Sie reduziert alles auf einfache »Schleifen« »Rückkopplungsmechanismen«, »Algorithmen« und »Steuerungen«. Diese Schleifen, Schaltkreise und Steuerungen sind alle statisch und starr, während die Realität fließend, dynamisch, kompliziert und widersprüchlich ist. Die einzige Art von Entwicklung und Veränderung, die die Kybernetik versteht, ist die Rückkopplung. Es ist offensichtlich, dass diese Weltanschauung von einem bürgerlichen Mathematiker und nicht von einem dialektischen Philosophen entwickelt wurde.
Es stimmt, dass einige Revisionisten versucht haben, Feedback »dialektisch« zu erklären. Die Dialektik erklärt, dass Dinge eine Eigenbewegung haben, das heißt sie entwickeln sich aufgrund ihrer inneren Widersprüche, die sich zu etwas hin entwickeln. Einige Revisionisten haben behauptet, dass Feedback als dialektischer Widerspruch verstanden werden kann. Dialektische Widersprüche sind jedoch kein einfacher Prozess von Aktion, Reaktion und einer weiteren Aktion. Das ist eine Vereinfachung, die sie als zeitlich aufeinanderfolgende Prozesse charakterisiert. In Wirklichkeit bedingen sich die Widersprüche gegenseitig in jedem einzelnen Augenblick. Manchmal kann eine Reaktion einfach durch eine Handlung verursacht werden, aber ihre zeitliche Kausalität kann auch umgekehrt sein, oder beide können gleichzeitig stattfinden.
Nehmen wir ein Beispiel, um dies verständlicher zu machen. Eine Ware ist eine Einheit aus zwei widersprüchlichen Dingen, dem Gebrauchswert und dem Wert. Die Widersprüche bestehen ineinander und können nicht in irgendeine Art von Aktion im Moment 1 und Reaktion im Moment 2 getrennt werden.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Im Kapitalismus gibt es Kategorien wie die Lohnarbeit. Dies ist ein Phänomen, das durch den Kapitalismus geschaffen und täglich durch den Kapitalismus aufrechterhalten wird. Die Arbeit ist jedoch viel älter als der Kapitalismus. Sie entstand zeitlich viel früher. Als solches konnte sie nicht durch den Kapitalismus geschaffen werden. Tatsache ist, dass die Arbeit die Grundlage des Kapitalismus war, so wie der Kapitalismus heute die Grundlage für die Lohnarbeit ist. Marx beginnt seine Analyse des Kapitalismus mit der Analyse der Ware, dem Produkt des Kapitalismus. Doch auch dieses Produkt ist viel älter als der Kapitalismus. Der Kapitalismus ist ebenso sehr das Produkt von Waren wie umgekehrt. Ein solches Paradoxon ist als Rückkopplungsmechanismus schwer zu erklären.
In seinem Kommentar zu Zenons Paradoxien definierte Engels die Bewegung selbst als Paradox und Widerspruch. In einem Moment befindet sich ein Körper an Punkt A und im nächsten an Punkt B. In jedem einzelnen Moment ist der Körper an einem Punkt stationär, der eindeutig abgebildet werden kann, und doch bewegt er sich und ist nicht stationär. Wie lässt sich dies mit Hilfe der Kybernetik darstellen?
1.4 Kybernetik ist lediglich eine Vulgarisierung der echten Wissenschaft
Die Kybernetik versucht ähnliche Phänomene zu erklären wie die Automatisierungswissenschaft, die von Pawlow entwickelte wissenschaftliche Physiologie, die vom dialektischen Materialismus entdeckten Natur‑, Gesellschafts‐ und Denkgesetze und so weiter. Allerdings gelingt ihr dies viel schlechter als diesen anderen Disziplinen. Im Umgang mit der Physiologie plagiiert die Kybernetik tatsächlich Pawlow, verzerrt aber alles und vereinfacht es um den Faktor zehn. Das ist verständlich, da Norbert Wiener Pawlow gelesen hatte und sich seiner Arbeit bewusst war, aber keine ausreichenden Kenntnisse der Physiologie oder der Theorien von Pawlow hatte. Wiener war Mathematiker, und wenn man nur einen Hammer hat, sehen alle Probleme wie Nägel aus.
1.5 Kybernetik stützt den Idealismus
Kybernetik ist mit idealistischen Vorstellungen in der Soziologie, Psychologie und anderen Wissenschaften voll kompatibel. Wiener bestritt die materielle Grundlage kybernetischer Prozesse und sagte: »Information ist Information, keine Materie oder Energie.«13
1.6 Kybernetik zeigt bürgerliche Unmenschlichkeit
Es versteht sich von selbst, dass die Kapitalisten am liebsten jeden Arbeiter durch eine Maschine ersetzen würden. Maschinen müssen nicht bezahlt werden und vor allem streiken oder rebellieren sie nicht. Die Imperialisten haben auch automatisierte oder halbautomatisierte Maschinen wie Drohnen für ihre Zwecke nutzbar gemacht. Der Traum der Imperialisten sind automatisierte Waffensysteme, die ohne zu zögern jede Gräueltat begehen.
Man könnte darauf hinweisen, dass Wiener pazifistische Phrasen verwendete und schließlich die Kriegsmaschinerie der USA nicht mehr unterstützen wollte. Unser Interesse gilt jedoch der objektiven Bedeutung seiner Theorie, nicht seiner subjektiven Meinung. Wiener begann mit der Entwicklung seiner Kybernetik‐Theorie nach seiner Karriere als Waffenforscher für das Militär. Seinerzeit hatte er versucht, Flugabwehrgeschütze mit Zielhilfe‐Funktionen zu entwickeln. Wie er später oft behauptete, war diese Erfahrung für die Erfindung der Kybernetik von entscheidender Bedeutung. Es stellte sich jedoch heraus, dass die von Wiener entwickelten Geschütze nicht funktionierten, er wurde entlassen und das Projekt eingestellt:
»Sein Vorhersagegerät für Flugabwehr funktionierte nicht sehr gut, sodass sein Kriegsprojekt im Januar 1943 eingestellt wurde.«14
»[David] Mindell argumentiert, dass ›die Kybernetik … die militärische Kontrolle in eine zivile Form umwandelt‹ … einige sehen darin eine Ausweitung militärischer Denk‐ und Verhaltensmuster auf den zivilen Bereich.«15
Verteidiger der Kybernetik haben manchmal die Frage gestellt: »Wie kann die Kybernetik eine gefährliche Waffe des Imperialismus sein, wenn sie nur eine nutzlose Pseudowissenschaft ist?« Die letzten Sätze im obigen Wörterbuch machen dies vollkommen deutlich. Die Kybernetik selbst ist eine Pseudowissenschaft, wird aber in der Propaganda eingesetzt, um Wissenschaftler für das Gebiet der Automatisierung im Dienste des Kapitalismus und Imperialismus zu gewinnen. Der Medienrummel um die Kybernetik hat sich als falsch herausgestellt. Sie hat keine übermenschlichen Roboter geschaffen, die den Menschen leicht ersetzen könnten. Nichts dergleichen wurde geschaffen. Sie diente den Imperialisten jedoch in einer ideologischen Kampagne gegen den Marxismus, als eine Form der Sabotage innerhalb der UdSSR und als Propaganda für automatische Waffensysteme. Sie diente auch als reaktionäre utopische Propaganda, die behauptete, dass alle gesellschaftlichen Übel des Kapitalismus mit der Einführung der Kybernetik gelöst werden könnten – und verlängerte so die Existenz des Kapitalismus und verteidigte ihn gegen Kritik.
2. Propaganda zur Förderung der Kybernetik in der kapitalistischen Welt
Als Wieners Buch Cybernetics erschien, wurde es von den imperialistischen Medienmonopolen sofort massiv beworben. Die Medienunternehmen lobten das Buch in höchsten Tönen und bezeichneten es als einen absolut unverzichtbaren Klassiker unseres Zeitalters:
»Die Saturday Review of Literature stellte fest, dass es für jeden, der sich ernsthaft für unsere Zivilisation interessiert, ›unmöglich sei, dieses Buch zu ignorieren‹. ›Es ist‹, so das Magazin, ›ein Muss für alle, die in irgendeinem Bereich der Wissenschaft tätig sind‹.«16
Nach der Lektüre des Buches kann ich sagen, dass es sich größtenteils um sehr anspruchslose »Pop‐Wissenschaft« ohne nennenswerten wissenschaftlichen Wert handelt. Das Buch besteht aus Geschichten über Wieners Karriere, philosophischen Abschweifungen und Analogien darüber, dass es keinen Unterschied zwischen Gesellschaften, Menschen, Tieren und Maschinen gibt.
Einige Kapitel bestehen aus mathematischen Formeln, zu denen ich nichts sagen kann. Diese Kapitel kommen zu genau denselben Schlussfolgerungen und Behauptungen wie der Rest des Buches. Auf jeden Fall scheinen diese Kapitel dazu gedacht zu sein, Nicht‐Mathematiker zu beeindrucken und das Buch »wissenschaftlicher« und klüger erscheinen zu lassen, als es tatsächlich ist. Aber warum sollten wir einen Mathematiker bitten, philosophische, soziale oder sogar biologische Fragen zu beantworten? Dennoch scheinen diese Kapitel die Menschen wirklich beeindruckt zu haben und sie zu der Annahme verleitet zu haben, dass dieser »kluge Mathematiker« alle Fragen des Lebens beantworten könnte. Die Kybernetik versprach einfache Lösungen für große Probleme:
»Ein großer Teil des Buches bestand aus komplexen mathematischen Kapiteln, die ein breites Publikum unmöglich verstehen konnte. Diese Kapitel, obwohl »weitgehend irrelevant«, erfüllten eine wichtige rhetorische Funktion: Durch sie wurden Laienleser stark beeindruckt. Dadurch wurden die kühnen Behauptungen legitimiert, die im Rest des Buches in einfacher Sprache formuliert wurden. Die Kybernetik versprach Lösungen für eine Vielzahl sozialer, biologischer und technologischer Probleme … Komplexe soziale und biologische Phänomene sahen einfacher aus … wenn sie in kybernetischen Begriffen beschrieben wurden.«17
Die massive Propagandakampagne dauerte an, bis die Kybernetik im Westen allgemein akzeptiert wurde:
»Die Boulevardpresse bejubelte digitale Computer als ›elektronische Gehirne‹. Scientific American veröffentlichte einen leicht verständlichen Bericht über Kybernetik unter dem provokanten Titel ›Der Mensch als Maschine‹. Der Computerspezialist Frank H. George forderte die Leser der englischen Zeitschrift Philosophy heraus: ›Sie können mir nichts darüber erzählen, was Ihre Frau kann, was eine (im Prinzip) Maschine nicht kann. [sic!!]‹ Politikwissenschaftler sprachen von den ›Nerven der Regierung‹. … Unternehmensberater begannen ›Management‐Kybernetik‹ zu verkaufen.«18
Die Auswirkungen dieser Kampagne sind bis heute spürbar. Kybernetische Terminologie ist in der Politik, Soziologie und anderen Bereichen nach wie vor weit verbreitet. Im Bereich der Genetik ist eine vereinfachte kybernetische Terminologie zur Norm geworden. Gene oder DNA werden als Träger von Informationen, Codes oder als Blaupausen beschrieben:
»Molekularbiologen konzipierten das Gen als ›kleinste Nachrichteneinheit‹. Die biologische Spezifität wurde »durch die schriftspezifischen Tropen der Information – Nachricht, Alphabet, Anweisungen, Code, Text, Lesen, Programm – neu dargestellt. Die Erzählungen von Vererbung und Leben [wurden] als programmierte Kommunikationssysteme neu geschrieben.«19
Kommen wir nun zur Geschichte der Kybernetik in der UdSSR.
3. Wurden Kybernetikbücher in der Stalin‐Ära verboten?
Ein Kybernetiker namens Kopelew behauptet, dass dies der Fall war, aber der Historiker Waleri Schilow sagt: »Kopelews Geschichte aus dem Jahr 1949 ist kaum möglich.«20
Die Informationen dazu sind in der Tat sehr widersprüchlich. Vielleicht wurden einige Bücher verboten, aber die Quellen sind sich darüber nicht einig. Tatsache ist, dass Bücher über Kybernetik nur in den fremdsprachigen Bibliotheken für diejenigen verfügbar waren, die Fremdsprachen beherrschten. Die breite Öffentlichkeit oder selbst die meisten Wissenschaftler interessierten sich nicht dafür.
