Am 27. November startete die Terrormiliz Hayat Tahrir al‐Shams (HTS) mit direkter Unterstützung der türkischen Armee und der israelischen Luftwaffe sowie indirekter Unterstützung des US‐Imperialismus eine Militäroffensive in Syrien. Sie rückte rasch vor. Am 8. Dezember hatte die HTS die Macht in der syrischen Hauptstadt Damaskus übernommen. Syrien ist seit über einem Jahrzehnt im Norden, Süden und Osten teilweise vom US‐Imperialismus, der Türkei und anderen ultrareaktionären Kräften besetzt; nun ist sogar die Zentralregion mit Unterstützung imperialistischer Mächte unter kommunalistische* faschistische Herrschaft gekommen.
* Zwischenbemerkung der Redaktion: Kommunalismus (englisch communalism) meint im soziopolitischen Kontext das Phänomen, dass sich Menschen vorwiegend über ihre Gruppeninteressen als meist religiös oder ethnisch bestimmte Gruppe definieren. Der Begriff wird vor allem im politischen Umfeld Südasiens benutzt (Wikipedia), von wo die Autoren des Beitrags stammen. Er wird noch mehrmals im Artikel vorkommen, dann wird »comunal« mit »kommunalistisch« übersetzt oder sinngemäß umschrieben.
Die Bedeutung dieser gravierenden Entwicklung wird von allen möglichen politischen Kräften weltweit verzerrt dargestellt. Als wesentlicher Bestandteil dieser Verzerrung wird die Bedeutung dessen, was davor geschah, verzerrt oder ausgelöscht: nämlich, dass das syrische Volk unter der Führung von Baschar al‐Assad 13 Jahre lang Widerstand gegen imperialistische Intervention, Invasion und Besatzung leistete und ein säkulares, unabhängiges Syrien verteidigte. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Geschichte vergessen, untergraben oder verunglimpft wird, auch wenn verschiedene Kräfte heute darauf aus sind, den Status der neuen Machthaber in Syrien zu normalisieren.
Jeden Tag wird eine neue Geschichte in Umlauf gebracht. Es spielt keine Rolle, dass diese Geschichten immer wieder widerlegt werden; sie erfüllen ihren Zweck für die Tage oder sogar Stunden, in denen sie im Umlauf sind: Bashar möchte zu seinem alten Beruf als Augenarzt zurückkehren. Asma al‐Assad möchte sich von Bashar scheiden lassen und nach London zurückkehren. Bashar lehnte Hilfsangebote der Iraner ab; selbst Putin konnte Bashar nicht retten, sofern dieser sich nicht selbst retten wollte. Baschar gab Israel die Koordinaten der syrischen Waffenlager im Austausch für eine sichere Ausreise aus dem Land. »Baschar al‐Assad verließ sein Land so geheimnisvoll, dass einige seiner Mitarbeiter noch Stunden nach seiner Abreise im Palast blieben und auf eine Rede warteten, die nie kam, so der Insider.« Eine Woche nach seiner Abreise veröffentlichte Baschar eine kapitulierende Erklärung, eine Art resignierter Abschied, auf dem Telegram‐Kanal der syrischen Regierung. Und so weiter. Zweifellos sind noch viele weitere Geschichten in der Mache.
All dies, während wir nichts von Bashar selbst gehört haben (es gibt keinen Beweis für die Urheberschaft der Telegram‐Erklärung; außerdem scheint die Erklärung aus dem Kanal entfernt worden zu sein). Die Russen haben zwar erklärt, dass Bashar aus freien Stücken gegangen sei und in Moskau Zuflucht gesucht habe. Den Aussagen der Russen kann man jedoch kaum Glauben schenken. In einer dramatischen Kehrtwende sieht Putin die HTS nun in einem positiven Licht: Er behauptet, sie hätten einen Sinneswandel vollzogen und seien keine Terroristen mehr. Zufälligerweise hoffen die Russen nun, mit dem neuen Regime ein Abkommen über den Erhalt ihres Marinestützpunkts in Syrien zu schließen. Es wäre für die Russen heute unpraktisch, wenn Bashar auf freiem Fuß wäre.
Offen gesagt wissen wir nicht, ob Bashar Syrien freiwillig verlassen hat oder von den Russen entführt wurde, ob er sich jetzt in Freiheit befindet oder gewaltsam festgehalten wird und ob seine Familienangehörigen in Freiheit sind. Kommentatoren, die behaupten, es zu wissen, aber keine Beweise vorbringen, sollte man mit großer Vorsicht begegnen.
Der folgende Artikel befasst sich zunächst mit einigen der Desinformationen, die über Syrien verbreitet werden. Anschließend wird die Frage behandelt: Welche Position sollten wir zu den Entwicklungen in Syrien einnehmen?
Fehlinformationen
Die Standardberichterstattung der Medien über die jüngste Geschichte Syriens folgt einem bewährten Muster. Es wurde bereits für Milosevic in Serbien, Gaddafi in Libyen und viele andere Staats‐ und Regierungschefs verwendet, die der US‐Imperialismus aus dem Weg räumen möchte. Die Zutaten sind bekannt.
- Assad war ein brutaler Diktator, der sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat.
- Er lebte in Opulenz, während sein Volk hungerte. Die Familie Assad häufte ein riesiges Privatvermögen an (Es kursieren Bilder von Assads angeblichen Privatpalästen und Luxusautos).
- Die Assad‐Regierung genoss praktisch keine Unterstützung in der Bevölkerung.
- Assads brutale Unterdrückung der spontanen, friedlichen Proteste von 2011 zwang die Opposition, zu den Waffen zu greifen.
- Syriens Gefängnisse unter Assad waren schreckliche Verliese und Folterkammern, in denen Hunderttausende unschuldiger Andersdenkender eingekerkert waren.
- Die syrische Wirtschaft befindet sich in einem katastrophalen Zustand, da sie »von der Welt abgeschottet« und unter »staatlicher Kontrolle« steht.
- Es war vor allem Russland, dem Iran und der Hisbollah zu verdanken, dass Assad an der Macht bleiben konnte.
- Diejenigen, die jetzt in Damaskus die Macht übernommen haben, sind »syrische Rebellen« oder »Oppositionskräfte«.
- Praktisch die gesamte Bevölkerung feiert den Sturz des Assad‐Regimes (die üblichen Bilder von zertrümmerten Fotos von Baschar al‐Assad und geköpften Statuen seines Vaters Hafez al‐Assad machen die Runde); und so weiter, bis zum Erbrechen.
Diese Desinformation wird routinemäßig von CNN, der BBC, der New York Times und dergleichen verbreitet. Bezeichnenderweise tun dies auch mehrere Kommentatoren, die sich als Alternative zu den Medienkonzernen vermarkten. Ihre Berichte unterscheiden sich in mancher Hinsicht von den Berichten von CNN, BBC und der New York Times. Während beispielsweise CNN, BBC und die New York Times die Einrichtung des HTS feiern, äußern sich diejenigen, die sich als »Alternative« zu den westlichen Medien bezeichnen, kritisch über das HTS. In einem Punkt sind sich jedoch alle einig: der Verunglimpfung von Assad und seiner Herrschaft.
Warum sollte das von Belang sein? Einige Kommentatoren erklären, dass die Ära Assad ein abgeschlossenes Kapitel sei; es habe keinen Sinn mehr, darüber zu diskutieren, sie seien erpicht darauf, weiterzumachen. Das ist jedoch politisch nicht vertretbar, da wir die Gegenwart nur im Zusammenhang mit der Geschichte verstehen können. Darüber hinaus betrachten die Imperialisten und verschiedene Reaktionäre die Vergangenheit nicht als abgeschlossenes Kapitel. Sie schaffen ständig eine falsche Geschichte, um zu rechtfertigen, was sie in der Gegenwart tun. Was Syrien betrifft, so geht es bei dem historischen Urteil über eine Einzelperson, Bashar al‐Assad, nicht nur um den Ruf dieser Person. Die Imperialisten sind sich dessen sehr wohl bewusst.
Durch die Diskreditierung der tatsächlich existierenden Alternative zur Herrschaft der Imperialisten und einheimischen Reaktionäre bereiten solche Kommentare die Menschen mental darauf vor, sich den neuen Herrschern und dem Imperialismus zu unterwerfen. Diese Unterwerfung wird mit Ausdrücken wie »der neuen Regierung Zeit geben«, »sie an ihre Versprechen erinnern« und ähnlichen Ausdrücken ideologischer Entwaffnung versüßt.