G. N. Powarow sagte, dass »man dieses Buch in der Bibliothek für ausländische Literatur kostenlos bekommen konnte. Dort habe ich es gelesen. Das war etwa 1952 – 1953. Dieses Buch war also nicht von der Zensur verboten.«21
A.W. Schileyko behauptete, er habe Anfang der 1950er Jahre auf einem philosophischen Seminar Zugang zu dem Buch [Cybernetics von Wiener] gehabt.22
W. A. Torghaschew erklärt: »Wieners Buch ›Kybernetik‹, das 1948 veröffentlicht wurde, wurde 1949 in die UdSSR übersetzt (tatsächlich erschien die zweite Auflage erst 1958 im freien Verkauf. Das Buch war jedoch schon früher in Bibliotheken verfügbar).«23
Der berüchtigte Revisionist und Überläufer Kolman scheint die Quelle vieler dieser Mythen zu sein:
»A. Kolman schrieb in dem Artikel, der nach seinem [Überlaufen zum] Westen veröffentlicht wurde, dass er Wieners Buch dank der Hilfe eines ungenannten Sekretärs (einer sehr wichtigen Person!) des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gelesen habe. In seinen fünf Jahre später veröffentlichten Memoiren erzählte er diese Geschichte jedoch auf andere Weise – ausführlicher und heldenhafter.«24
Natürlich wäre es prinzipiell nicht falsch, die Veröffentlichung von Kybernetik‐Büchern zu verweigern oder sie aus öffentlichen Bibliotheken zu entfernen. Der einzige Grund, warum Kybernetik‐Bücher bis zu einem gewissen Grad verfügbar sein sollten und waren, ist, um sie der Kritik zugänglich zu machen.
4. Die Kampagne gegen Kybernetik in der UdSSR
Gerovitch behauptet in seinem Buch, dass die sowjetischen Philosophen keine Kenntnisse über Kybernetik hatten und viele nicht die Bücher von Wiener, sondern nur seine Interviews gelesen hatten. Er behauptet, die Kampagne habe auf Unwissenheit und Strohmännern beruht. Allerdings scheint seine Quelle für diese Aussagen Chruschtschows Geheimrede und andere ähnliche Aussagen auf dem 20. Parteitag der KPdSU zu sein. Darin wurden frühere politische Maßnahmen verleumdet und angegriffen und die Kybernetik rehabilitiert. Gerovitchs Behauptung ist also auf Anhieb nicht sehr glaubwürdig. Zweitens ist klar, dass die Autoren des Kurzen Philosophischen Wörterbuchs sachkundig waren. Ihre Kritik unterscheidet sich im Grunde nicht von der Kritik der früheren angeblich »ignoranten« sowjetischen Kritiker, geschweige denn, dass sie im Widerspruch zu ihr stünde.
Es stimmt, dass sich die Kritik an der Kybernetik weiterentwickelt hat, aber das ist nur natürlich. In intellektuellen Diskussionen entwickeln sich Ansichten immer weiter. Anfangs verbanden einige Philosophen die Kybernetik mit dem semantischen Idealismus, doch diese Verbindung wurde später aufgegeben. Verschiedene Autoren wiesen auf unterschiedliche Aspekte der Kybernetik hin, aber der Hauptpunkt war immer derselbe: Es handelt sich um eine Form des modernen Mechanismus und Idealismus.
Aber nehmen wir einmal an, dass einige Sowjetkritiker das Buch Cybernetics Or Control and Communication in the Animal and the Machine von Wiener wirklich nicht gelesen haben. Tatsächlich scheint es sicher, dass nur einige es gelesen haben. Ist es notwendig, das Buch von Wiener zu lesen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Kybernetik idealistisch und mechanistisch ist? Nein, das ist überhaupt nicht notwendig. Die Grundannahmen der Kybernetik sind grundsätzlich idealistisch und mechanistisch. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, ist es völlig unnötig, sich in die komplizierten Details zu vertiefen.
Ich habe jedoch Wieners Cybernetics, sein späteres Buch The Human Use of Human Beings sowie andere einflussreiche kybernetische Texte wie Design for a brain von W. R. Ashby und sein Lehrbuch Introduction to Cybernetics gelesen. Diese Bücher sind nicht lesenswert. Sie sind philosophisches Geschwafel von minderer Qualität und vulgäre Pop‐Wissenschaft, mit etwas Mathematik dazwischen. Diese Bücher haben meine Wahrnehmung der Kybernetik auch nicht im Geringsten verändert, sondern nur bestätigt, was bereits offensichtlich war.
Gerovitch behauptet, dass sowjetische Kritiker die Aussagen von Wiener aus dem Zusammenhang gerissen hätten. Allerdings werden genau diese umstrittenen Behauptungen, die den Mechanismus (Gleichsetzung von Menschen und Gesellschaften mit Maschinen, Tieren, Viren usw.) und den Idealismus (Behauptung, dass »Informationen« und »Signale« nicht materiell sind) aufzeigen, in Büchern von Wiener und auch von Ashby mehrfach wiederholt. Somit handelt es sich hier nicht um das Herausreißen von Zitaten aus dem Zusammenhang oder um bloße Flüchtigkeitsfehler seitens Wieners.
5. Die Größe der Kampagne
Marxistische Philosophen waren sicherlich gegen die Kybernetik. Dies wird durch den Eintrag im Kurzen Philosophischen Lexikon deutlich. Allerdings wurde sie nicht als sehr wichtiges Problem angesehen. So war die »Kampagne« dagegen klein: »Die Kampagne gegen die Kybernetik … war nicht sehr umfangreich – es gab fast zehn Veröffentlichungen … Artikel gegen die Kybernetik wurden nicht in den gelegentlichen Presseorganen veröffentlicht«, sondern in technischen Fachzeitschriften, Philosophiezeitschriften und dergleichen.25
Schilow ist zuversichtlich, dass er die vollständige Liste der gegen die Kybernetik gerichteten Artikel hat. Sie umfasst jedoch nur zehn Titel. In vielen der zehn Publikationen, die Schilow als »gegen die Kybernetik gerichtet« einstuft, wird die Kybernetik jedoch nicht einmal erwähnt. Selbst in dem berühmten Artikel »Mark III, ein Rechner« von Boris Agapov, der von allen Historikern erwähnt wird und den Artikel »Kann der Mensch einen Übermenschen bauen?« der Times lächerlich machte, wurde die Kybernetik nicht direkt erwähnt. Nach Ansicht des Historikers Loren Graham gab es nur 3 – 4 Artikel gegen die Kybernetik:
»Anfang der 1950er Jahre standen sowjetische Ideologen der Kybernetik definitiv feindlich gegenüber, obwohl die Gesamtzahl der gegen die Kybernetik gerichteten Artikel wahrscheinlich nicht mehr als drei oder vier betrug.«26
Wenn wir davon ausgehen, dass Schilow Recht hat und Graham Unrecht, dann ist dies ein weiteres Beispiel für die mangelhafte Qualität bürgerlicher Forschung. Es deutet wahrscheinlich auch darauf hin, dass die Kampagne gegen die Kybernetik in der Tat klein war, da einige der Artikel in Publikationen erschienen sind, die zu sehr in einer Nische liegen, als dass Graham sie überhaupt kennen konnte. Ich denke jedoch, dass Schilow übertreibt und versucht, die Anzahl der Artikel so weit wie möglich zu erhöhen, indem er zumindest sowohl den Wörterbucheintrag (den Graham nicht einbezieht, weil es sich nicht um einen Artikel handelt) als auch Agapovs »Mark III« (in dem die Kybernetik nicht erwähnt wird) als gegen die Kybernetik gerichtete Artikel einstuft.
Schilows Liste der Artikel gegen die Kybernetik:
- Boris Agapov, »Mark III, kalkulator«, Literaturnaja Gaseta. 4. Mai 1950. S. 2.
- Mikhail G. Yaroshevsky, »Kibernetika – ›nauka‹ mrakobesov«, Literaturnaya Gazeta. 5. April 1952. S. 4.
- Bernard E. Bykhovskii, »Kibernetika – amerikanskaia lzhenauka«, Priroda. 1952. 7. S. 125 – 127.
- Kirill A. Gladkov, »Kibernetika, ili toska po mekhanicheskim soldatam«, Tekhnika – molodezhi. 1952. 8. S. 34 – 38.
- Yu. Klemanov, »«Kibernetika» mozga«, Meditsinskii rabotnik. 25. Juli 1952. S. 4.
- Bernard E. Bykhovskii, »Nauka sovremennykh rabovladel’tsev«, Nauka i zhizn‹. 1953. 6. S. 42 – 44.
- Materialist, »Komu sluzhit kibernetika?«, Voprosy filosofii. 1953. 5. S. 210 – 219.
- »Kibernetika«, Kratkii filosofskii slovar‹. Moskva, 1954. S. 236 – 237.
- Theodor K. Gladkov, »Kibernetika – psevdonauka o mashinakh, zhivotnykh, cheloveke i obshchestve«, Vestnik Moskovskogo universiteta. 1955. 1. S. 57 – 67.
6. Hat die Kampagne die Entwicklung der Computertechnologie verhindert?
Die Kybernetik ist eine verworrene und schlecht definierte »Wissenschaft«. Daher wurde sie sehr oft mit Computertechnologie und Automatisierung im Allgemeinen verwechselt. Infolgedessen stellten viele Menschen die Existenz der Kampagne gegen die Kybernetik in Frage, da die Computertechnologie in der Sowjetunion gleichzeitig hoch entwickelt war: »Viele Probleme sind nach wie vor Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen … Handelte es sich überhaupt um eine Kampagne gegen Kybernetik?«27
P. L. Kapitsa, ein konservativer, aber fähiger Physiker aus der Zarenzeit, ist ein perfektes Beispiel für diese Verwirrung. Er argumentierte, dass es eine schlechte Idee sei, die Kybernetik anzugreifen, da Computer sehr wichtig seien. Als ob die beiden irgendwie dasselbe wären:
»1962 bemerkte der Akademiker P. L. Kapitsa bissig, dass … hätten unsere Wissenschaftler im Jahr 1954 den Philosophen Aufmerksamkeit geschenkt, hätten sie diese Definition [der Kybernetik als reaktionäre Pseudowissenschaft] als Leitfaden für die weitere Entwicklung dieser besonderen Wissenschaft akzeptiert, könnten wir mit Sicherheit sagen, dass unsere Eroberung des Weltraums, auf die wir so stolz sind und für die uns die ganze Welt respektiert, niemals Realität geworden wäre, da es völlig unmöglich ist, Raumfahrzeuge ohne Rückgriff auf die Kybernetik zu steuern.«28
Auch Juri Schdanow, der Sohn des Parteitheoretikers Andrej Schdanow, macht den gleichen Fehler. Er argumentierte, dass Stalin die Computertechnologie immer unterstützt habe und er sich daher nicht gegen die Kybernetik ausspreche:
»Juri Schdanow, der von 1951 bis 1953 Leiter der Wissenschaftsabteilung des Zentralkomitees war, erinnerte sich in seinen Memoiren: ›Stalin sprach sich zwar gegen die moderne Genetik aus, aber er war nie ein Gegner der Kybernetik [damit meint Juri die Computertechnologie]. Im Gegenteil, im Zusammenhang mit dem Weltraumprogramm wurden alle Anstrengungen unternommen, um die Computertechnologie voranzutreiben. Insbesondere hatte unsere Abteilung den Auftrag, dem Akademiker S. A. Lebedev beim Bau der ersten Maschinen des BESM‐Typs (der Hochgeschwindigkeits‐Elektronenrechenmaschine [Bystrodeistvuiushchaia elektronnaia schetmaia mashina]) zu helfen. Und das wurde auch getan …‹«29
»Der MESM, der erste speicherprogrammierbare elektronische Digitalcomputer in Europa, war bereits in Kiew in Betrieb, und zwei weitere Maschinen befanden sich in Moskau im Bau […]. Am 11. Januar 1950 genehmigte die Regierung nach den ersten erfolgreichen Tests des MESM zwei unabhängige Projekte zum Bau großer digitaler Hochgeschwindigkeitscomputer: eines am Institut für Präzisionsmechanik und Computertechnologie in Moskau (das BESM) und das andere am Speziellen Konstruktionsbüro Nr. 245, ebenfalls in Moskau (der Pfeil [Strela]).«30
Gerovitch sagt unmissverständlich:
»Der Mythos, dass die Antikybernetik‐Kampagne ein großes Hindernis für die Entwicklung der sowjetischen Computertechnik darstellte, wurde bereits entlarvt … Im Gegenteil, die Behörden der Partei und der Regierung unterstützten die Computer‑, Steuerungs‐ und Nachrichtentechnik uneingeschränkt.«31
»Obwohl die Kybernetik in der sowjetischen Presse als ›Pseudowissenschaft‹ bezeichnet wurde, galten Computer nicht als »Pseudomaschinen«. Sowjetische Kritiker der Kybernetikkampagne brandmarkten lediglich die Verwendung von Mensch‐Maschine‐Analogien in den biologischen und den Sozialwissenschaften als ›idealistisch‹ und ›mechanistisch‹. Sie hatten keinerlei Einwände gegen den Einsatz von Computern für Automatisierungs‐ und wissenschaftliche Berechnungen, die als akzeptable ›materialistische‹ Anwendungen galten. Die Kritiker bezeichneten die Erfindung eines Computers sogar als ›echte wissenschaftliche und technische Errungenschaft‹ und argumentierten, dass Computer ›einen großen Wert für die unterschiedlichsten Phasen des wirtschaftlichen Aufbaus‹ hätten. Computer, so behaupteten sie, könnten ›Berechnungen jeder Komplexität in kürzester Zeit‹ durchführen und seien in der Lage, ›vollkommen fehlerfrei zu arbeiten und Ergebnisse zu liefern‹.«32