Zunächst einmal sollten wir uns von einem Teil der Propaganda lossagen. Es gibt viele, die für solche Entlarvungen besser qualifiziert sind als wir. Außerdem leisten einige seit vielen Jahren heldenhaft diese Arbeit. Dennoch lohnt es sich, einige Punkte zu wiederholen und einige weitere hinzuzufügen, insbesondere da viele Materialien, die eine der imperialistischen Propaganda entgegengesetzte Sichtweise vertreten, im Internet immer schwerer zugänglich sind und immer schwerer zu finden sein werden.
»Kriegsverbrechen«
(1.) Was die angeblichen Kriegsverbrechen Assads betrifft, so nehmen wir als Beispiel nur das am weitesten verbreitete: den Vorwurf, wonach er chemische Waffen eingesetzt habe. Es war die syrische Regierung, die am 19. März 2013 an die Vereinten Nationen schrieb und den Einsatz chemischer Waffen durch terroristische Gruppen gegen die syrische Armee in Khan al Assal am selben Tag zuvor behauptete. Am darauffolgenden Tag, also am 20. März 2013, forderte sie die Vereinten Nationen auf, eine unparteiische Untersuchung des Vorfalls durchzuführen. Erst nach dieser Aufforderung versuchten die Regierungen des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und der USA, diese Anschuldigung ins Gegenteil zu verkehren, indem sie die syrische Regierung des Einsatzes chemischer Waffen beschuldigten.
Die UN‐Mission fand zwar Beweise für den Einsatz chemischer Waffen an fünf Orten, gab jedoch – zweifellos unter starkem politischem Druck – nicht an, wer diese Angriffe durchgeführt hatte. Die Beweise deuten jedoch darauf hin, dass diese Angriffe von terroristischen Gruppen verübt wurden, da an den meisten dieser Orte Soldaten der syrischen Armee Opfer der Angriffe wurden. In den internationalen Medien ist es praktisch unmöglich, diese beiden Tatsachen zu finden, nämlich dass die syrische Regierung zuerst um die Untersuchung gebeten hatte und dass die Opfer syrische Soldaten waren.
Es ist klar, dass die Terrorgruppen über chemische Waffen verfügten. Der mit dem Pulitzer‐Preis ausgezeichnete Enthüllungsjournalist Seymour Hersh (der 1968 das Massaker von My Lai, 2004 die Schrecken von Abu Ghraib und andere wichtige Geschichten aufdeckte) berichtete, dass der US‐Geheimdienst wusste, dass die Al‐Nusra‐Front über Sarin‐Gas verfügte, das Nervengas, das laut UN‐Mission bei den chemischen Angriffen eingesetzt wurde. In einem nachfolgenden Artikel lieferte Hersh Beweise dafür, dass ein Chemiewaffenangriff in Ghouta am 21. August 2013 von den »Rebellen« inszeniert worden war, um einen Vorwand für eine internationale Militärintervention gegen Assad zu schaffen. Doch Hershs Enthüllungen wurden von den großen Medien nicht aufgegriffen.
Am 7. April 2018 behaupteten die »Rebellen«, das Assad‐Regime habe bei einem Chlorgasangriff in Duma in der Nähe von Damaskus 43 Menschen getötet. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich starteten daraufhin umgehend Luftangriffe auf Damaskus als Strafe für den Vorfall in Duma. Die Ergebnisse eines achtköpfigen Teams der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW), das Proben am Standort Duma entnommen hatte, widersprachen jedoch den Behauptungen der USA und deuteten darauf hin, dass das Ereignis von den Oppositionskräften inszeniert worden war. Die oberste Führungsebene der OPCW unterdrückte daraufhin den ursprünglichen Bericht und erstellte eine manipulierte Version, um mit dem Finger auf die Regierung Assad zu zeigen. Als ein Reporter von Newsweek versuchte, die Geschichte des unterdrückten Berichts zu veröffentlichen, wurde dies von leitenden Redakteuren des Magazins blockiert. (Der Reporter kündigte und veröffentlichte ein detailliertes Exposé.)
Assads Reichtum
(2.) Die in den Medien zitierten Schätzungen des Vermögens der Familie Assad stammen vom US‐Außenministerium, das seit 12 Jahren versucht, Assad zu stürzen. Das Außenministerium räumt ein, dass es »schwierig« sei, das Nettovermögen der Familie Assad zu schätzen. Zudem legt es die tatsächlichen Berechnungen nicht im öffentlich zugänglichen Haupttext des Berichts offen, sondern in einem als »geheim« eingestuften Anhang. Aussagen wie »NGO‐Berichte und Medienquellen schätzen, dass Baschar und Asma Assad einen erheblichen Einfluss auf einen Großteil des syrischen Vermögens ausüben« sind äußerst vage. Es scheint, dass auch Asma Assads wohltätige und entwicklungspolitische Aktivitäten als »zunehmender Einfluss auf die syrische Wirtschaft« gewertet werden und dass sie bei der Berechnung ihres Vermögens berücksichtigt werden.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die in den Medien kursierenden Bilder von Assads Wohnsitz authentisch sind, gibt es auf keinem der Fotos Hinweise auf Überfluss. Einige der in den Medien gezeigten Bilder von »Palästen« sind typisch für offizielle Arbeitsbereiche mit Besprechungsräumen, Schreibtischen und Dokumenten. Tatsächlich berichtet die New York Times: »Während Herr al‐Assad für seine offiziellen Geschäfte aus einer Reihe von Palästen auswählen konnte, lebte er mit seiner Frau und seinen drei Kindern in einer vierstöckigen modernistischen Villa, umgeben von Palmen und Springbrunnen, im gehobenen Damaszener Stadtteil al‐Maliki«, wo Nachbarn berichten, dass »Herr al‐Assad und seine Familie ruhig waren«. Und während CNN behauptet, dass die Familie Assad eine Sammlung von Lamborghinis aufgebaut hat, berichteten Einheimische der westlichen Presse, dass die Familie Assad eigentlich gewöhnliche Autos fuhr. Vielleicht, wie die Washington Post behauptet, um »ein bescheidenes Image zu kultivieren«. In dieser Hinsicht scheint er sich sehr von den Präsidenten der meisten Länder, wie denen der USA, zu unterscheiden.
Assads Rückhalt in der Bevölkerung
(3.) In den Medien wird die Assad‐Regierung einhellig als von den Syrern weitgehend verachtet dargestellt. Viele Berichte implizieren, dass Assad, da er dem Alawitentum angehörte, einer kleinen Minderheit in Syrien, von den Sunniten, die die überwältigende Mehrheit darstellen, abgelehnt würde. Diese Annahme, dass Menschen von Natur aus einer bestimmten Gemeinschaft oder Glaubensrichtung angehören, ist jedoch fragwürdig und es ist schwierig, konkrete Beweise für dieses kommunalistische* Sektierertum zu finden. Syrien war lange Zeit eine säkulare Republik und die Menschen wollten eindeutig, dass dies auch so bleibt.
Als Indikator für den Umfang der Unterstützung der Bevölkerung für die Assad‐Regierung lassen wir die hohe Wahlbeteiligung der Syrer bei den von der Regierung abgehaltenen Wahlen außer Acht, da diese von den westlichen Medien als inszeniert dargestellt werden.1 Stattdessen sollten wir uns Informationsquellen ansehen, die pro‐amerikanisch oder Assad‐feindlich sind. Vor dem Krieg lautete die Einschätzung des US‐Außenministeriums:
»Das Assad‐Regime … ist länger an der Macht als jede andere syrische Regierung seit der Unabhängigkeit; sein Überleben ist zum Teil auf den starken Wunsch nach Stabilität und den Erfolg des Regimes zurückzuführen, Gruppen wie religiösen Minderheiten und Kleinbauern einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen.«
Eine Umfrage, die 2012 nach dem Ausbruch des »Aufstands« in Syrien von einer Stiftung in Katar durchgeführt wurde, ergab, dass die meisten Syrer dafür waren, dass Assad sein Amt als Präsident weiter ausübt (zu diesem Zeitpunkt finanzierte Katar, ein enger Verbündeter der USA, den Aufstand bereits). Eine Umfrage unter Syrern, die 2016 von der University of Maryland für das US‐Heimatschutzministerium durchgeführt wurde, ergab ebenfalls, dass die Befragten zwar von großer Not infolge des Krieges berichteten, aber nicht Assad dafür verantwortlich machten, sondern die USA, den IS und die Türkei. Die Mehrheit der Befragten waren Sunniten, aber es gab keinen Unterschied zwischen den Antworten der sunnitischen und nicht‐sunnitischen Befragten.