Die Sowjetunion entwickelte die ersten Digitalcomputer in Europa und die zweiten weltweit und war in der Stalin‐Ära führend in der Computertechnologie. In der Sowjetunion wurden Bereiche, die mit Computerforschung und Automatisierung zusammenhingen, schnell entwickelt. Dies geschah genau zu der Zeit, als die Pseudowissenschaft der Kybernetik verdammt wurde:
»In der sowjetischen Literatur findet sich bereits 1926 eine Erwähnung der Rationalisierung der geistigen Arbeit und der Denkmaschinen.«33
»Bereits 1934 hatte die Sowjetische Akademie der Wissenschaften eine Kommission für Fernsteuerung und Automatisierung eingerichtet. 1936 wurde die Zeitschrift Avtomatika i telemekhanika eingeführt. 1950 wurde das Institut für Präzisionsmechanik und Computertechnologie gegründet, dessen Hauptaufgabe darin bestand, die praktischen Aspekte der Programmierung zu entwickeln. Und es bedurfte drei Bände, um die Berichte der Zweiten Allunionskonferenz über die Theorie der automatischen Regelung von 1953 über die Fortschritte der Automatisierung und Steuerung von 1940 bis 1953 festzuhalten. Hervorragende Lehrbücher über Servomechanismen und Steuerungssysteme wurden von B. S. Sotskov (1950), G. A. Shaumian (1952) und E. P. Popov (1956) verfasst.«34
David Holloway ist ein antikommunistischer Historiker, beschreibt dies aber treffend:
»Es wurde zwischen Computertechnologie und den Theorien der Kybernetik unterschieden. Erstere wurde als wichtiger technologischer Fortschritt angesehen, während letztere als bösartiges ideologisches Wachstum auf der realen Wissenschaft der automatischen Steuerung angesehen wurde. Zweitens wurde der zentrale Fokus der Kybernetik in der Analogie zwischen Gehirn und Computer gesehen; und es wurde insbesondere die Ansicht der Kybernetiker beanstandet, dass das einzige Merkmal, das das Gehirn vom Computer unterscheidet, dessen Größe und Kapazität sei. Die Kybernetik wurde dafür verurteilt, dass sie versuchte, die Bewegungsgesetze, die für einige Formen von Materie typisch sind, auf qualitativ unterschiedliche Formen zu übertragen, in denen andere, höhere Gesetze gelten. Sie war mechanistisch in ihrer Missachtung solcher Unterschiede; aber insofern sie das Problem des menschlichen Bewusstseins ignorierte, ablehnte oder nicht lösen konnte, wurde sie dafür kritisiert, dem Idealismus und Klerikalismus Tür und Tor zu öffnen. Die Kybernetik wurde als Auswuchs auf dem verwesenden Körper des Kapitalismus angesehen, der dessen Unmenschlichkeit, Aggression und Angst vor dem Proletariat widerspiegelte. Die Faszination der »Denkmaschine« für die Bourgeoisie lag, so hieß es, in der Hoffnung, widerspenstige Arbeiter durch automatische Maschinen zu ersetzen oder Piloten, die sich weigern könnten, Bäuerinnen zu bombardieren, die auf den Reisfeldern arbeiten. Schließlich wurde gesagt, dass die Kybernetik die vergebliche Hoffnung verkörperte, dass »die zeitgenössischen Technokraten – die Kybernetiker – mit Hilfe von Computern in der Lage sein würden, wesentliche Veränderungen im Sozialsystem zu bewirken. Doch diese Ambitionen waren zum Scheitern verurteilt, da die grundlegenden Probleme der kapitalistischen Gesellschaft nicht durch technologische Lösungen gelöst werden konnten. Es war der Charakter des ökonomischen Systems, der den Kurs der technologischen Entwicklung bestimmte, nicht die Technologie, die die soziale Entwicklung bestimmte.«35
»Sowjetische Kritiker beschwerten sich, dass das Konzept des Feedbacks viel gröber war als das pawlowsche Konzept des Reflexes. Darüber hinaus ließ die Kybernetik die Frage nach der Natur und den Ursprüngen des Bewusstseins offen, die Pawlow angeblich durch den Verweis auf die Sprache, das ›zweite Signalsystem‹, das nur dem Menschen eigen war, erklärt hatte. Dies hatte sich als Folge der Beteiligung des Menschen an Arbeit und sozialer Interaktion entwickelt, mit der daraus resultierenden Notwendigkeit einer umfassenden Kommunikation zwischen den Menschen. Darüber hinaus verneinte die Kybernetik, indem sie den Inhalt der Sprache vernachlässigte, eine aktive Rolle der mentalen Aktivität des Menschen.
Einer der sowjetischen Kritiker äußerte sich zur Kybernetik als Gesellschaftstheorie. Er argumentierte, dass die Kybernetik, indem sie behauptet, der Mensch sei im Wesentlichen nicht anders als eine Maschine, die entscheidende Tatsache herunterspiele, dass der Mensch in der Gesellschaft lebt. Daher unterscheide sie nicht zwischen verschiedenen sozioökonomischen Formationen und betrachte die Gesellschaft lediglich als einen komplexen Mechanismus, der aus einer bestimmten Anzahl von Elementen bestehe und mechanistischen Gesetzen wie dem der Rückkopplung unterliege. Durch die Konzentration auf die Kommunikationsstruktur ignorierte sie die Gesetze der sozialen Entwicklung; durch die Missachtung des Inhalts sozialer Informationen machte sie es unmöglich, ›das Wesen der Phänomene des sozialen Lebens‹ zu erfassen. Als Gesellschaftstheorie rationalisierte die Kybernetik die kapitalistische Gesellschaft, indem sie den sozialen Wandel als Verbesserung der ›Gruppeninformation‹ erklärte, ohne dabei auf die Produktionsweise einzugehen. Die Krise der kapitalistischen Produktion konnte als selbstregulierender Mechanismus des Marktes wegerklärt werden. Aufgrund der Notwendigkeit einer zentralisierten Kontrolle argumentierten die Kybernetiker, dass die Weltzivilisation zentralisiert werden sollte – mit ihrem Hauptsitz in Washington.«36
Einer der Hauptbefürworter der Kybernetik, der berüchtigte Revisionist Aksel Berg, behauptete, dass die Verurteilung der Kybernetik die Computerforschung behindert habe, aber selbst der Antikommunist Holloway hat gezeigt, dass dies völlig falsch ist:
»1960 schrieb Akademiemitglied Berg, dass es so lange gedauert habe, eine vernünftige Einstellung zur Kybernetik zu entwickeln, dass unserer Wissenschaft und Technologie zweifellos Schaden zugefügt worden sei. Berg bezog sich auf die Art und Weise, wie die Ängste der Philosophen die Entwicklung der Computertechnologie aufgehalten hatten; aber, wie bereits erwähnt, war die Computertechnologie von den ersten Angriffen auf die Kybernetik ausgenommen. 1949 wurde an der Universität Moskau die erste Abteilung für Computermathematik in der Sowjetunion eingerichtet, und im darauffolgenden Jahr gründete die Akademie der Wissenschaften ein Institut für Präzisionsmechanik und Computertechnik. Die Arbeit an digitalen Computern hatte Ende der 1940er Jahre begonnen, und bis 1953 waren mehrere verschiedene Computer fertiggestellt worden.«37
»In den 1990er Jahren wurde der Kybernetik‐Boom für zahlreiche Mängel der sowjetischen Wissenschaft verantwortlich gemacht. ›Diese Doktrin, die sich selbst als Wissenschaft der Kontrolle bezeichnete, fesselte den technologischen Elan einer großen Nation‹, schrieb ein Kommentator in einem russischen Online‐Magazin. ›Die heimische Wissenschaft verschwendete unermesslich viel Zeit und Mühe an die Schimäre der Kybernetik, während der Bereich der Computertechnologie nicht in vollem Umfang finanziert wurde‹.«38
7. Litt die Wissenschaft unter Stalin und blühte unter Chruschtschow auf?
Der Antikommunist Gerovitch findet es »paradox«, dass sich die Wissenschaft in der Stalin‐Ära tatsächlich viel besser entwickelt hat. Es gibt zwei einfache Gründe, warum dies geschah: 1) Die Regierung stellte mehr Mittel für die Wissenschaft bereit. 2) Die Partei gab den Wissenschaftlern mehr Anleitung und ermutigte zur Kritik an falschen und unfruchtbaren Ideen. Antikommunisten haben diese Anleitung und Kritik jedoch immer als etwas Tyrannisches bezeichnet, das die Wissenschaft behindere.
»Dieses Bild einer durch politische Einmischung unterdrückten Wissenschaft ist schwer mit den beeindruckenden wissenschaftlichen Errungenschaften der Stalinzeit zu vereinbaren, die sowjetischen Wissenschaftlern eine Vielzahl von Nobelpreisen in Physik und Chemie einbrachten. In der Nachkriegszeit schossen wissenschaftliche und technische Einrichtungen sowie groß angelegte Industrie‐ und Bauprojekte, die Stalins ehrgeizigen Plan der ›großen Umgestaltung der Natur‹ verwirklichen sollten, wie Pilze aus dem Boden, und die Sowjetunion feierte einen beispiellosen »Kult« um Wissenschaft und Technologie. In dieser Zeit bauten sowjetische Wissenschaftler ihre ersten Atom‐ und Wasserstoffbomben. Paradoxerweise schien die sowjetische Wissenschaft unter Stalins totalitärer Herrschaft besser zu gedeihen als im relativ liberalen Klima des Chruschtschow‐Regimes.«39
»[Loren] Graham hat den weit verbreiteten Mythos widerlegt, dass sowjetische Wissenschaftler von der marxistischen Ideologie geblendet waren, und gezeigt, wie der dialektische Materialismus, die offizielle sowjetische Wissenschaftsphilosophie, fruchtbar in die wissenschaftliche Sichtweise vieler sowjetischer Gelehrter integriert wurde.«40
Benjamin Peters schätzt die Lage ähnlich ein:
»Obwohl die sowjetische Wissenschaft unter Chruschtschow Reformen und weniger ideologische Einschränkungen erfuhr, ist es erwähnenswert, dass die sowjetische Wissenschaft streng genommen unter Stalin vielleicht mehr erreicht hat … Unter Stalin leisteten sowjetische Physiker und Chemiker Pionierarbeit für die der Chemiker Nikolai Semjonow, der Physiker Igor Tamm, der Wirtschaftswissenschaftler Leonid Kantorowitsch und der Physiker Pjotr Kapiza Jahrzehnte später den Nobelpreis erhielten. Andere sowjetische Wissenschaftler – darunter Igor Kurtschatow, Lew Landau, Jakow Frenkel und andere weltbekannte Persönlichkeiten – entwickelten ebenfalls Atom‐ und Wasserstoffbomben, ein entscheidender Faktor für Stalins rasche und energische Industrialisierung der Überreste des Russischen Reiches von einem rückständigen Land zu einer globalen Supermacht in nur wenigen Jahrzehnten. Viele sowjetische Wissenschaftler setzten den dialektischen Materialismus erfolgreich als echte Inspirationsquelle ein, und nicht als aufgezwungene Ideologie, in ihrer wissenschaftlichen Arbeit.«41
8. Kybernetik wird von Revisionisten gefördert
8.1 Die ersten Stufen
Mitte der 1950er‐Jahre unterstützten die Revisionisten die vertretenen kybernetischen Ideen. 1955 wurde eine neue Ausgabe des Kurzen Philosophischen Wörterbuchs herausgegeben, in der der Eintrag zur Kybernetik entfernt wurde. Ende der 50er‐Jahre wurde die Kybernetik nicht mehr als Pseudowissenschaft bezeichnet. Sowjetische Wissenschaftler, Philosophen und Ingenieure widersetzten sich jedoch weiterhin der westlichen Pseudowissenschaft. Da sie sie nicht mehr als Pseudowissenschaft verurteilen konnten, wiesen sie lediglich darauf hin, dass sie kein originäres Thema habe und nichts beitrage, was nicht bereits von den eigentlichen Wissenschaften besser durchgeführt werde:
»Ernst Kolman … bestätigte die nihilistische Einstellung einiger seiner Kollegen gegenüber Wieners Theorie und anderen Zweigen der westlichen Wissenschaft und enthüllte den anhaltenden sowjetischen Widerstand gegen die Kybernetik; ihre Gegner bezeichneten die Theorie der Steuerung und Kommunikation in der Maschine und im lebenden Organismus nicht mehr als Pseudowissenschaft, sondern argumentierten nun, dass sie mit der Automatisierung identisch sei und daher keinen eigenen Existenztitel verdiene. Aus den von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften im Oktober 1956 gesponserten Sitzungen zur Automatisierung und den Diskussionen der Moskauer Mathematischen Gesellschaft im April 1957 ging für Kolman hervor, dass dieselben Ingenieure, Techniker und Mathematiker, die die Automatisierung vorantrieben, gegen Wieners Kybernetik waren und dass die Fachleute für Biologie, Physiologie, Psychologie und Linguistik sich nicht mit der Kybernetik anfreunden konnten, weil sie eine unpassende Verbindung ›inkongruenter Disziplinen‹ darstellte.«42
Mit anderen Worten: Echte Wissenschaftler lehnten die Kybernetik ab, selbst nachdem die Kommunistische Partei aufgehört hatte, sie zu verdammen, ja sogar einen zustimmenden Ton anschlug. Die Ablehnung der Kybernetik wurde der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht einfach von einem »tyrannischen stalinistischen Funktionär« aufgezwungen. Die Wissenschaftler lehnten sie sogar aus eigenem Antrieb ab.
»Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass es nicht die Philosophen allein waren, die die Kybernetik ablehnten: In den Diskussionen, die über die Kybernetik geführt wurden, traten einige Ingenieure, Technologen und Mathematiker, die selbst sowohl praktische als auch theoretische Arbeit auf dem Gebiet der automatischen Systeme leisteten, als ihre Gegner auf. Sie behaupteten, dass die Kybernetik kein Recht auf Existenz als eigenständige Wissenschaft habe, dass Theorien über Automaten ausreichend seien.«43
8.2 Kolman
Die Kybernetik wurde in der UdSSR stark von Ernst Kolman gefördert, den Benjamin Peters in seinem Artikel »Normalizing Soviet Cybernetics« als »einen gescheiterten Mathematiker« charakterisiert.44 Kolman, der sich selbst als Wissenschaftsphilosoph sah, wurde als »wahrer Stalinist« beschrieben, aber in Wirklichkeit war er nur ein Karrierist. Sein Engagement für den Marxismus war immer eigennützig und unaufrichtig gewesen. Er war kaum jemand, der die Integrität des Marxismus vor bürgerlicher Pseudowissenschaft verteidigte. Er »verbrachte nach dem Zweiten Weltkrieg einige Zeit in einem stalinistischen Arbeitslager, weil er mit seiner Interpretation des Marxismus von der Parteilinie abgewichen war«.45 Dies ist wahrscheinlich nicht der eigentliche Grund für seine Inhaftierung, aber auf jeden Fall deutet dies darauf hin, dass er sich bestenfalls ideologischer Abweichungen und höchstwahrscheinlich Verbrechen gegen die Sowjetunion schuldig gemacht hat.
Später lief Kolman zu Schweden über, wo er den Leninismus offen und vollständig ablehnte und sowohl Marx als auch Engels scharf kritisierte. Viele seiner Geschichten über seine Vergangenheit wurden ebenfalls widerlegt, sodass ihm niemand wirklich trauen sollte.
In den späten 50er Jahren begann er, die Kybernetik durch Schriften und Reden zu fördern. Um der Kybernetik etwas Glaubwürdigkeit zu verleihen, brachte Kolman sie tatsächlich mit dem idealistischen Revisionisten Bogdanow und dem revisionistischen Verräter Bucharin in Verbindung: »Neben Bogdanovs Tektologie zählt Kolman auch Bucharins Praxeologie zu den ersten Anfängen der sowjetischen kybernetischen Forschung.«46
Der andere Hauptbefürworter der Kybernetik, Aksel Berg, beschrieb die Kybernetik auch als eine universelle Regierungswissenschaft, ähnlich der »universellen Organisationswissenschaft« oder Tektologie von Bogdanov, die ebenfalls einen großen Einfluss auf Bucharin hatte: »Berg nutzte aktiv seinen enormen Einfluss und seine Verbindungen in der Partei und der Regierung, um die Kybernetik als universelle »Wissenschaft der Regierung« zu fördern.«47
Andere Revisionisten, wie der Ostdeutsche Georg Klaus, stellten die lächerliche Behauptung auf, dass die Entwickler der Kybernetik Ashby und Wiener beide »… klar erkennbare dialektische und materialistische Gedankengänge produzieren«.48
8.3 Das Trio Sobolew, Liapunow und Kitow
Zusammen mit Kolman und Berg waren die Mathematiker Sergei Sobolew, Alexei Liapunow und der Computertechniker Anatoli Kitow die Begründer der Kybernetik in der UdSSR. Gemeinsam verfassten sie den einflussreichen frühen pro‐kybernetischen Artikel »Die Hauptmerkmale der Kybernetik«.49
»Im Herbst 1954 organisierte Liapunow ein ›Seminar über Maschinenmathematik‹ an der Moskauer Universität. Er beschränkte die Seminarthemen jedoch nicht auf rein mathematische Probleme. Liapunow … nahm die gesamte Bandbreite kybernetischer Themen in die Tagesordnung des Seminars auf. Liapunows Seminar fand über mehrere Jahre hinweg regelmäßig statt und diente als Knotenpunkt für den öffentlichen Austausch kybernetischer Ideen … Während die Kybernetik in der Presse noch als ›reaktionäre Pseudowissenschaft‹ bezeichnet wurde, diskutierten die Teilnehmer von Liapunows Seminar offen über die neuesten kybernetischen Arbeiten aus dem Westen.«50
Während der Diskussion des Artikels »Die Hauptmerkmale der Kybernetik« von Sobolew, Liapunow und Kitow »erhob der stellvertretende Chefredakteur von Voprosy filosofii, Mark Rozental, Einwände gegen die Verwendung des Wortes ›Gedächtnis‹ in Bezug auf Computer und argumentierte, dass Gedächtnis eine mentale Eigenschaft sei. Kitow erwiderte, dass das Gedächtnis nichts anderes sei als ›die Fähigkeit, Informationen zu bewahren‹, und behauptete, dass ›man keine Angst haben sollte, dieses Ding hier und dort [bei Menschen und Maschinen] als Gedächtnis zu bezeichnen‹. ›Warum können wir nicht Gedächtnis sagen, sondern müssen Speichergerät sagen?‹, fragte er. ›Es geht darum, einen Unterschied zwischen Mensch und Maschine zu bewahren‹, erklärte Rozental. ›Der eigentliche Unterschied besteht darin, dass der Mensch ein soziales Wesen ist; er wird unter dem Einfluss seiner [sozialen] Umgebung geformt. Es besteht keine Notwendigkeit, einen Unterschied zu sehen, wo er nicht einmal greifbar ist‹, erwiderte Kitow.«51
»Im Oktober 1958 wies Sobolew auf der All‐Union‐Konferenz über philosophische Probleme der Naturwissenschaften die philosophische Kritik an der Kybernetik als völlig irrelevant zurück:
›Wir [Sobolew und Liapunow] geben zu, dass wir einige dieser [philosophischen] Fragen in Bezug auf die Kybernetik nicht einmal verstehen … Man kann die Physik nicht in materialistische Physik und idealistische Physik unterteilen … So etwas gibt es nicht.‹
… Sobolew benutzte keine philosophischen Argumente, um den Vorwurf des Idealismus zu widerlegen; stattdessen behauptete er, dass die philosophische Terminologie einfach nicht auf die Kybernetik anwendbar sei.«52
Man könnte fragen, wenn die Kybernetiker überhaupt zugeben, dass sie philosophische Fragen oder philosophische Einwände gegen kybernetische Behauptungen nicht verstehen, wie können sie dann so arrogant sein, diese Kritik einfach abzulehnen, ohne sie überhaupt zu verstehen?
Sobolew und Liapunow waren auch eindeutig nicht mit folgenden Worten Lenins vertraut:
»Und um einer solchen Erscheinung nicht ratlos gegenüberzustehen, müssen wir begreifen, dass sich ohne eine gediegene philosophische Grundlage keine Naturwissenschaft, kein Materialismus im Kampf gegen den Ansturm der bürgerlichen Ideen und gegen die Wiederherstellung der bürgerlichen Weltanschauung behaupten kann. Um diesen Kampf bestehen und mit vollem Erfolg zu Ende führen zu können, muss der Naturforscher moderner Materialist, bewusster Anhänger des von Marx vertretenen Materialismus sein, das heißt, er muss dialektischer Materialist sein.«53
9. Die Kybernetik wird offiziell von den Chruschtschow‐Leuten akzeptiert
Die Kybernetik wurde schließlich von den Revisionisten auf dem XX. Parteitag offiziell angenommen und auf dem XXII. Parteitag in das Parteiprogramm aufgenommen:
»1961 begann das Zentralkomitee auf dem XXII. Parteitag, die Kybernetik als ›eines der wichtigsten Instrumente zur Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft‹ zu fördern. Insbesondere der Erste Sekretär Nikita Chruschtschow setzte sich für eine weitreichende Anwendung der Kybernetik ein.«54
»1958 erschien schließlich ein Eintrag zur Kybernetik im Zusatzband 51 der Großen Sowjetischen Enzyklopädie … In diesem Artikel wurde Norbert Wieners Pionierrolle bei der Entwicklung der Kybernetik anerkannt und dieses Fachgebiet in der Sowjetunion legitimiert. Der Autor dieses Artikels war kein Geringerer als Andrei Kolmogorow [berühmter Mathematiker und Kybernetiker]. Ein separater Artikel, der von Kolmogorows Schüler mitverfasst wurde, war Wiener gewidmet …«55
Um die Kybernetik zu rehabilitieren, vermieden ihre Befürworter es, über philosophische Probleme zu diskutieren. Sie verfolgten stattdessen einen »neutralen« technokratischen Ansatz. Die kybernetische Terminologie wurde geändert, um ihren mechanistischen Charakter zu verbergen. Das Wort »Mechanismus« wurde von den Entwicklern aus allen Beschreibungen der Kybernetik entfernt, und Wieners »Feedback‐Mechanismus« wurde in »Feedback‐Theorie« umbenannt. Die revisionistischen Autoren betonten die theoretische Natur der Kybernetik, um sie vom amerikanischen Pragmatismus abzugrenzen.56
In den 1960er Jahren hatten die revisionistischen Führer entschieden, dass die Kybernetik so wichtig sei, dass ihr eine eigene Abteilung in der sowjetischen Wissenschaft gewidmet werden sollte. Man bedenke, dass die gesamte wissenschaftliche Einrichtung in der Sowjetunion nur aus drei großen Abteilungen bestand: physikalisch‐technische und mathematische, chemisch‐technische und biologische. Die Revisionisten behaupteten, dass die modische westliche Pseudowissenschaft genauso wichtig sei wie diese Hauptabteilungen der Wissenschaft!
»In den späten 1960er Jahren pries die Akademie der Wissenschaften der UdSSR die Kybernetik als eine von nur vier Abteilungen der sowjetischen Wissenschaft an.«57
Die Dinge wurden noch lächerlicher, als Revisionisten anfingen zu argumentieren, dass eigentlich alle anderen Bereiche der Kybernetik untergeordnet und als bloße Unterkategorien davon betrachtet werden sollten:
»Andere argumentierten übertrieben, dass selbst die verbleibenden drei Abteilungen – ›die physikalisch‐technischen und mathematischen Wissenschaften, die chemisch‐technischen und biologischen Wissenschaften und die Sozialwissenschaften‹ – ohne große begriffliche Gewalt als Teilbereiche der übergreifenden Ausdehnung der sowjetischen Kybernetik gelesen werden könnten, da sie sich ökumenisch dafür einsetzt, das Mechanische, das Organische und das Soziale zusammenzufügen: eine umfassende Mission, die mit Wieners Versuch begann, (in seinem Untertitel zu seinem 1948 erschienenen Buch Cybernetics) »das Tier und die Maschine« und später (in seinem Untertitel zu The Human Use of Human Beings aus den 1950er Jahren) ›Kybernetik und Gesellschaft‹ zu analogisieren.«58
Die Abteilungen für Kybernetik vermehrten sich wie Pilze. Kybernetik wurde für alles Mögliche entwickelt. Kybernetische Psychologie, kybernetische Geografie, kybernetische Wirtschaft. Was kommt als Nächstes? Kybernetische Kunst und kybernetische Küche?