Im Jahr 2022 beauftragte die Europäische Union das US‐amerikanische Unternehmen Gallup mit der Durchführung einer Umfrage unter Syrern, um die Meinung der Bürger zur EU zu ermitteln. In der Umfrage wurden die Befragten nicht direkt gefragt, was sie von der Assad‐Regierung halten. Wir können ihre Ansichten jedoch indirekt ermitteln, da Russland zu diesem Zeitpunkt Assad unterstützte, während die USA und die Europäische Union versuchten, ihn zu stürzen. Während 52 Prozent Russland als den »engsten Partner« Syriens und als den führenden Geber für Syrien betrachteten, wurden die USA und die EU von einem Prozent oder weniger als solche bezeichnet. Tatsächlich war die Meinung der Befragten über die EU überwiegend negativ, obwohl über eine Million syrische Flüchtlinge in der EU leben. Nur ein Prozent der Befragten betrachtete die Beziehung der EU zu Syrien als gut; zwei Prozent waren der Meinung, dass die EU Syrien wirksame Hilfe geleistet hat. Eine überwältigende Mehrheit der Syrer misstraute der EU, den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga (es wurde keine Frage zu ihrem Vertrauen in die USA gestellt). Die Befragten waren mit ihrem Leben in Syrien äußerst unzufrieden, aber ihre Hauptbeschwerde war die wirtschaftliche Not, mit der sie konfrontiert waren. Da diese Not größtenteils auf die Sanktionen der USA und der EU zurückzuführen war, könnte diese Tatsache ihre Ansichten über die EU geprägt haben; allerdings wurden in der Umfrage keine Fragen zu Sanktionen gestellt.
Eine 2018 durchgeführte Umfrage der in London ansässigen Agentur ORB International (die von einem ehemaligen US‐Außenministerium‐Mitarbeiter gegründet wurde und geleitet wird) ergab, dass die Gegner von Assad, darunter auch die HTS, äußerst unbeliebt sind. Der »Nettowert« der HTS lag bei minus 78 Prozent, sprich sie rangiert in der Unbeliebtheitsskala nur hinter ISIS. Im Vergleich zu allen gegnerischen Kräften scheint Assad ein Vielfaches mehr Unterstützung zu haben. Aus nicht genannten Gründen verteilte ORB seine Stichprobe von 1000 Syrern gleichmäßig auf die von Assad kontrollierten Regionen und die von verschiedenen »Oppositionskräften« kontrollierten Regionen. Dabei wurde festgestellt, dass die Unterstützung für Assad in den von der Regierung kontrollierten Gebieten hoch war, in den von der Opposition kontrollierten Gebieten jedoch niedrig. (In den von der Regierung kontrollierten Gebieten, in denen 2018 der Großteil der syrischen Bevölkerung lebte, waren beispielsweise 68 Prozent der Meinung, dass Assad bei einer allgemeinen Wahl antreten sollte.) Im Gegensatz dazu waren die Oppositionskräfte selbst in den von ihnen kontrollierten Gebieten offensichtlich unbeliebt.2
Man sollte meinen, dass von allen Teilen des syrischen Volkes die syrischen Flüchtlinge am ehesten gegen Assad eingestellt sind. Eine Studie, die auf einer großen, vielfältigen Stichprobe syrischer Flüchtlinge im Libanon basiert, ergab jedoch, dass eine »große Minderheit« von ihnen die Regierung unterstützte; dazu gehörte auch eine »große Zahl sunnitischer Araber«.
Wir sollten klarstellen, dass wir Meinungsumfragen als Methode zum Verständnis der Ansichten der Menschen nicht für sehr aussagekräftig halten. Selbst wenn sie auf unparteiische Weise durchgeführt werden, erfassen sie nicht die Gründe und den Kontext für die Ansichten der Menschen, die nur in der tatsächlichen Begegnung mit den Menschen verstanden werden können. Darüber hinaus bestimmen sie nicht, welche Sache gerecht ist; eine gerechte Sache ist gerecht, unabhängig davon, ob sie bereits die Unterstützung der Mehrheit gewonnen hat oder noch gewinnen muss. Trotz dieser Vorbehalte führen wir die oben genannten Daten an, um zu zeigen, dass selbst solche Meinungsumfragen keine Unterstützung für die Propaganda gegen Assad bieten, sondern vielmehr auf eine weit verbreitete Unterstützung für Assad hinweisen. Und dennoch werden diese Quellen von den Medien systematisch ignoriert.
Der Charakter der Proteste von 2011
(4.) Vielleicht ist es noch entschuldbar, wenn Personen ohne Kenntnis von CIA‐Operationen zu »Regimewechseln« hinsichtlich der Art der »Protestbewegung« in Syrien in die Irre geführt werden. Es ist jedoch nicht entschuldbar, wenn erfahrene Analysten derart in die Irre geführt werden – und noch weniger, wenn sie andere in die Irre führen.
Bei der ersten Protestwelle in Syrien im März 2011 gab es echte Demonstranten mit echten Beschwerden. Die Anwesenheit solcher Elemente ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung für eine Operation zum Regimewechsel; sie verleiht der Operation Glaubwürdigkeit. Von Anfang an waren auch bewaffnete Provokateure zugegen, die die syrische Polizei angriffen. Pater Frans van der Lugt, ein niederländischer Jesuitenpater, der in der syrischen Stadt Homs lebte, schrieb: »Die Protestbewegungen waren von Anfang an nicht rein friedlich. Von Anfang an sah ich bewaffnete Demonstranten, die bei den Protesten mitmarschierten und zuerst auf die Polizei schossen. Sehr oft war die Gewalt der Sicherheitskräfte eine Reaktion auf die brutale Gewalt der bewaffneten Rebellen.« (Pater Frans wurde später von Unbekannten getötet.) Im März 2011 kam es in Daraa zu den ersten Tötungen von Soldaten der syrischen Armee, und im April 2011 weitete sich die Gewalt auf ganz Syrien aus, wobei an verschiedenen Orten mindestens 88 Soldaten getötet wurden.
Der organisierte, keineswegs spontane Charakter der gesamten Operation wird durch die Ereignisse in Jisr ash‐Shughur im Gouvernement Idlib im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei deutlich. Dort begannen die Demonstrationen am 18. März 2011 und hielten bis April an. Im Mai trafen sich Anti‐Assad‐Kräfte in Istanbul. Im selben Monat begannen bewaffnete islamische Milizen einen Aufstand gegen die syrische Regierung, griffen Polizeistationen an, erbeuteten Waffen und brannten Büros der regierenden Baath‐Partei nieder. Im Juni hatten die islamischen Milizen die Kontrolle über die Stadt erlangt.
Nur sehr Naive können sich vorstellen, dass eine friedliche Bewegung sich in so kurzer Zeit in einen vollwertigen bewaffneten Aufstand verwandeln könnte: in der Lage, Polizeistationen anzugreifen und Städte einzunehmen. Solche Aktivitäten erfordern auf jeden Fall eine umfangreiche Planung, Kontingente ausgebildeter Kämpfer und einen stetigen Nachschub an Waffen. Die Versorgung mit Kämpfern, Waffen und Finanzmitteln wurde 2012 durch den Start des umfassenden CIA‐Programms mit dem Codenamen »Timber Sycamore« für die Ausbildung und Bewaffnung von Kräften verstärkt, um Bashar al‐Assad zu stürzen. Die wichtigste dieser Kräfte war die mit Al‐Qaida verbundene Al‐Nusra‐Front (die später ihren Namen in HTS änderte). Timber Sycamore war eine multinationale Operation, bei der die CIA, Saudi‐Arabien, die Türkei, Katar und Jordanien ihre Rollen koordinierten. Ein Teil der Flut von US‐Waffen, darunter Sturmgewehre, Mörser und Panzerfäuste, gelangte in die Hände des Islamischen Staates im Irak und in Syrien (ISIS, auch bekannt als ISIL oder Daesh). ISIS erbeutete auch kampflos US‐Militärfahrzeuge und Panzer. Wie Al‐Nusra wurde ISIS von einem ehemaligen Al‐Qaida‐Agenten angeführt, der ein US‐Gefängnis im Irak verließ, um in Syrien zu kämpfen. Das Aufkommen von ISIS lieferte den USA den Vorwand für eine direkte Invasion Syriens. Im Jahr 2014 startete das Pentagon das Programm »Syrian Train and Equip Program«, das andere syrische Streitkräfte für den Kampf gegen ISIS bewaffnete. Außerdem errichteten die USA selbst eine Militärbasis in Tanf im Süden Syriens, die bis heute besteht.