»Die Akademie der Wissenschaften übernahm diese umfassende Sichtweise institutionell und kategorisierte die Kybernetik ursprünglich in acht Abschnitte, darunter Mathematik, Ingenieurwesen, Wirtschaftswissenschaften, mathematische Maschinen, Biologie, Linguistik, Zuverlässigkeitstheorie und einen ›speziellen‹ militärischen Abschnitt. Mit Bergs Einfluss auf den Rat für Kybernetik wuchs die Zahl der anerkannten Teilbereiche und umfasste ›geologische Kybernetik‹, ›landwirtschaftliche Kybernetik‹, ›geografische Kybernetik‹, ›theoretische Kybernetik‹ (Mathematik), ›Bio‐Kybernetik‹ (manchmal auch ›Bionik‹ oder Biowissenschaften) und, die bekannteste der kybernetischen Sozialwissenschaften der Sowjetunion, die ›ökonomische Kybernetik‹.«59
Hinzu kam die kybernetische Rechtstheorie und natürlich wurde auch die neue westliche Modeerscheinung »Semiotik«, die von bürgerlichen Linguisten und idealistischen Philosophen entwickelt wurde, mit aufgenommen und erhielt eine eigene Abteilung:
»Bis 1967 hatte sich die Bandbreite der Sektionen erweitert und umfasste nun auch Informationstheorie, Informationssysteme, Bionik, Chemie, Psychologie, Energiesysteme, Transportwesen und Justiz, wobei die Semiotik zur Sprachsektion und die Medizin zur Biologie kam.«60
10. Kybernetik als Schutzschild für andere reaktionäre Theorien
Führende Kybernetiker waren Reaktionäre, die gegen die echte Wissenschaft kämpften: »Im Juli 1954 veröffentlichte Sobolew einen Artikel im führenden Parteiorgan Pravda … Unter Verwendung des Dogmatismus als Euphemismus für das stalinistische Erbe in der sowjetischen Wissenschaft griff Sobolev speziell die Schulen der Lysenko‐Biologie und der ›Pawlowschen‹ Physiologie an.«61 Die Kybernetik wurde zu einem Zufluchtsort für alle Arten von Idealisten und Revisionisten, Pseudowissenschaftler auf allen Gebieten von der Psychologie über die Linguistik bis hin zu den Rechts‐ und Naturwissenschaften:
»Unter ihrem Dach versammelte sich eine Vielzahl unorthodoxer Wissenschaften, darunter die ›nicht‐Pawlowsche Physiologie‹ (›psychologische Kybernetik‹), die strukturelle Linguistik (›kybernetische Linguistik‹) und neue Ansätze in der Versuchsplanung (›chemische Kybernetik‹) und Rechtswissenschaften (›juristische Kybernetik‹).«62
Die Akzeptanz der Kybernetik bedeutete nicht nur, dass eine nutzlose Pseudowissenschaft im Bereich der Automatisierung oder Elektronik übernommen wurde. Sie diente dazu, Pseudowissenschaften zu fördern und echte Wissenschaften in vielen anderen Bereichen anzugreifen, insbesondere in der Physiologie, aber auch in der Psychologie, Biologie und so weiter:
»Die Kybernetik begann, als institutioneller Schirm für verschiedene unorthodoxe Forschungstrends zu dienen, die zuvor von den vorherrschenden stalinistischen Denkrichtungen unterdrückt worden waren … ›Biologische Kybernetik‹ (Genetik), ›Physiologische Kybernetik‹ (nicht‐Pawlowsche ›Physiologie der Aktivität‹) und ›Kybernetische Linguistik‹ (strukturelle Linguistik).«63
1960 »erschien ein Artikel von Ljapunow und Sobolew mit dem Titel ›Kybernetik und Naturwissenschaft‹, in dem die These der erworbenen Vererbung abgelehnt wurde«, und die Autoren griffen den Michurinismus an und verteidigten den Mendelismus, indem sie sagten, dass »die klassische Genetik mit der Kybernetik übereinstimmt«.64
»Problemy kibernetiki veröffentlichte beispielsweise Artikel über die Anwendung der Kybernetik auf die Genetik und bot damit eine Zuflucht für Genetiker.«65
Die Pawlowsche Physiologie war mit der Kybernetik nicht vereinbar und musste daher vernichtet werden. Der für die Pflege von Pawlows Werk eingerichtete Rat wurde aufgelöst:
»Von den spezifischeren Einwänden gegen die Kybernetik war derjenige, der auf den pawlowschen Theorien über die höhere Nerventätigkeit basierte, nicht mehr so stark, da die pawlowsche Orthodoxie Mitte der 1950er Jahre stark geschwächt worden war … Der Rat für das Problem der physiologischen Lehre des Akademikers I. P. Pawlow, der eingerichtet worden war, um sicherzustellen, dass die Beschlüsse der Konferenz von 1950 durchgesetzt wurden, scheint seine letzte Sitzung im Jahr 1953 abgehalten zu haben.«66
»Die Grenzen zwischen Physiologie und Technik sind diejenigen, in denen die Kybernetik den größten Einfluss auf die Forschung hatte, und hier war die Situation komplexer. Die Kybernetik wurde als unvereinbar mit den Theorien von Pawlow verurteilt; folglich stellte die erneute Bestätigung der Lehre von Pawlow im Jahr 1950 und die anschließende Säuberung derjenigen, die versucht hatten, seine Arbeit zu revidieren, ein großes Hindernis für die Kybernetik dar. Einer derjenigen, die 1950 ausgemerzt wurden, ist ein gutes Beispiel dafür. In den 1930er Jahren hatte P. K. Anokhin … in die Physiologie des Nervensystems die Idee der ›Rückkopplung‹ der Ergebnisse einer Handlung an den Handelnden eingeführt – fast identisch mit dem Konzept des Feedbacks. Diese Arbeit wurde jedoch verurteilt, weil sie im Widerspruch zur Pawlowschen Theorie des Reflexbogens stand. Anokhin hatte versucht, seine eigene Arbeit im Lichte der Kybernetik zu rehabilitieren:
›Als die Kybernetik aufkam und ich anfing, über unsere sowjetische Priorität in der theoretischen Behandlung der Physiologie zu sprechen, sagten mir Freunde: ›Hör auf, darüber zu reden!‹ Es ist in Ordnung, eine wissenschaftliche Entdeckung um elf Jahre zu übertreffen, aber wir raten dir davon ab, den bürgerlichen Obskurantismus um elf Jahre zu übertreffen. Die Forschung in der Physiologie wurde durch die Betonung der pawlowschen Orthodoxie aufgehalten, und erst in zweiter Linie durch die Angriffe auf die Kybernetik.‹«67
»Nikolai Aleksandrovich Bernstein (1896 – 1966) sollte später die führende Rolle in der sowjetischen ›physiologischen Kybernetik‹ spielen. Während seiner gesamten Laufbahn sprach Bernstein offen und konsequent über seine Ablehnung von Pawlows Lehre der bedingten Reflexe … Bereits 1934 schlug Bernstein vor, das klassische pawlowsche Konzept des ›Reflexbogens‹ durch einen ›Reflexkreis‹ zu ersetzen.«68
»Bernstein … war mit Pawlows Konzept nicht einverstanden und versuchte nicht einmal, sich als orthodoxer Anhänger Pawlows darzustellen. Er wurde zu einem prominenten Ziel ideologischer Kritik … Seine Kritiker … warfen ihm vor, er versuche, die Bedeutung Pawlows ›herabzusetzen‹. Da Bernstein außerdem ausländische [imperialistische] Autoren zitierte, wurde er beschuldigt, ›vor ausländischen Wissenschaftlern zu buckeln‹ und ›unpatriotisch‹ zu sein. Die Kritiker versahen Bernsteins Doktrin auch mit den üblichen Etiketten: Idealismus (für die Verwendung mathematischer Analysen) und Mechanismus (für die Betrachtung des menschlichen Körpers als selbstregulierenden Mechanismus). Sie warfen ihm sogar vor, an der ›falschen Theorie der Mutationen‹ (sprich der Genetik) festzuhalten. Auf der ›Pawlow‐Sitzung‹ im Jahr 1950 behaupteten Kritiker, er kenne ›weder den Buchstaben noch den Geist von Pawlows Lehren‹.«69
»Der ›Vater der sowjetischen Kybernetik‹, Aleksei Liapunow, hatte seit den frühen 1940er Jahren, als er in eine Kontroverse zwischen Kolmogorov und Lysenko über die Gültigkeit statistischer Analysen bei der Interpretation genetischer Experimente verwickelt war, eine langjährige Freundschaft mit einer Reihe führender sowjetischer Genetiker aufgebaut. In den späten 1940er Jahren organisierte Liapunow einen kruzhok (einen ›Kreis‹, eine Hausarbeitsgruppe) … er bot informelle Kurse über Genetik und die Theorie der Wahrscheinlichkeiten und Statistik an, die den Biologiestudenten an der Universität nicht vermittelt wurden. Liapunow riskierte seine Position als Parteimitglied und Forscher an einer geschlossenen Einrichtung, der an geheimen Projekten arbeitete, und lud oft verfolgte Genetiker ein, Gastvorträge zu halten und ihr ›verbotenes Wissen‹ an diese ausgewählte Gruppe weiterzugeben. Genetiker … nutzten diese Gelegenheit … So prominente Biologen wie Dubinin, Romashow, Sacharow, Timoféeff‐Ressovsky, Zavadovskii und Zhebrak sprachen bei den Treffen von Liapunows kruzhok.«70
Liapunow war 1955 an der Unterzeichnung des Briefes gegen Lysenko beteiligt, der von 94 reaktionären Wissenschaftlern verfasst wurde und 1956 zum sogenannten »Brief der 300« erweitert wurde.
»Liapunow unterzeichnete den Nachtrag und beteiligte sich aktiv daran, Unterschriften von einflussreichen sowjetischen Wissenschaftlern zu sammeln; insbesondere gelang es ihm, Sobolews Unterstützung zu gewinnen.«71
»Liapunows Propagierung kybernetischer Ideen war eng mit seiner Verteidigung der Genetik verbunden«, führt Gerovitsch aus.72
»Die Kybernetikbewegung begann sich über eine Vielzahl von Disziplinen auszubreiten. ›Biologische Kybernetiker‹ forderten die Lysenko‐Anhänger in der Biologie heraus; ›physiologische Kybernetiker‹ stellten sich der Pawlow‐Schule in der Physiologie entgegen; ›kybernetische Linguisten‹ konfrontierten die Traditionalisten in der Linguistik. Die Gegner der vorherrschenden Schulen in verschiedenen Bereichen begannen, die Sprache der Kybernetik zu sprechen.«73
»Wie der Historiker Mark Adams gezeigt hat, versteckte sich die Genetik »unter einer schützenden Sprache: Für Fachleute fungierten Begriffe wie ›Radiobiologie‹, ›Strahlenbiophysik‹ und ›physikalisch‐chemische Biologie‹ als eine Art schützende Mimikry und dienten als Euphemismen sowohl für die orthodoxe Genetik als auch für die Molekularbiologie.« Genforschung wurde nicht in biologischen Instituten (die von den Lysenko‐Anhängern kontrolliert wurden) durchgeführt, sondern unter den Dächern physikalischer und chemischer Forschungsinstitute. Einer der Decknamen für Genetik in dieser Zeit war kybernetische Biologie.«74
»Im Oktober 1958 hielten Aleksei Liapunow und Sergei Sobolew auf der Konferenz der Allunionsvereinigung für philosophische Probleme der Naturwissenschaften einen Vortrag, in dem sie die [mendelschen] Genetik als Umsetzung des kybernetischen Ansatzes in der Biologie darstellten.«75
»Liapunow wurde Leiter der Biologischen Sektion des Rates für Kybernetik; als Herausgeber der Reihe Problemy kibernetiki … veröffentlichte er Werke zur Genetik. Insbesondere half Liapunov seinem engen Freund Nikolai Timoféeff‐Ressovsky [ein Mendelist, der nach Deutschland übergelaufen war und für das Dritte Reich arbeitete] … nach seiner Rückkehr aus stalinistischen Arbeitslagern, seine aktive Forschung und seine Publikationen wieder aufzunehmen. Timoféeff‐Ressovskys erster Vortrag nach seiner Rückkehr nach Moskau wurde bei einem informellen Treffen in Liapunows Wohnung gehalten. Dank Liapunows Bemühungen erschien dieser Artikel, der in Zusammenarbeit mit der Genetikerin Raisa Berg verfasst wurde, jedoch 1962 im fünften Band von Problemy kibernetiki. Um diese Veröffentlichung zu rechtfertigen, fügten Timoféeff‐Ressovsky und Berg in ihren Artikel einige kybernetische Begriffe ein.«76
»Auf der Konferenz von 1962 argumentierte der führende Spezialist für Mustererkennung, der Mathematiker Mikhail Bongard vom Institut für Biophysik, dass die Theorie des Pawlowschen Reflexes, wenn sie einem kybernetischen Test unterzogen würde, entscheidende physiologische Mechanismen nicht erklären könnte.«77
»Bongard argumentierte, dass die Reflex‐Theorie eindeutig nicht ausreiche, um eine höhere Nerventätigkeit zu erklären … Stattdessen, so Bongard, müsse man nach einer Lösung suchen, indem man kybernetische Modelle erstellt.«78
»Insbesondere Sobolew argumentierte, dass es keine Grenze für die Anwendbarkeit kybernetischer Konzepte auf lebende Organismen gebe: ›In der Kybernetik wird eine Maschine als ein System definiert, das in der Lage ist, Handlungen auszuführen, die zu einem bestimmten Ziel führen. Daher sind alle lebenden Organismen, insbesondere Menschen, in diesem Sinne Maschinen. Der Mensch ist die vollkommenste aller bekannten kybernetischen Maschinen. (…) Es besteht kein Zweifel daran, dass alle menschlichen Aktivitäten das Funktionieren eines Mechanismus offenbaren, der in all seinen Teilen denselben Gesetzen der Mathematik, Physik und Chemie gehorcht wie jede andere Maschine auch.‹ Pawlowianische Physiologen versuchten, sich diesem Trend entgegenzustellen, konnten sich aber dem Sog der Kybernetikwelle kaum entziehen.«79
11. Technokratie
Seit dem Aufstieg Chruschtschows hatten die sowjetischen Revisionisten versucht ein »weniger politisches« technokratisches System zu schaffen. Westliche imperialistische Ideen wurden von den Revisionisten nicht als fragwürdig angesehen, sondern in der Hoffnung auf einen gewissen pragmatischen Nutzen übernommen. Chruschtschows Mais‐Fiasko, bei dem versucht wurde, amerikanischen Hybridmais in die UdSSR zu verpflanzen, ist nur ein berüchtigtes Beispiel. Außerdem hielten die Technokraten die Sowjets dazu an, westliche imperialistische »Innovationen« nicht zu kritisieren. Infolgedessen wurden Doktrinen wie Kybernetik, der »Brutalismus« in der Architektur und anderes aus dem Westen in die UdSSR importiert. Die Technokraten wollten optimale pragmatische Lösungen und betrachteten sie als »unideologisch« – ihr Einsatz des Brutalismus ist ein Paradebeispiel dafür. Gleichzeitig ist der Brutalismus aber auch ein Paradebeispiel dafür, dass diese Art von vermeintlich unideologischem System in Wirklichkeit völlig ideologisch ist. Der Brutalismus, eine imperialistische westliche Strömung, löste den Sozialistischen Realismus in der Architektur ab.