In Al Tanf sind derzeit 2.000 US‐Soldaten stationiert. Dort befindet sich auch die sogenannte Revolutionäre Kommandoarmee (RCA), eine von den USA organisierte und ausgebildete bewaffnete Gruppe, die auf der Gehaltsliste der USA steht. Ende November 2024, vor dem Vormarsch der HTS, sagten US‐Spezialeinheiten der RCA: »Alles wird sich ändern. Das ist euer Moment.« Es wurden zusätzliche bewaffnete »Militante« herbeigeschafft, um die RCA zu verstärken. Dann, als die HTS nach Süden in Richtung Damaskus vorrückte, rückte die RCA von Al Tanf aus nach Norden vor und besetzt nun etwa ein Fünftel des Landes, einschließlich einiger Gebiete im Norden der Hauptstadt. Zusammen mit den YPG‐Truppen unter US‐Kommando im Osten Syriens kontrollieren die USA wahrscheinlich weit über ein Drittel des Landes direkt.
Was als spontane, in einen »Bürgerkrieg« ausartende Protestbewegung dargestellt wird, war in Wirklichkeit eine Operation zum Regimewechsel. Sie ging sehr schnell von inszenierten Provokationen zu einem Stellvertreterkrieg des Imperialismus über und danach zu einem Stellvertreterkrieg in Kombination mit einer direkten imperialistischen Invasion und Besetzung.
Angesichts des reaktionären und pro‐imperialistischen Charakters der Kräfte auf der »Rebellenseite« stellten selbst Teile und politische Kräfte in Syrien, die echte Beschwerden und Forderungen nach Veränderungen hatten, diese vorerst zurück und schlossen sich der Seite der Assad‐Regierung an. Für diesen Zusammenschluss gibt es einen objektiven Grund, der nichts mit dem persönlichen Charakter Assads oder der Ideologie seiner Partei und Regierung zu tun hat. Angesichts der imperialistischen Invasion und Besetzung stellten Assad und seine Regierung nämlich objektiv den nationalen Widerstand des syrischen Volkes dar. Diese Tatsache war der Schlüssel für die Fähigkeit der Regierung, ihren Widerstand über diesen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten.
Assads Gefängnisse
(5.) Die Behauptungen der Medien über syrische Gefängnisse sind ein Schwindel. Leider sind die westlichen Medien so unfähig, diese zu entlarven, dass sie wiederholt aufgedeckt wurden. Ein weit verbreitetes Bild eines syrischen Gefangenen in einem Tunnel entpuppte sich als KI‐generiert; ein Video eines abgemagerten, angeketteten Mannes stammt nicht aus Syrien, sondern aus einer Museumsausstellung im Vietnam War Remnants Museum; das Interview der CNN-Starreporterin Clarissa Ward mit einem syrischen Gefangenen entpuppte sich als schlecht inszenierte Fälschung; Behauptungen, dass Kinder in unterirdischen Zellen im Saydnaya‐Gefängnis gefangen waren, haben sich als falsch herausgestellt; Videos auf der Website von NBC News, die angeblich »Rebellen bei der Befreiung Dutzender Frauen und Männer aus dem berüchtigten Saydnaya‐Gefängnis in Syrien am 9. Dezember 2024« zeigen, wurden später durch den mysteriösen Hinweis »Wir entschuldigen uns, dieses Video ist abgelaufen« ersetzt; tatsächlich ergab eine vielbeschworene Suche nach unterirdischen Kammern im Saydnaya‐Gefängnis, dass es keine gab. Hätte es Beweise für eine hohe Gefängnispopulation und weit verbreitete Folter gegeben, hätten die Medien einfach Hunderttausende von Gefangenen beim Verlassen der Gefängnisse filmen und einige von ihnen zu diesem Zeitpunkt interviewen können. Es wäre nicht nötig gewesen, Beweise zu erfinden. Wir haben keinen Zweifel daran, dass die Dokumentation über die syrischen Gefängnisse mit der Zeit sorgfältiger erstellt werden wird, aber sie wird dennoch nicht glaubwürdig sein.
Dies steht in krassem Gegensatz zu den umfangreichen Dokumentationen und Videos, die von Mitgliedern der US‐Streitkräfte selbst über Gräueltaten in Gefängnissen angefertigt wurden, die von den USA als militärische Besatzer geführt wurden, wie beispielsweise in Abu Ghraib im Irak. Zwei Jahrzehnte später gibt es weder für die Opfer noch für die Insassen der berüchtigten US‐Einrichtung in Guantanamo Bay eine Wiedergutmachung. Tatsächlich gibt es auch Belege für Folter in den Gefängnissen, die von den neuen Machthabern Syriens, der HTS, geführt werden, seit sie in der Provinz Idlib im Norden seit langem an der Macht sind; aber keine Reporter besuchen die dortigen Gefängnisse.
Natürlich gab es in Assads Syrien – wie in jedem Land – Gefängnisse. Nachrichtenberichten zufolge wurden die Türen dieser Gefängnisse von der HTS jedoch einfach aufgestoßen. Alle Insassen durften ohne jegliches Gerichtsverfahren gehen. Wir werden vielleicht nie erfahren, wie viele Gefangene es zu dieser Zeit tatsächlich gab und aus welchen Gründen sie inhaftiert wurden. Wie in den meisten Ländern dürften auch in den syrischen Gefängnissen Tausende Kriminelle untergebracht gewesen sein: »Die Tatsache, dass die Gefängnistüren einfach weit aufgestoßen wurden, erschwerte das Aufspüren von Insassen und führte dazu, dass echte Kriminelle zusammen mit politischen Gefangenen freigelassen wurden.« Im Fall Syriens dürften sich in den Gefängnissen auch ISIS‐Terroristen befunden haben, die abscheulicher Verbrechen schuldig sind.
Die Wirtschaft unter Assad
(6.) Die syrische Wirtschaft wuchs bis zum Ausbruch des US‐amerikanischen Stellvertreterkriegs in Syrien im Jahr 2011. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ein BIP von 67,5 Milliarden US‐Dollar und ein Pro‐Kopf‐BIP von 2.952 US‐Dollar. Laut Weltbank war Syrien »vor dem Konflikt ein schnell wachsendes Land mit mittlerem Einkommen der unteren Einkommenskategorie (LMIC)«. Der Wert des syrischen Handels (Importe und Exporte) erreichte kurz vor der globalen Finanzkrise von 2008 76,5 Prozent des BIP und lag damit über dem regionalen Durchschnitt. Mehr als 90 Prozent der syrischen Arbeiter arbeiteten außerhalb des eigenen Heims. Entsprechend beschäftigten Familienunternehmen weniger als 10 Prozent der Arbeiter, was auf eine erhebliche Formalisierung der Beschäftigungsverhältnisse hindeutet.
Die Weltbank stellt fest:
»In den zehn Jahren vor Ausbruch des Konflikts hatte Syrien bemerkenswerte Fortschritte bei der Verbesserung der Bildungsergebnisse erzielt. Im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand war Syrien bis 2010 das Land mit den besten Leistungen in der Primar‐ und Sekundarstufe I und gehörte zu den Ländern mit den besten Leistungen im tertiären Bildungsbereich.«
Die Gesundheitsindikatoren hatten sich in den drei Jahrzehnten vor 2011 verbessert. Dabei war die Lebenserwartung um 17 Jahre gestiegen, die Kindersterblichkeit um 86 Prozent gesunken, die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren um 87 Prozent gesunken und die Müttersterblichkeitsrate um 89 Prozent gesunken, und zwar auf ein Niveau, das deutlich unter dem heutigen Niveau Indiens liegt.3 Zu diesem Zeitpunkt waren die öffentlichen Gesundheitsausgaben Syriens, als Prozentsatz des BIP, dreimal so hoch wie die Indiens. Nach dem (zugegebenermaßen zu eng gefassten) Maßstab der Weltbank für »extreme Armut«, gemessen am Anteil der Bevölkerung, der mit weniger als 2,15 US‐Dollar (KKP 2017) pro Kopf und Tag auskommen muss, war »extreme Armut vor dem Konflikt praktisch nicht existent«. Legt man eine höhere Armutsgrenze von 3,65 US‐Dollar pro Kopf und Tag zugrunde, lag die Armut 2010 bei 16 Prozent.
Im Jahr 2011 initiierten die USA und ihre Verbündeten dann einen gewaltsamen Aufstand und einen Stellvertreterkrieg gegen das Assad‐Regime. Sie verhängten auch Sanktionen gegen die syrische Wirtschaft, die zu den härtesten der Welt gehören. Die US‐Sanktionen richten sich auch gegen Dritte, die mit Syrien Geschäfte machen. Sie sind somit eine Art von Kriegsführung das Leben aller Syrer betreffend. Diese Sanktionen wurden verhängt, um das Assad‐Regime für Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen; in Wirklichkeit waren sie jedoch ein schrecklicher Angriff auf das syrische Volk: eine Art Erpressung, mit der es für die Unterstützung der Regierung bestraft wurde.
Seit 2011 hat die syrische Wirtschaft schweren Schaden genommen. Alle vier Säulen der Wirtschaft – Landwirtschaft, Öl, Industrie und Tourismus – wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Da die Staatseinnahmen stark zurückgingen, waren subventionierter Dünger und Diesel nicht mehr verfügbar, sodass die Landwirte ihre Ausgaben drosselten. Die Weizenproduktion im Jahr 2024 wird auf 2 Millionen Tonnen geschätzt, was etwa 47 Prozent unter dem Durchschnitt vor der Krise liegt. Syrien hat sich vom Weizenexporteur zum ‑importeur gewandelt. Vor dem Krieg machte das syrische Öl ein Viertel der Staatseinnahmen, mehr als ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts und den Großteil der Exporteinnahmen aus. Während des Krieges gerieten die ölhaltigen Regionen Syriens erst unter die Kontrolle des IS und dann unter die der USA. US‐Präsident Trump sagte 2019: »Wir behalten [Syriens] Öl. Wir haben das Öl. Das Öl ist sicher. Wir haben nur wegen des Öls Truppen zurückgelassen.« Die syrische Regierung gab im Juni 2024 an, dass sich ihre kumulierten Verluste im Ölsektor aufgrund des Krieges und der Besatzung auf 120 Milliarden US‐Dollar beliefen.
Laut Daten der Weltbank ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Syriens zwischen 2011 und 2022 um 65 Prozent auf nur 23,6 Milliarden US‐Dollar gesunken. Die Bank verwendet jedoch auch eine alternative Methode zur Schätzung des BIP, bei der Daten zu nächtlichem Licht (NTL) verwendet werden, die auf einen noch stärkeren Rückgang um 84 Prozent zwischen 2010 und 2023 hindeuten. Syriens Warenexporte sanken von 8,8 Milliarden US‐Dollar im Jahr 2010 auf eine Milliarde US‐Dollar im Jahr 2023. Der Marktwechselkurs der syrischen Währung fiel zwischen 2011 und 2023 um das 300‐fache gegenüber dem US‐Dollar. Die Inflation stieg steil an. Mehr als zwei Drittel der Haushalte konnten ihre Grundbedürfnisse nicht decken. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung benötigen »humanitäre Hilfe«, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Der Stellvertreterkrieg und die Sanktionen haben zu einer dramatischen Veränderung der Beschäftigungsstruktur in Syrien geführt. Der Anteil der Beschäftigung in Familienunternehmen hat sich mangels geeigneter Arbeitsplätze mehr als vervierfacht. Der Anteil der Industrie an der Beschäftigung hat sich halbiert, derjenige des Dienstleistungssektors ist stark gestiegen, was ebenfalls auf verzweifelte Versuche hindeutet, über die Runden zu kommen.
Laut UNICEF geht fast die Hälfte der schulpflichtigen Kinder in Syrien nicht zur Schule. Ein Drittel der Schulen ist beschädigt, zerstört oder wird derzeit nicht als Schule genutzt. Alle Sterblichkeitsraten sind gestiegen und die Lebenserwartung ist drastisch gesunken. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung leiden laut Weltbank unter »extremer Armut« (<2,15 $ pro Kopf und Tag); bei einem Grenzwert von 3,65 $ sind 69 Prozent der Bevölkerung arm.
Mit 5,2 Millionen syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern, einer weiteren Million in Europa und 6,6 Millionen Binnenvertriebenen innerhalb der syrischen Landesgrenzen haben der Stellvertreterkrieg und die Sanktionen auch eine der größten internationalen und internen Vertreibungen seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht. Das heißt, dass jeder dritte Einwohner Syriens ein Binnenvertriebener ist.
Die USA und ihre Verbündeten haben den Stellvertreterkrieg finanziert; allein die CIA hat jährlich 1 Milliarde US‐Dollar für die »syrischen Oppositionskräfte« bereitgestellt – ihre größte Operation weltweit. Die USA sind auch der Haupttreiber der internationalen Sanktionen gegen Syrien. Somit ist der US‐Imperialismus, nicht die Assad‐Regierung, direkt für beide Aspekte des Krieges gegen Syrien verantwortlich, sprich für den militärischen und den wirtschaftlichen.
Hat Assad nur dank ausländischer Hilfe überlebt?
(7.) Die Unterstützung durch Russland, den Iran und die Hisbollah hat der Assad‐Regierung bei der Verteidigung Syriens im Stellvertreterkrieg sicherlich geholfen. Doch stand Assad eine viel größere und mächtigere Koalition gegenüber, sowohl in finanzieller als auch in militärischer Hinsicht. Diese bestand nicht nur aus einheimischen Reaktionären, sondern auch aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Israel, der Türkei, Saudi‐Arabien, Katar und Jordanien. Wie bereits erwähnt, haben die USA die »Opposition« bewaffnet, ausgebildet und finanziert (auch Frankreich und Großbritannien haben dies getan). Im Jahr 2017 berichtete die Washington Post über eine Schätzung, wonach die von der CIA unterstützten Kämpfer in den vergangenen vier Jahren möglicherweise 100.000 syrische Soldaten und ihre Verbündeten getötet oder verwundet haben. Nach Angaben der Weltbank belief sich die Zahl der syrischen Streitkräfte im Jahr 2010 auf 403.000; im Jahr 2020 waren es 269.000.
Die Anti-Assad-»Freie Syrische Armee« wurde im Juli 2011 in der Türkei unter der Aufsicht des türkischen Geheimdienstes gegründet. Seit 2011 hat die Türkei Teile Syriens besetzt. Sie hat zahlreiche bewaffnete Organisationen, darunter auch ISIS, gegen Assad bewaffnet und unterstützt. Saudi‐Arabien und Katar haben groß angelegte Operationen zur Bewaffnung und Finanzierung terroristischer Organisationen durchgeführt. 2013 berichtete die Financial Times, dass Katar die »Rebellen« in den ersten beiden Kriegsjahren mit mindestens 1 Milliarde US‐Dollar oder sogar »bis zu 3 Milliarden« US‐Dollar finanziert habe. Israel hat in den letzten zehn Jahren Hunderte von Luftangriffen auf Syrien durchgeführt. Auch die USA, Frankreich und Großbritannien haben Luftangriffe auf Syrien durchgeführt.
Auf syrischem Boden wurde die gefürchtetste und mächtigste Terrororganisation der Welt, der IS, mit kaum verhohlener Unterstützung der USA und der Türkei gegründet. Der oberste Anführer des IS, Abu Bakr Baghdadi, schmiedete seine Organisation während seiner Haft im Camp Bucca4 der US‐Armee im Südirak, das zu der einen oder anderen Zeit 100.000 Insassen beherbergte. Laut der Washington Post waren neun Mitglieder des obersten Kommandos des IS im Camp Bucca untergebracht. Zwei US‐Experten schrieben in der New York Times: »Die Gefängnisse wurden zu virtuellen Terroruniversitäten: Die hartgesottenen Radikalen waren die Professoren, die anderen Häftlinge waren die Studenten und die Gefängnisleitung spielte die Rolle des abwesenden Aufsehers.« In Camp Bucca scheint sich das Ziel dieser »Radikalen« von den USA und ihren Verbündeten auf Syrien verlagert zu haben. Die abrupte Schließung von Camp Bucca und die Freilassung seiner Insassen legten den Grundstein für den Aufstand in Syrien zwei Jahre später.