Lenin sagte in Was tun?:
»Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie.«80
Die Revisionisten akzeptierten genüsslich »pragmatische« technokratische Lösungen, die denen der Rechtsabweichler der Vergangenheit, wie Bucharin und seiner Verwendung von Bogdanows »universeller Organisationswissenschaft«, sehr ähnlich waren:
»In den 1960er Jahren wurde ›optimale Planung und Kontrolle‹ zum Motto der kybernetischen Bewegung. Sowjetische Kybernetiker gingen davon aus, dass das Hauptproblem der sowjetischen Wirtschaft in den ineffizienten Mechanismen der Datenerfassung, Informationsverarbeitung und Kontrolle lag. Als Lösung schlugen sie eine auf mathematischer Modellierung und computergestützter Entscheidungsfindung basierende Methode vor. Sie glaubten, dass Computer eine politisch neutrale, ›optimale‹ Lösung hervorbringen würden.«81
»In den späten 1960er Jahren wurden kybernetische Ideen in die Schriften eines führenden Parteitheoretikers, des Philosophen Wiktor Afanassjew, aufgenommen … Afanassjew übernahm Begriffe aus der Cybersprache und begann von ›sozialer Information‹ und ›wissenschaftlicher Steuerung [upravlenie] der Gesellschaft‹ zu sprechen. … Während der frühen Anti‐Kybernetik‐Kampagne hatten sowjetische Kritiker die Kybernetik als ›technokratische Theorie‹ angegriffen. Nun hatte sich die ideologische Einstellung gegenüber den technokratischen Bestrebungen der Kybernetiker völlig gewandelt. 1967 schrieben die Autoren des fünften Bandes von ›Kybernetik – im Dienste des Kommunismus’ voller Stolz, dass »die Auffassung von der Gesellschaft als einem komplexen kybernetischen System mit einem mehrdimensionalen Netzwerk aus direkten und rückgekoppelten Verbindungen und einem Optimierungsmechanismus, der auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet, als wichtigste theoretische Idee der ›Technologie‹ des Gesellschaftsmanagements zunehmend an Ansehen gewinnt’. … Bergs Rat für Kybernetik spielte eine entscheidende Rolle bei der ideologischen Rehabilitierung des Erbes von Aleksei Gastew und anderen sowjetischen Pionieren der [bürgerlichen antikommunistischen Theorie der] ›wissenschaftlichen Management‹-Bewegung der 1920er Jahre.«82
Wie Lenin gesagt hatte, würde eine Herabwürdigung des Marxismus natürlich dazu führen, dass er mehr und mehr durch die bürgerliche Ideologie ersetzt würde.
12. Umschreiben des Marxismus im Dienste der Kybernetik
In der Zeit Chruschtschows wurde die Kybernetik erstmals vollständig rehabilitiert:
Unter der Leitung von A. Berg wurde eine philosophische Sektion gegründet, um »die Kybernetik mit dem dialektischen Materialismus in Einklang zu bringen, indem der dialektische Materialismus an die Kybernetik angepasst wird. Die der Kybernetik treu ergebenen Philosophen haben diese Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt. Zunächst gelang es ihnen, das Konzept der Information in die kanonische Liste der Kategorien des dialektischen Materialismus aufzunehmen.«83
»Die Kybernetik nahm einen prominenten Platz in der grundlegenden fünfbändigen Philosophischen Enzyklopädie ein, die zwischen 1960 und 1970 veröffentlicht wurde. Der Philosoph Aleksandr Spirkin, Leiter der Philosophischen Sektion, war stellvertretender Chefredakteur der Enzyklopädie und sorgte dafür, dass ein elfseitiger Artikel über Kybernetik veröffentlicht wurde. (Der Artikel über Mathematik war nur 6 Seiten lang.) Die Enzyklopädie enthielt auch separate Einträge zu Begriffen wie Regelungstechnik und Informationstheorie und machte sie so zu philosophischen Kategorien. Der Enzyklopädieartikel über Kybernetik spiegelte die neue Dominanz des kybernetischen Diskurses über die alten philosophischen Klischees [das heißt über den Marxismus] wider. Der erste Entwurf, verfasst von Ernst Kolman, stand kybernetischen Behauptungen eher kritisch gegenüber, wurde aber nach einer Diskussion in der Philosophischen Sektion des Rats für Kybernetik entschieden abgelehnt. Kolman betonte die ›qualitativen Unterschiede‹ zwischen Menschen und Maschinen und argumentierte, dass kybernetische Geräte kein Bewusstsein hätten und daher nicht denken könnten. Die Befürworter der Kybernetik wischten solche Formulierungen beiseite … Die neue Version, die schließlich veröffentlicht wurde, setzte der Kybernetik keine philosophischen Grenzen.«84
In der Breschnew‐Ära ging dies sogar noch weiter:
»Afanassjew übersetzte die grundlegenden Funktionsprinzipien der Sowjetregierung schnell in die Cybersprache … Die Regierung, die Kommunistische Partei und andere politische und öffentliche Organisationen bildeten das kontrollierende Subsystem, während die Wirtschaft, die Wissenschaft und andere soziale Aktivitäten das kontrollierte Subsystem bildeten. Die Partei, »das wichtigste Element der wissenschaftlichen Kontrolle der sozialistischen Gesellschaft«, spielte natürlich die Rolle des obersten Kontrolleurs.«85
So reduzierten die Breschnew‐Anhänger sogar den Marxismus auf Kybernetik, die marxistische Theorie von Partei und Staat wurde nun durch bürgerliche Pseudowissenschaft ersetzt!
»Das Parteiprinzip des »demokratischen Zentralismus« zum Beispiel ließe sich leicht als Kontrolle durch Rückkopplung interpretieren.«86
13. Wirtschaftskybernetik
Natürlich wurden auch die Wirtschaftstheorien des westlichen Imperialismus von den Revisionisten studiert und sie experimentierten mit Marktmechanismen. Auch revisionistische Theorien wurden rehabilitiert. Chruschtschow hatte das System der dezentralisierten Regionalplanung geschaffen. Die Kosygin‐Liebermann‐Reformen von 1965 führten die Rentabilität oder das Profitprinzip als Leitlinie für Unternehmen ein (was von Stalin in seinem Werk »Die wirtschaftlichen Probleme des Sozialismus in der UdSSR« ausdrücklich verurteilt worden war). Kybernetiker schlugen auch eine dezentralisierte Planung vor.
»Die Idee der indirekten Zentralisierung, die von [dem Kybernetiker] Viktor Nowoschilow eingeführt wurde, basierte auf einem mathematischen Theorem, das besagt, dass der Gleichgewichtszustand in einem Spiel mit vielen Personen, bei dem es keine Koalition gibt, ein Optimum wäre. Durch die Anwendung der Ergebnisse der Spieltheorie auf die sowjetische Wirtschaft argumentierten die Wirtschaftskybernetiker, dass die Zentralregierung einzelnen Unternehmen keine spezifischen Produktionsquoten auferlegen müsse; stattdessen könne sie ›optimale‹ Preise und Normen für die Investitionseffizienz festlegen und es den einzelnen Unternehmen dann überlassen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn die Kriterien der Wirtschaftsleistung richtig formuliert würden, sollte die unabhängige Tätigkeit einzelner Unternehmen zur Erfüllung des nationalen Plans führen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung argumentierten die Wirtschaftskybernetiker, dass das Ideal der ›optimalen Planung‹ durch eine radikale Dezentralisierung der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung und eine regulierte Nutzung des Marktmechanismus erreicht werden könnte:
›Die Ermittlung eines Optimums kann dezentral erfolgen, das heißt der Gleichgewichtspunkt oder das Optimum kann als Ergebnis eines Informationsaustauschs zwischen Wirtschaftsorganen ermittelt werden, von denen jedes das Optimierungsproblem unabhängig nach seinem eigenen (lokalen) Optimalitätskriterium löst. … Auf diese Weise ist es möglich, den Marktmechanismus für die Organisation des Prozesses der dezentralen Ausarbeitung des optimalen Plans zu nutzen.‹«87
Nowoschilow beschrieb die sowjetische Wirtschaft in kybernetischen Begriffen. So argumentierte er, dass der Marktmechanismus dem Feedback‐Prinzip entspreche:
»Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass die Kybernetik eine Rechtfertigung des Khozraschet [das Profitprinzip] als Ausgleichsfaktor für den Zufall in einer Planwirtschaft darstellt. Eine sozialistische Wirtschaft ist ein sehr kompliziertes System, das einer Vielzahl von Zufallsfaktoren unterliegt und sich nicht im Detail beschreiben lässt. Die Steuerung solcher Systeme ist nur unter der Bedingung möglich, dass es einen Selbstregulator mit Rückkopplung gibt … der Marktmechanismus ist ein solcher Regulierungsmechanismus … Die Detaillierung, Korrektur und Erfüllung des Plans muss durch Khozraschet geregelt werden.«88
Nach Nowoschilow war rationale Planung unmöglich und eine sozialistische Wirtschaft ohne einen gedankenlosen »Selbstregulator« nicht denkbar. Dieser Regulator müsse der Markt sein. Kybernetiker versuchten den Marxismus zu widerlegen, indem sie den Wert als völlig irrelevant für die Preisbildung betrachteten. Dies ist eine antimarxistische Aussage, die der unwissenschaftlichen vulgären Ökonomie entspricht.
»Wirtschaftskybernetiker betonten nachdrücklich ihre Abhängigkeit von ›objektiven‹ Berechnungen und ›objektiven‹ Bewertungen. Im Gegensatz zu ihrem Ansatz zum traditionellen Diskurs der sowjetischen politischen Ökonomie, der mit ideologischen Formeln aus der marxistischen Werttheorie gefüllt war, betonten sie nachdrücklich die diskursive Autonomie der Wirtschaftskybernetik von der politischen Ökonomie: ›[Das marxistische Konzept] Wert und objektive Bewertungen sind zwei völlig verschiedene und nicht miteinander vergleichbare Dinge. Wert ist eine Kategorie der politischen Ökonomie und objektive Bewertungen sind eine algorithmische Formel zur Berechnung von Gleichgewichtspreisen in einem optimalen Plan [Fußnote 82, Kapitel 6]‹.«89
Die Arroganz der Revisionisten zeigte sich darin, dass sie davon ausgingen, die Kybernetik müsse richtig sein. Und da die politische Ökonomie nicht zur Kybernetik passt – umso schlimmer für die politische Ökonomie, sie muss in den Papierkorb geworfen werden. Man bedenke, dass dies von Kantorowitsch vorgebracht wurde, der selbst überhaupt kein Ökonom, sondern Ingenieur war. Gluschkow war ebenfalls kein Wirtschaftsexperte, sondern Mathematiker:
»Auf einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1959 übte Kantorowitsch scharfe Kritik an orthodoxen Ökonomen, indem er behauptete, dass die Unmöglichkeit, ihre Theorien in Cyberspeak zu übersetzen, die Oberflächlichkeit dieser Theorien offensichtlich mache.«90
14. Einige Anmerkungen zu OGAS – dem landesweiten Computernetzwerk
In den 1960er Jahren sprachen sich Kybernetiker für den Aufbau eines landesweiten Computernetzwerks aus, das zur Planung der Wirtschaft genutzt werden könnte. Dies hätte natürlich ihre verzerrte Sicht auf die Planung mit Marktmechanismen bedeutet. Dieses Projekt wurde von allen Kybernetikern unterstützt, aber sein Hauptarchitekt war Gluschkow.
Das Computernetzwerk (bekannt als OGAS) sollte jede Produktionsstätte, jedes Lager und jedes Geschäft mit einem Netzwerk verbinden, das sie mit Rechenzentren verbinden würde. Diese Zentren sollten die Mengen an Produkten und Ressourcen verfolgen und die erforderlichen Berechnungen durchführen. Der Plan scheiterte schließlich an seiner Unpraktikabilität. Er wäre astronomisch teuer geworden. Es gab auch bürokratische Probleme, da verschiedene Regierungsorgane, sowohl zivile als auch militärische, Informationen hätten austauschen und sogar dieselben Computer hätten nutzen müssen.
Im Prinzip ist ein Computernetzwerk für die Wirtschaftsplanung keine schlechte Idee, aber es ist auch kein Allheilmittel oder eine magische Lösung, wie die Kybernetiker behaupteten. Sie glaubten, dass die einzigen Probleme in der revisionistischen Sowjetgesellschaft Probleme der optimalen Organisation seien. Sie glaubten, dass alle Probleme durch Technologie gelöst werden könnten, was zutiefst falsch ist. Die Wahrheit ist, dass 1) die Probleme der revisionistischen Sowjetgesellschaft auch ohne ein solches Computernetzwerk hätten gelöst werden können und 2) ein solches Computernetzwerk allein die Probleme nicht gelöst hätte.