Der von den US‐Verbündeten und den USA selbst großzügig mit Waffen versorgte Aufstieg des IS diente zwei Zwecken: Er band die Streitkräfte von Assad und seinen Verbündeten und lieferte dem US‐Militär einen Vorwand für ein direktes Eingreifen im Namen der Eindämmung der IS‐Bedrohung. Der letztgenannte Vorwand war besonders fadenscheinig. Die Los Angeles Times stellte fest, dass die USA und ihre Verbündeten »nichts unternommen haben, um den Vormarsch der Extremisten auf die historische Stadt [Palmyra] zu verhindern – die bis dahin in den Händen der stark überforderten syrischen Sicherheitskräfte geblieben war«. Tatsächlich, so die Los Angeles Times, habe die Rückeroberung Palmyras durch die syrische Armee »ein Dilemma aufgezeigt: Washington hat sich bemüht, den Kampf gegen den Islamischen Staat als ein Projekt der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten darzustellen. […] [Die USA] haben Schwierigkeiten, die Fortschritte gegen den Islamischen Staat durch Assad und seine Verbündeten, einschließlich der Russen und Iraner, öffentlich zu loben, nachdem sie jahrelang den Sturz Assads gefordert hatten.«
Angesichts der groß angelegten imperialistischen Aggression gegen Syrien hatte die syrische Regierung jedes Recht, ausländische Hilfe zur Abwehr der Aggression zu suchen. Dies kann nicht, wie einige Kommentatoren es versuchen, auf einen Stellvertreterkrieg zwischen »mächtigen regionalen Akteuren« reduziert werden. Damit wird das eigentliche Problem verschleiert. Es war ein Kampf des syrischen Volkes gegen die imperialistische Aggression und zur Verteidigung seiner Souveränität und Freiheit.
Die von außen erhaltene Unterstützung für die Assad‐Regierung kann nicht erklären, wie sie 13 Jahre imperialistischer militärischer und wirtschaftlicher Aggression überstehen konnte. Von Beginn des Krieges an wurden Soldaten der syrischen Armee offen dazu aufgefordert, überzulaufen. Ihnen wurde eine hohe Bezahlung versprochen, tatsächlich liefen einige über. Seit Beginn des Krieges wurden »Rebellenkämpfer« von ausländischen Mächten großzügig bezahlt – mit »frischen 100‐Dollar‐Scheinen«. The Telegraph (Großbritannien) berichtet, dass von den USA unterstützte Kämpfer ein monatliches Gehalt von 400 US‐Dollar bezogen; währenddessen verdienten Soldaten der syrischen Armee Berichten zufolge 15 bis 17 US‐Dollar im Monat. Nichtsdestotrotz hielt die syrische Armee hartnäckig durch. Das plötzliche Versagen der Armee, dem Vormarsch der HTS Widerstand zu leisten, deutet auf Verrat in den obersten Rängen der Armee und der Regierung Assads hin. Die vollständigen Tatsachen sind noch nicht ans Licht gekommen.
Die sich aus allen Bevölkerungsgruppen Syriens zusammensetzende syrische Armee hätte dem mächtigen feindlichen Angriff ohne die Unterstützung des Volkes nicht so lange standhalten können. Die wahre Bedeutung, die wir aus diesen Entwicklungen ziehen müssen, ist, dass ein kleines, militärisch und wirtschaftlich schwaches Land angesichts der Einkreisung des von viel mächtigeren Ländern geführten Krieges, angesichts der schrecklichen – einem Krieg gleichkommenden die Wirtschaft zerstörenden – Sanktionen, die vielleicht mehr Menschenleben forderten als selbst der militärische Konflikt, dreizehn lange Jahre lang der geballten Macht des Imperialismus und der inneren Reaktion widerstehen konnte. Das spricht für die Stärke eines unterdrückten Volkes gegenüber dem Imperialismus. Die Feierlichkeiten der Schakale über die Niederlage und Zerstückelung Syriens sollten uns diese Tatsache nicht vergessen lassen.
Schakale, die die Schakale verachten würden,
Steine, die die trockene Distel beißen und ausspucken würde,
Vipern, die die Vipern verabscheuen würden!
Pablo Neruda, Explico Algunas Cosas
Der Charakter der neuen Herrscher
(8) Wir müssen nicht viel Mühe darauf verwenden, den Charakter der »syrischen Rebellen« oder »Oppositionskräfte« zu diskutieren, die sich in Damaskus an die Macht gebracht haben. Die HTS unterhielt einen Ministaat in Idlib, einer nördlichen, an die Türkei angrenzenden Provinz Syriens. Dort überwachte ein von der Scharia (islamisches Recht) geleiteter religiöser Rat die »Syrische Heilsregierung« (Syrian Salvation Government, SSG). Die SSG richtete eine »Sittenpolizei« ein, die die Geschäfte regulierte, dafür sorgte, dass Frauen konforme religiöse Kleidung trugen, und die Vermischung der Geschlechter im öffentlichen Raum einschränkte. Das Bildungsministerium schrieb eine islamische Kleiderordnung für Schülerinnen und die Trennung der Geschlechter während des gesamten Schulbesuchs vor.
Zu den »syrischen Rebellen« gehören Tadschiken, Usbeken, Kirgisen, Bosnier, Albaner, Nordmazedonier, Kosovaren, Uiguren und andere zentralasiatische und europäische Kämpfer. AP berichtete 2017:
»Seit 2013 sind Tausende Uiguren, eine turksprachige muslimische Minderheit aus Westchina, nach Syrien gereist, um sich bei der uigurischen militanten Gruppe Turkistan Islamic Party ausbilden zu lassen und an der Seite von al‐Qaida zu kämpfen, wobei sie in mehreren Schlachten eine Schlüsselrolle spielten. Die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al‐Assad stehen nun im Kampf mit uigurischen Kämpfern …«
Nach dem Ausbruch des Aufstands in Syrien schlossen sich Hunderte Albaner der Al‐Nusra‐Front (der frühere Name von HTS) an. »Xhemati Alban«, eine Untergruppe von HTS, hat wiederum »Albanian Tactical« gegründet, das sich »auf spezifische militärische Fähigkeiten konzentriert, darunter Scharfschützentraining und Sprengstoff. Außerdem werden auch andere Kämpfer ausgebildet. Dies zeigt eine Entwicklung von reinen Kämpfern hin zu einer strategischen Kraft innerhalb von HTS.«
Unter der Anleitung seiner westlichen Mentoren hat sich Jolani nun einer politischen und sogar körperlichen Umgestaltung unterzogen. Dies soll ihn vorzeigbarer und international akzeptabler machen. Die politische Umgestaltung Jolanis umfasst seine vagen Versprechen, den Minderheiten Syriens Sicherheit zu bieten. Die körperliche Umgestaltung ist auffällig (siehe unten). Fotos von ihm in Militärkleidung erinnern an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Has he reached his final form? pic.twitter.com/NNNu10zU4r
— DD Geopolitics (@DD_Geopolitics) December 23, 2024
Jolani mag weiterhin ein »gemäßigtes« Image in Bezug auf kulturelle und religiöse Aspekte pflegen, auch wenn seine Stellvertreter vor Ort islamischen Fundamentalismus praktizieren. Es gibt bereits Berichte über Gräueltaten gegen Minderheiten.
Unabhängig davon, ob die neuen syrischen Machthaber das islamische Recht durchsetzen oder nicht, deutet die Bilanz von Idlib darauf hin, dass sie jede demokratische Meinungsäußerung des Volkes unterdrücken werden. Was die New York Times charmant als »robuste interne Sicherheitstruppe« der syrischen Heilsregierung bezeichnet, setzte in Idlib eine Schreckensherrschaft durch, die Verhaftungen von Dissidenten, Folter (auch von Frauen) und Massenhinrichtungen beinhaltete. Ein Bericht der Deutschen Welle vom Mai 2024 veranschaulicht das so:
An den meisten Freitagen gehen Männer und Frauen aller Altersgruppen zu Dutzenden, Hunderten und manchmal Tausenden auf die Straße – in Idlib‐Stadt, Binnish, Darat Izza, Jisr al‐Schughour, Atareb – überall im Nordwestens Syriens, wo die islamistisch‐dschihadistischen Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al‐Scham (HTS) das Sagen haben. Auch verschiedene Berufsgruppen wie Lehrer, Polizisten oder Ingenieure haben sich den Protesten angeschlossen, um laut ihre Rechte einzufordern.
Die nordwestliche Region Idlib steht überwiegend unter der Kontrolle der HTS, die wiederum aus der islamistischen al‐Nusra‐Front hervorgegangen ist. Im Laufe der Jahre hat die HTS viele gegnerische Gruppen zerschlagen und ist so zum stärksten Player in der Region geworden, der von Rebellen und Islamisten kontrolliert wird. Und der Unmut der Menschen richtet sich genau gegen diese Gruppierung – und besonders gegen ihren Anführer Abu Mohammed al‐Jolani.
Sie hätten ein ganzes Bündel an Forderungen, sagt Hamed T.: Die Folter in den HTS‐Gefängnissen müsse beendet, die Gefangenen freigelassen werden, es brauche wirtschaftliche und politische Reformen. Am lautesten fordern die Demonstrierenden den Rücktritt des HTS‐Anführers Abu Mohammed al‐Jolani.
Auf der Website »Syrer für Wahrheit und Gerechtigkeit« heißt dazu:
Diese Proteste sind Teil einer Bewegung, die im Februar 2024 in der von HTS regierten Region begann, als eine Familie vom Tod ihres Sohnes durch Folter erfuhr. Am 13. September kam es im Gouvernement Idlib zu einer Welle von Protesten, die in der Stadt Idlib sowie in Killi, Binnish, Qurqania, Kafr Takharim und Armanaz in den ländlichen Gebieten stattfanden. Die Proteste weiteten sich auf Gebiete im westlichen Umland von Aleppo aus. Die HTS griff zu Angriffen auf Demonstranten und Verhaftungen, um die Bewegung zu unterdrücken.
Im Idealfall würden die Imperialisten es begrüßen, wenn die HTS auf bestimmte Aspekte der islamischen Herrschaft verzichten würde, was ihr internationales Image verbessern würde. Dies ist jedoch nicht von wesentlicher Bedeutung; wesentlich ist, dass die HTS die Kontrolle über das Land behält und sich an die allgemeinen strategischen Anforderungen des Imperialismus in der Region hält.
Gemäß der Resolution 2254 des UN‐Sicherheitsrats bleibt die HTS eine terroristische Vereinigung. Die Resolution besagt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, »terroristische Handlungen zu verhindern und zu unterbinden, die speziell von der Al‐Nusra‐Front, später in HTS umbenannt, begangen werden«. Dennoch trafen am 20. Dezember »hochrangige US‐Diplomaten, die am Freitag Damaskus besuchten, mit dem neuen De‐facto‐Herrscher Syriens, Ahmed al‐Sharaa (auch bekannt als Jolani), zusammen und führten ein ›gutes‹ und ›sehr produktives‹ Gespräch mit ihm über den politischen Wandel in Syrien und beschlossen, das Kopfgeld auf ihn aufzuheben.«
Die unmittelbare Reaktion des syrischen Volkes
(9) Nach jeder Regimewechsel‐Operation ist es obligatorisch, eine Menschenmenge an einem zentralen Ort zu versammeln und sie Statuen und Porträts des ehemaligen Führers zerschlagen zu lassen. Dies trägt dazu bei, eine Aura der Zustimmung der Bevölkerung zu schaffen und ersetzt jeden Versuch der Medien, die tatsächlichen Ansichten der Menschen zu ermitteln. So auch im Fall von Syrien.
Diese Demonstrationen haben an sich wenig Bedeutung. Es ist offensichtlich, dass, wenn eine neue Streitmacht die Staatsmacht übernimmt, die sie unterstützenden Teile der Bevölkerung sie auf der Straße begrüßen werden. Dagegen werden diejenigen, die sie ablehnen oder fürchten, zu Hause bleiben. Darüber hinaus werden die plötzlich ihrer Führung beraubten Menschen für eine gewisse Zeit orientierungslos sein. Ihre wahren Gefühle werden sich im Laufe der Zeit zeigen. Dennoch ist es auffällig, dass bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme der HTS in Damaskus Demonstrationen dagegen stattfinden, bei denen einige eine säkulare Herrschaft und Frauenrechte fordern, andere gegen Angriffe auf Alawiten und Christen protestieren. Vergeltungsmaßnahmen der neuen Machthaber könnten folgen: »In Homs, wo die Behörden eine nächtliche Ausgangssperre verhängt haben, berichtete der 42‐jährige Einwohner Hadi von einem ›massiven Einsatz von HTS‐Männern in Gebieten, in denen es Proteste gab‹. ›Es herrscht große Angst‹, sagte er.«
Schließlich wird in den westlichen Medien der Widerstand in Syrien gegen die neuen Machthaber auf die Frage der Ängste und Sorgen der religiösen Minderheiten des Landes reduziert. Jedoch zielt der kommunalistische* Faschismus als Herrschaftsform nicht hauptsächlich auf die Unterdrückung von Minderheiten ab, auch wenn dies ein Nebenprodukt sein kann. Sein Hauptzweck besteht darin, die Herrschaft über die Mehrheit auszuüben. Bisher ist es Syriens kommunalistischen* faschistischen Kräften nicht gelungen, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie konnten die Macht nur durch Verschwörungen und Waffengewalt an sich reißen.
Die Bedeutung der Ereignisse in Syrien
Nachdem wir uns mit der Desinformation befasst haben, wollen wir uns die gesamte Entwicklung und ihre Bedeutung betrachten.
1. Die Situation in Syrien darf nicht auf der Grundlage sachfremder Erwägungen beurteilt werden, sondern auf der Grundlage einer Analyse der objektiven dort herrschenden Widersprüche. Die Regierung von Baschar al‐Assad repräsentierte den Kampf des syrischen Volkes, einer unterdrückten Nation, die ihre Souveränität gegen imperialistische Aggression verteidigte. In einer vom Imperialismus beherrschten Welt verdiente Syrien die Unterstützung und Solidarität der Völker der Welt. (Dies wäre auch dann der Fall gewesen, wenn die verschiedenen von den Imperialisten in Syrien unterstützten terroristischen Organisationen weniger reaktionär und kriminell gewesen wären. Ihr extrem reaktionärer und terroristischer Charakter erhöht lediglich die Dringlichkeit einer solchen Haltung.)
Diese schlichte Wahrheit wurde durch alle möglichen Behauptungen getrübt, von denen einige falsch und andere irrelevant sind. Die daraus resultierende Unzulänglichkeit der weltweiten Solidarität hat zur Erleichterung der imperialistischen Aggression und der Verwüstung der dortigen Bevölkerung beigetragen.
2. Die imperialistische Aggression gegen Syrien, der Sturz seiner legitimen Regierung und die Einsetzung einer terroristischen Junta sind nur die jüngsten Ereignisse in einer langen Reihe. Seit der Invasion des Irak im Jahr 2003 verfolgen die USA konsequent ihre Strategie, die Politik in der Region Westasien radikal umzugestalten. Dies war ein entscheidender Teil des Versuchs, die globale Hegemonie des US‐Imperialismus wiederherzustellen. Diese Strategie, die zunächst im »Project for a New American Century« dargelegt und später in aufeinanderfolgenden Versionen der »National Security Strategy for the USA (NSSUSA)« verankert wurde, zielte darauf ab, die Entstehung von Rivalen unter den Großmächten zu verhindern. Ein wichtiges Ziel dabei war die Verlängerung der Hegemonie des US‐Dollars in der Weltwirtschaft.