Sehen wir uns einmal an, was genau mit dem Computernetzwerk erreicht werden sollte. »Glushkov gab tatsächlich zu, dass sein Projekt für ein landesweites Netzwerk von Rechenzentren mehr kosten würde als das Raumfahrtprogramm und das Atomprojekt zusammen.«91
Doch wie viel mehr könnte erreicht werden, wenn diese enormen Mittel in andere Projekte fließen würden? Die Kosten des Projekts verhinderten stark seine Fertigstellung, aber wir müssen uns auch fragen, ob das Projekt selbst überhaupt sinnvoll war. Die Idee eines vollständig computergestützten Planungssystems, bei dem jede Fabrik, jedes Unternehmen, jedes Lager und jeder Laden mit Computernetzwerken verbunden ist, klingt sehr gut. Es würde die Effizienz steigern, da die Mitarbeiter nicht mehr so viele Berichte schreiben und keine Berechnungen mehr im Kopf durchführen müssten und der Computer den Mitarbeitern sagen würde, wie sie die Planung von Lieferungen, die Organisation von Bauarbeiten und vieles mehr effizienter gestalten können.
Man muss sich jedoch fragen, ob es bei einer Industrieanlage, die mit Technologie aus den 1930er‑, 1940er‐ oder 1950er‐Jahren arbeitet, wirklich die beste Nutzung der Ressourcen ist, wenn man der Anlage Computer hinzufügt. Eine Verdoppelung des Budgets könnte die in der Schwerindustrie eingesetzte Technologie massiv verbessern. Die Hydraulik wurde verbessert, Kohlekessel wurden eingesetzt, aber nach und nach setzten sich Dieselgeneratoren durch. Elektronik ersetzte Mechanik. Diese Art von Verbesserungen trug dazu bei, dass die sowjetische Wirtschaft in der Nachkriegszeit massiv wuchs, und ermöglichte auch das Wachstum der Produktivkräfte im Westen. Computer hätten die Produktion viel weniger verbessert, aber ihre Kosten wären astronomisch gewesen. Es hätte einfach keinen Sinn ergeben. Nehmen wir einmal an, ein Computer würde die Effizienz um 10 Prozent steigern, sodass wir neun Personen für die Arbeit benötigen, für die zuvor zehn Personen erforderlich waren. Wenn man jeder Kolchose neue, bessere Traktoren zur Verfügung stellen, alte Traktoren reparieren oder Bergleuten neue Bohrmaschinen und Arbeitern neue Bagger zur Verfügung stellen würde, könnten viel mehr Arbeitskräfte viel kostengünstiger »freigesetzt« werden.
In den 1960er Jahren einen Computer zu kaufen, nur damit ein Lager – geschweige denn ein einfacher Laden – seinen Bestand verfolgen konnte, wäre Wahnsinn gewesen, wenn der Computer so viel gekostet hätte, dass wir das nötige Personal einstellen könnten, um den Bestand hundertmal zu überprüfen. Heutzutage ist die Situation anders. Computer und Netzwerke sind günstig, die Löhne sind hoch und es ist schwieriger, die Produktion durch Erfindungen im Bereich schwerer Maschinen zu verbessern. Aber wir sollten unsere moderne Situation nicht auf die 1960er Jahre übertragen.
»Mehrere Pilotprojekte, die auf die Entwicklung kleiner computergestützter Systeme zur Produktionssteuerung und zum Informationsmanagement in einzelnen Fabriken abzielten, waren wenig erfolgreich. Eine ›optimale‹ Steuerung führte zu schlechten Ergebnissen, wenn die Produktionstechnologie veraltet und überholt war, wie es in sowjetischen Fabriken oft der Fall war. In einem metallurgischen Werk in Dneprodzerzhinsk sparte der Einsatz von Computern zur Steuerung eines technologischen Prozesses Minuten, während aufgrund ineffizienter Technologie, fehlerhafter Sensoren und mangelnder Koordination zwischen den Produktionsstufen Stunden verschwendet wurden. Gluschkow gab zu, dass jeder potenzielle Gewinn aus Management‐Informationssystemen auch aufgrund ständiger Versorgungsunterbrechungen und der ineffizienten Organisation der gesamten Branche verloren ging. ›Optimale Planung und Kontrolle‹ wurde zu einer rein mathematischen Abstraktion.«92
Es ist schon komisch, wenn Antikommunisten wie Gerovitch und Revisionisten wie Gluschkow den angeblich schlechten Zustand der sowjetischen Wirtschaft beklagen. Sie sprechen von »alten Maschinen«, womit sie Maschinen meinen, die weniger als 20 Jahre alt sind. In der Schwerindustrie ist es üblich und oft sogar sinnvoll, Maschinen 15 Jahre lang zu nutzen. Sie sprachen von Versorgungsunterbrechungen und schoben alles auf den »Kommunismus«. Aber diese Probleme gab es nie nur in der Sowjetunion. Genau diese Probleme sind Teil der Produktion, eine Tatsache des Lebens, selbst heute noch in den hochtechnisierten kapitalistischen Ländern. Ihre Beschwerden zeigen einfach, wie realitätsfremd diese kybernetischen Utopisten waren.
In der Fabrik, in der ich arbeite, gibt es ständig massive Ineffizienz aufgrund von »menschlichen Fehlern«, aufgrund von nicht rechtzeitig eintreffenden Rohstofflieferungen, aufgrund von Engpässen aufgrund schlechter Planung oder aufgrund von Fehlern, aufgrund von unvorhersehbaren Maschinenausfällen, aufgrund von zu viel beschäftigten Reparaturmitarbeitern, aufgrund von ständigen Problemen mit fehlerhaften Rohstoffen und so weiter und so fort. Und dennoch werden alle Lagerbestände automatisch von Computern erfasst. Ein speziell angefertigtes Computersystem wird für den Einsatz von Reparaturteams verwendet (oft reagieren sie nicht auf das Computersystem, sodass die Arbeiter zu Fuß zu ihrem Büro gehen oder sie telefonisch anrufen müssen). Im besten Fall teilt uns der Computer automatisch mit, wenn uns die Materialien ausgehen – aber das wäre für einen Menschen nicht sehr schwierig. Der Computer verfolgt, wie viele Aufträge noch erfüllt werden müssen, er verfolgt die Produktionsquoten der Arbeiter usw., was eine legitime Hilfe ist, aber nichts Revolutionäres. Das vielleicht Innovativste ist, dass die Computer automatisch Fehlermeldungen von Maschinen im Produktionsprozess verfolgen, die die Manager auf ein Problem in der Produktion hinweisen können. Aber oft funktionieren diese Systeme nicht – oder sie sind völlig überflüssig, weil die Arbeiter selbst das Problem immer sofort erkennen.
Dies soll nicht die Nützlichkeit von Computern schmälern. Computer erfüllen nützliche Funktionen und sollten auch zur Unterstützung der Wirtschaftsplanung eingesetzt werden.
Was wäre also in den 1950er‐ und 1960er‐Jahren in der Sowjetunion der angemessene Einsatz für Computer gewesen? Computer hätten als riesige Rechenmaschinen eingesetzt werden sollen, um die schwierigsten Probleme zu berechnen, die Menschen praktisch nicht lösen konnten. Sie hätten in der Wissenschaft und in allen Bereichen eingesetzt werden sollen, in denen Mathematik benötigt wird. Militärische und wissenschaftliche Computer sollten auf der Grundlage der Bedürfnisse der verschiedenen Institute zugewiesen werden, sodass kleinere Institute ihre eigenen kleineren Computer erhalten könnten oder viele Institute sich einen großen Computer teilen würden. Dies ist in der Tat genau das, was in der späten Stalin‐Ära getan wurde.
Schließlich könnten die automatische Informationserfassung und ‑verarbeitung sowie die Telekommunikation genutzt werden, wenn sie wirtschaftlich tragfähig, das heißt billiger und nützlicher werden. Anstatt zu versuchen, Computer überall zu verbreiten, sollten sie zentralisiert werden, da sie so teuer und knapp waren. Es gab auch viel Raum für Wirtschaftswachstum, selbst ohne Computer. In der späten Stalin‐Ära versuchte die UdSSR, die landwirtschaftlichen Erträge durch Mechanisierung und landwirtschaftliche Praktiken massiv zu steigern, die Industrieproduktion durch den Bau neuer Fabriken, deren Ausstattung mit neuen Maschinen usw. massiv zu steigern und die Bildung durch zahlreiche ehrgeizige Projekte zu verbessern. Für diese notwendigen und äußerst lohnenden Aufgaben (die die Revisionisten nie erfüllten) waren Computer nur sehr begrenzt einsetzbar, aber sie wurden für wissenschaftliche Probleme, militärische ballistische Berechnungen, Wettervorhersagen usw. gut genutzt.
»Gluschkow argumentierte, dass, wenn die Verarbeitung von Wirtschaftsinformationen nicht automatisiert würde, bis Mitte der 1980er Jahre fast die gesamte erwachsene Bevölkerung der Sowjetunion mit Planung, Buchhaltung und Management beschäftigt sein würde.«93
Das ist einfach eine grobe Übertreibung. Es wird auch davon ausgegangen, dass das kybernetische dezentralisierte Planungssystem überhaupt kein Wirtschaftsplan war. In Wirklichkeit beinhaltete der kybernetische »Plan« verstärkte Marktmechanismen.
15. Das Unvermögen der Kybernetiker zu definieren, was ihre »Wissenschaft« überhaupt ist
»Kybernetiker, die danach strebten, andere wissenschaftliche Disziplinen durch ›Kybernetisierung‹ objektiver zu machen, konnten sich jedoch kaum darauf einigen, was Kybernetik genau bedeutet.«94
Kybernetiker konnten sich nicht einmal darauf einigen, was Kybernetik ist. Es wurde immer offensichtlicher, dass diese »Wissenschaft« steril war und in einer Sackgasse steckte. Jahre vergingen, und die Aufgabe, zu erklären, was diese neue »Wissenschaft« war, blieb unerfüllt:
»Die interne Zwietracht unter den mathematischen Kybernetikern wuchs und deutete auf alles andere als eine einheitliche Front hin. Führende sowjetische Kybernetiker definierten das Fachgebiet auf dramatisch unterschiedliche Weise: Kolmogorow kämpfte dafür, Information als Grundlage der Kybernetik zu beanspruchen, während Markow probabilistische Kausalnetzwerke, Liapunow Mengenlehre und Jablonski algebraische Logik bevorzugte. 1958, nur drei Jahre nach ihrem ersten Artikel, veröffentlichten Kitow, Ljapunow und Sobolew einen Artikel, in dem sie vier weitere Definitionen der Kybernetik in der Sowjetunion darlegten und dabei die vorherrschende Untersuchung von ›Regelsystemen‹, Wieners Interesse an ›Steuerung und Kontrolle in Maschinen, lebenden Organismen und der menschlichen Gesellschaft‹, Kolmogorows ›Prozesse der Übertragung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen‹ und Ljapunows Methoden zur Manipulation der ›Struktur von Algorithmen‹.«95
Wie echte Kosmopoliten romantisierten sie den amerikanischen Begründer der Kybernetik und beriefen sich auf ihn als eine Art mythische Autorität. All diese Behauptungen über die Wirksamkeit und Klarheit der Kybernetik waren völlig frei erfunden. Ebenso frei erfunden war der Status von Wiener als Autorität:
»Igor Poletajew, ein führender sowjetischer Informationstheoretiker, … wandte sich 1964 gegen das damals vorherrschende plastische Verständnis der Kybernetik. Er begründete seine Forderung nach disziplinärer Kohärenz mit dem ikonischen und mythisch klaren ausländischen Begründer Norbert Wiener und behauptete, dass »terminologische Ungenauigkeit inakzeptabel ist, da sie zu einer Abkehr von Wiens ursprünglicher Vision führt (und bereits geführt hat).«96
Poletajew fuhr fort: »Die Besonderheit des kybernetischen Themas verschwindet vollständig, und die Kybernetik wird zu einer ›allumfassenden Wissenschaft der Wissenschaften‹, was ihrer wahren Natur widerspricht.«97 In Wirklichkeit ist diese Verwirrung jedoch genau die wahre Natur der Kybernetik.
»Der Mathematiker Nikolai Timofeef‐Ressovsky, ein praktizierender Kybernetiker, hat dasselbe Gefühl einmal in einer leichteren Form ausgedrückt … Er ersetzte das russische Wort für ›Verwirrung‹ oder ›Durcheinander‹ durch den Begriff ›Kybernetik‹.«98
»1961 kam ein sowjetischer Philosoph nach einer Untersuchung der methodischen Probleme der Kybernetik zu dem Schluss, dass … die Kybernetik mit der dialektisch‐materialistischen Philosophie als ihrer natürlichen und notwendigen weltanschaulichen Grundlage verbunden ist. Selbst 1961 und sicherlich noch in den späten 1950er Jahren war dies kaum mehr als ein frommer Wunsch, und erst einige Jahre später wurde mit einer ernsthaften philosophischen Analyse der Kybernetik begonnen. Außerdem hatten die anfänglichen Auseinandersetzungen über die Kybernetik große Meinungsverschiedenheiten über ihr Verhältnis zum dialektischen Materialismus aufgezeigt.«99
Computer und automatische Informationsverarbeitung waren in der Sowjetunion unter Stalin nie kritisiert und immer unterstützt worden. Die Revisionisten schrieben nun jedoch fälschlicherweise der Kybernetik alle Verdienste für die Computertechnologie zu, obwohl diese damit nichts zu tun hatte. Auf diese Weise gaben sie der Kybernetik auf unehrliche Weise den Anschein, praktisch nützlich zu sein und einen gewissen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten.
Gleichzeitig zeigten sie aber auch, dass die Kybernetik überhaupt keine wissenschaftliche Disziplin ist. Obwohl die Kybernetiker nie definieren konnten, was Kybernetik genau ist, war man sich einig, dass es sich um eine Art universelle Theorie handeln sollte, die sich mit Informationen befasst, statt nur eine Theorie der Computerautomatisierung zu sein. Durch die Gleichsetzung mit der Computerautomatisierung wurde die Behauptung, die Kybernetik sei eine neue unabhängige Disziplin mit eigenem Fachgebiet, völlig untergraben:
»Das Interessanteste an der Verwendung des Begriffs Kybernetik ist die Art und Weise, wie er nun Computer und automatische Steuerungssysteme umfasst, die von den Angriffen auf die Kybernetik ausgeschlossen waren. Diese Verwendung bereitete den Befürwortern der Kybernetik zweifellos einige Schwierigkeiten, da sie die Aufmerksamkeit von der allgemeinen Theorie der Steuerungsprozesse ablenkte und auf Computer lenkte. Aber sie war auch von größter Bedeutung, um die Kybernetik zu legitimieren. Denn in der Sowjetunion wurde der praktische Nutzen von Computern immer deutlicher erkannt, und militärische und weltraumtechnische Erfolge wurden von den Befürwortern der Kybernetik als Beweis für den praktischen Wert ihrer Wissenschaft angeführt.«100
»Zweifellos sahen viele sowjetische Wissenschaftler in der Kybernetik und der traditionellen Theorie der Steuerung und Kommunikation eine Verdoppelung der Anstrengungen, da die traditionelle Theorie vor Wieners Eintritt in diesen Bereich bereits gut etabliert war. Sowjetische Philosophen haben bisher weder eine klare Beziehung zwischen Wieners Theorie und den anderen Wissenschaften zu ihrer eigenen Zufriedenheit hergestellt, noch haben sie den Tätigkeitsbereich der Kybernetik klar abgegrenzt.«101
»Der rumänische Gelehrte I. N. Belenescu hat die folgenden Merkmale von Materie in Bewegung herausgearbeitet: (1) jede Bewegung existiert in Zeit und Raum; (2) alle Formen von Bewegung beinhalten die Wechselwirkungen von Dingen und Ereignissen; und (3) alle Formen von Bewegung enthalten in sich selbst Widersprüche und eine Einheit von Widersprüchen sowie eine Einheit von Kontinuität und Nichtkontinuität. Seiner Einschätzung zufolge besaß die Kybernetik nach Wiener keine eigene besondere Form der Bewegung; daher konnte sie nicht als Wissenschaft im gleichen Sinne wie Physik, Chemie oder Biologie behandelt werden. Ukraintsev, der Belenescus Gedankengang konsequent weiterverfolgte, rechnete 1961 nicht damit, dass die Kybernetik neue Entdeckungen machen oder neue Gesetze der bewegten Materie aufstellen würde.«102
In den 1970er Jahren hatte der Kaiser absolut nichts mehr an. Niemand konnte erklären, was Kybernetik überhaupt ist, aber irgendwie beinhaltete sie absolut alles und absolut nichts:
»Die Kybernetik hatte eine nahezu allumfassende Größe erreicht … In den 1970er Jahren hielten scheinbar kaum mehr als ein Name (kibernetika) und ein gemeinsames Interesse an der Computermodellierung dieses lose Flickwerk aus Institutionen, Disziplinen, Fachgebieten und Themen zusammen.«103
In den 1980er Jahren wurde die Kybernetik, die niemand definieren kann und an die sich heute nicht mehr viele Menschen erinnern, verworfen:
»In den 1980er Jahren verlor der Begriff ›Kybernetik‹, der zwar nicht mehr neu war, aber keinen Konsens erzielen konnte, so sehr an Bedeutung, dass er dem Aufstieg seines Nachfolgers »Informatik« weichen musste.«104
Kybernetiker behaupteten, sie würden alles präzise machen, aber in Wirklichkeit war ihr eigenes System unglaublich verwirrend und sinnlos:
»Der Computer wurde zum Symbol für einen neuen Geist des rigorosen Denkens, der logischen Klarheit und der quantitativen Präzision, der in scharfem Kontrast zur vagen und manipulativen Sprache des stalinistischen ideologischen Diskurses [sic] stand … Sowjetische Kybernetiker suchten eine neue Grundlage wissenschaftlicher Objektivität in der Strenge mathematischer Formeln und Computeralgorithmen und in den »präzisen« Konzepten der Kybernetik … Sie stellten ein computerbasiertes kybernetisches Kriterium der Objektivität als offenkundig nicht‐ideologisch, nicht‐philosophisch, nicht‐klassenorientiert und nicht‐parteigebunden vor. Die Kybernetiker strebten danach, computerbasierte Objektivität in die gesamte Familie der Lebens‐ und Sozialwissenschaften zu bringen, indem sie diese Wissenschaften in Cyberspeak übersetzten.«105
Was ist aus den Zielen und Versprechen des kybernetischen Projekts geworden? Es hat sich als völliger Fehlschlag erwiesen.
16. Wie ging alles zu Ende?
Kolman lief zum Westen über, aber dort lief es nicht unbedingt besser – ganz im Gegenteil. Norbert Wiener selbst war vom amerikanischen Militarismus und der Art und Weise, wie seine Ideen genutzt wurden, angewidert. Mit der Zeit wurde er immer pessimistischer. Als einfältiger Liberaler hoffte er auf eine Art »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
Der andere führende amerikanische Kybernetik‐Pionier Claude Shannon schrieb bereits 1956:
»[Die Informationstheorie] wurde vielleicht zu einer Bedeutung aufgeblasen, die über ihre tatsächlichen Errungenschaften hinausgeht. Unsere Kollegen aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, die von der Begeisterung und den neuen Möglichkeiten, die sich für die wissenschaftliche Analyse ergeben, angezogen werden, nutzen diese Ideen für ihre eigenen Probleme. (…) Es wird nur allzu leicht passieren, dass unser etwas künstlicher Wohlstand über Nacht zusammenbricht, wenn klar wird, dass die Verwendung einiger aufregender Wörter wie Information, Entropie und Redundanz nicht alle unsere Probleme löst.«106
»Schließlich zog sich Shannon aus der Öffentlichkeit zurück und weigerte sich, über seine ›Informationstheorie‹ zu sprechen.«107 Viele der Begründer der sowjetischen Kybernetik waren selbst völlig enttäuscht. Liapunow gab seine Position bereits in den 1960er Jahren auf:
»Liapunow begann, sich von der umständlichen Tätigkeit des [Bergschen Kybernetik-]Rats zu distanzieren … Liapunow, der anerkannte ›Vater der sowjetischen Kybernetik‹, lehnte es ab, für die Reihe ›Kybernetik – im Dienste des Kommunismus‹ zu schreiben … Wie ein Memoirenschreiber es ausdrückte, verschwand nach Liapunows Abgang ›das Zentrum, das die Kybernetik vereinte‹.«108
In den 70er Jahren wollte der langjährige Sprachkybernetiker und Strukturalist »Meltschuk … das kybernetische Spiel nicht mehr mitspielen. Er bezeichnete sogar einen seiner eigenen Artikel über die Verbindung zwischen Kybernetik und Linguistik als effekthascherisch und oberflächlich.«109
»Igor Poletaew (ein enger Mitarbeiter von Liapunow und Autor des ersten sowjetischen Buches über Kybernetik), der einst für die Legitimierung der kybernetischen Forschung gekämpft hatte, sagte seinen Freunden in den 1970er Jahren verbittert: ›Jetzt bin ich es, der sagt, dass die Kybernetik eine Pseudowissenschaft ist‹.«110
Verweise
1 Norbert Wiener, Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine, S. 14
2 Norbert Wiener, The Human Use of Human Beings, S. 34
3 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, https://kommunistische-geschichte.de/LeninWerke/LW14.pdf
4 Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Dialektik der Natur«, S. 509 – 520, http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_509.htm
6 Slava Gerovitch, From Newspeak to Cyberspeak: A History of Soviet Cybernetics, S. 2.
7 Ashby, An Introduction to Cybernetics, S. 244.
8 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 87, Hervorhebung vom Verfasser.
9 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 90.
10 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 91.
11 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 94 – 95
12 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 96.
13 Wiener, Cybernetics, S. 132.
14 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 61.
15 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 54 – 55.
16 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 96
17 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 96 – 97.
18 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 97.
19 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 97.
20 Valery Shilov, Reefs of Myths: Towards the History of Cybernetics in the Soviet Union, S. 2.
21 Shilov, S. 2.
22 Ebenda.
23 Ebenda.
24 Ebenda.
25 Ebenda S.3.
26 Loren R. Graham, Science, Philosophy, and Human Behavior in the Soviet Union, S. 272.
27 Schilow, S. 1.
28 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 309.
29 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 131.
30 Slava Gerovitch, Russian Scandals: Soviet Readings of American Cybernetics in the Early Years of the Cold War, S. 563 – 564, https://web.mit.edu/slava/homepage/articles/Gerovitch-Russian-Scandals.pdf
31Ebenda S. 566.
32 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 142).
33 Maxim W. Mikulak, »Cybernetics and Marxism‐Leninism«, S. 454, Slavic Review, S. 450 – 465.
34 Ebenda S. 464.
35 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 310 – 311, Science Studies, 4 (4), 299 – 337. https://doi.org/10.1177/030631277400400401
36 Ebenda S. 311.
37 Ebenda S. 312.
38 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 4.
39 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 5
40Ebenda.
41 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, in: ›Information & Culture‹, Bd. 47, Nr. 2 (2012), S. 153
42 Maxim W. Mikulak, »Cybernetics and Marxism‐Leninism«, Slavic Review, Bd. 24, Nr. 3, September 1965, S. 453.
44 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, in: ›Information & Culture‹, Bd. 47, Nr. 2 (2012), S. 159.
45 Ebenda S. 160.
46 Michael Csizmas und Patrick McNally, ›Cybernetics, Marxism, Jurisprudence, Studies in Soviet Thought‹, Bd. 11, Nr. 2 (1971), S. 90.
47 Slava Gerovitch, »Russian Scandals«, S. 566.
48 Kybernetik in philosophischer Sicht, S. 23, zitiert und übersetzt in Gotthard Günther, Cybernetics and the dialectic Materialism of Marx and Lenin, S. 8.
49 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 173.
50 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 174 – 175.
51 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 181.
52 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 181 – 182.
53 Lenin, »Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus«, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1922/03/streitbar.html
54 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, Information & Culture Vol. 47, No. 2 (2012), S. 164.
55 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 151.
56 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 156.
57 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
58 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
59 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
60 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
61 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 164.
62 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
63 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 8.
64 Michael Csizmas und Patrick McNally, Cybernetics, Marxism, Jurisprudence, S. 94.
65 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 327.
66 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 331.
67David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 312 – 313
68 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 44 – 45.
69 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 46.
70 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 183.
71 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 184.
72 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 186.
73 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 204.
75 Ebenda S. 211.
76 Ebenda S. 212.
77 Ebenda S. 222.
78 Ebenda S. 222/223.
79 Ebenda S. 224.
80 Lenin, Was tun?, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/
81 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 256.
82 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 285.
83 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 258.
84 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 259.
85 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 285.
86 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 286.
87 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 274.
88 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 275.
89 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 275.
90 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 276.
91 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 278.
92 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 278.
93 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 281.
94 Newspeak to Cyberspeak, S. 246.
95 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 166.
96 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 166.
97 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 166.
98 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 166.
99 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 329.
100 David Holloway, »Innovation in Science‐The Case of Cybernetics in the Soviet Union«, S. 318.
101 Maxim W. Mikulak, »Kybernetik und Marxismus‐Leninismus«, S. 457 – 458.
102 Maxim W. Mikulak, »Kybernetik und Marxismus‐Leninismus«, S. 458.
103 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
104 Benjamin Peters, »Normalizing Soviet Cybernetics«, S. 167.
105 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 8.
106 Claude Shannon, »The Bandwagon«, zitiert in Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 98.
107 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 98.
108 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 263.
109 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 281.
110 Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak, S. 289.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung des bei ML‐Theory: A Marxist‐Leninist Blog erschienen englischen Orginals, Hervorhebungen vom Autor
Bild: Die erste russische Ausgabe von Norbert Wieners Cybernetics aus dem Jahr 1958 (Auschnitt, Quelle)
Dass heute eine digitale Papageien‐Nachplappermaschine als »künstliche Intelligenz« bezeichnet wird, sagt schon alles: wir werden für dumm verkauft in einem Ausmaß, der unvorstellbar ist.
Eine Maschine muss immer in ihrem programmierten Rahmen bleiben – nur echte Intelligenz kann darüber hinausgehen