Im Zuge der Umsetzung dieser Strategie haben die USA und ihre Verbündeten eine Invasion und einen Regimewechsel im Irak und in Libyen durchgeführt, wiederholt Kriege gegen den Libanon und den Jemen geführt, brutale Sanktionen gegen den Iran verhängt und einen Völkermord in Gaza begangen. Weit über 2 Millionen Menschen sind in diesen Kriegen gestorben (Schätzungen von The Lancet und der UN für den Irak, Jemen und Gaza liegen vor, aber eine vollständige Bilanz ist unter den gegenwärtigen Umständen möglicherweise nicht möglich). Der 13‐jährige Stellvertreterkrieg gegen Syrien ist Teil dieses blutigen Projekts. Neben den direkt durch den Krieg verursachten Todesfällen sind noch viel mehr Menschen durch die durch den Krieg verursachten Bedingungen gestorben.5
Ein relativ neues Element in diesem Projekt ist der Wirtschaftskorridor Indien‐Naher Osten‐Europa (IMEEC), ein vorgeschlagener Transport‐ und Logistikkorridor, der von Indien nach Europa führt und durch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi‐Arabien, Jordanien, Israel und Griechenland verläuft. Die USA, die als Hauptförderer des IMEEC gelten, sind an keinem Punkt des Korridors präsent, außer als Militärmacht. Dieser Korridor würde ein Netz von Schienen‑, Straßen‐ und Hafenverbindungen durch diese Länder erfordern, von denen ein Großteil noch gebaut werden muss. Abgesehen davon, dass mit dem IMEEC ein Konkurrent zur chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) geschaffen werden soll, soll der IMEEC verschiedene Interessen zusammenführen, darunter die der Golfstaaten und Israels. (Diese Verbindungen bestehen bereits, würden aber wirtschaftlich und politisch weiter gestärkt werden.) Einer der Gründe, warum die palästinensischen Widerstandskräfte die Operation vom 7. Oktober starteten, war, die bevorstehende »Normalisierung« der israelischen Besetzung Palästinas durch die arabischen Staaten zu verhindern. Ebenso sind der Völkermord in Gaza und die Errichtung einer faschistischen Diktatur in Syrien Schritte, mit denen der Imperialismus dieses Ziel erneut bekräftigt.
Die neuen Machthaber in Syrien haben sofort erklärt, dass sie keinen Konflikt mit Israel wollen. Sie haben die USA dazu aufgerufen, bessere Beziehungen zu Israel zu ermöglichen. Und das, obwohl Israel nach dem Sturz von Assad 480 Luftangriffe auf Syrien durchgeführt und seine illegale Besetzung syrischen Territoriums stark ausgeweitet hat. Der israelische Premierminister Netanjahu hat sich den Regimewechsel in Damaskus als Verdienst angerechnet und erklärt: »Wir verändern das Gesicht des Nahen Ostens.«
3. Einige Kommentatoren nährten die Hoffnung, dass die Entstehung der BRICS‐Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) durch die Schaffung eines rivalisierenden Pols in der Weltpolitik Möglichkeiten geschaffen habe, die von den Kämpfen der Völker der Dritten Welt genutzt werden könnten. Einige von ihnen gingen noch weiter und deuteten an, dass sich rasch eine neue, nicht hegemoniale Weltordnung herausbilden würde. Tatsächlich umfasst die BRICS‐Gruppe einen großen Teil der Weltbevölkerung und des BIP und hat kürzlich ihre Mitgliedschaft erweitert.
Während vieles von der Art der Kräfte abhängen wird, die sich anschicken die Kämpfe der Dritten Welt anzuführen, ist es schwierig, bisher irgendwelche Vorteile der BRICS für diese Kämpfe zu erkennen. Schon gar nicht aufgrund der positiven Bemühungen der BRICS selbst. Der Völkermord in Gaza schreitet seit über einem Jahr ungehindert voran. Auch hat Russland offensichtlich beim Sturz von Assad kooperiert oder kollaboriert. Ob es im Gegenzug Zugeständnisse in der Ukraine erhalten hat oder seine Militärstützpunkte in Syrien behalten kann, ist für das syrische Volk oder die libanesischen Widerstandskämpfer, deren Landweg in den Iran nun abgeschnitten ist, von geringer Bedeutung. Alle fünf ursprünglichen BRICS‐Länder gaben nach der Machtergreifung durch HTS nahezu identische Erklärungen ab.6
4. Propaganda ist ein wesentlicher Bestandteil der Kriegsführung. Westliche Imperialisten haben in diesem Bereich ständig Neuerungen eingeführt, um ihren Einfluss zu vergrößern. Nehmen wir zum Beispiel ihren bahnbrechenden Einsatz von Social Media in der westlichen Propaganda. Mit der Syrien‐Operation traten die USA in ein neues Zeitalter der Propaganda ein, indem sie beispielsweise Gräueltaten in Videos fälschten, die sofort in der ganzen Welt verbreitet werden konnten. Die Geschwindigkeit, mit der dies nun erreicht werden kann, bedeutet, dass die Korrektur falscher Behauptungen fast irrelevant wird. Bis der Betrug aufgedeckt wird, sind bereits neue reißerische Fälschungen an seine Stelle getreten.
Tatsächlich war Syrien das Thema der vielleicht größten und innovativsten Propagandakampagne des US‐Imperialismus in diesem letzten Jahrzehnt. Zu diesem Zweck wurden neue, angeblich unabhängige Forschungseinrichtungen wie Bellingcat und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte gegründet oder finanziert, deren »Erkenntnisse« von den Medien aufgegriffen wurden. Es wurde die angeblich humanitäre Truppe der Weißhelme aufgestellt, die in Wirklichkeit als verlängerter Arm der Gemeindefaschisten fungierte und einen Strom von Propaganda produzierte. Der Welt wurde die absurde Geschichte eines siebenjährigen syrischen Mädchens namens Bana Alabed aus Aleppo verkauft, das angeblich jeden Tag auf Englisch über seine Leiden unter Assads Bombenangriffen twitterte. Bilder eines anderen syrischen Kindes wurden manipuliert und gegen den Willen der Familie verbreitet, um die Assad‐Regierung anzugreifen.
Bezeichnenderweise wurden in dieser Propaganda viele westliche »linke« Elemente verwendet. Die USA haben gelernt, Propaganda zu erstellen und zu verbreiten, die sich speziell an Antiimperialisten richtet, um die Opposition zu verwirren und zu entwaffnen. So wurde den Unterstützern der palästinensischen Sache erzählt, dass Syrien ein Feind der Palästinenser sei. Den Gegnern des Neoliberalismus wurde erzählt, dass Assad ein Neoliberaler sei und dass die Opposition gegen ihn aufgrund seiner neoliberalen Reformen entstanden sei. Pazifisten wurde erzählt, dass Assad unter seiner zivilisierten Fassade ein blutrünstiger militärischer Massenmörder sei; und so weiter. Westliche Künstler stellten die Terroristen in preisgekrönten Bestsellern liebevoll als revolutionäre Aktivisten dar. Als kurdische Streitkräfte, die unter dem Kommando und dem Schutz der USA kämpften, eine Region namens Rojava im Nordosten Syriens kontrollierten, wurde dies als befreite Zone dargestellt, und junge amerikanische Anarchisten reisten dorthin, um Guerilla‐Tourismus zu betreiben. Auf diese Weise haben verschiedene Elemente der sogenannten »Linken« auf die eine oder andere Weise dem westlichen Imperialismus in Syrien ihren Einfluss verliehen.
5. Schließlich lässt sich nicht abstreiten, dass die Region in einer sehr düsteren Lage steckt. Die herausragendsten Anführer des Widerstands wurden ermordet. Die syrische Führung, die 13 Jahre lang einen Kampf gegen die imperialistische Aggression geführt hatte, verschwand plötzlich von der Bildfläche. Der Völkermord in Gaza geht weiter.
Unterdrückung hat jedoch im Laufe der Geschichte immer wieder Widerstand hervorgerufen. Schließlich ertragen die Völker alles und sind die Quelle aller Kämpfe. Das arabische Volk hat eine revolutionäre Geschichte, die es mit jeder anderen aufnehmen kann. Der Kampf der Palästinenser, der Libanesen, der Iraker und so vieler anderer wurde niedergeschlagen und flammte immer wieder auf. Die Massen in der gesamten Region haben diese Entwicklungen beobachtet. Wann und in welcher Form sie sich wieder erheben werden, um organisiert und kollektiv zu handeln, können wir nicht sagen; aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Anmerkungen
1 Die westlichen Medien taten ihr Bestes, um die massive Wahlbeteiligung von 73 Prozent bei den direkten Mehrparteien‐Präsidentschaftswahlen in Syrien im Jahr 2014 zu ignorieren. Die Menge der Wähler war so groß, dass die Wahlzeit um fünf Stunden verlängert werden musste. Der in Katar ansässige Fernsehsender Al Jazeera, der Assad feindlich gesinnt ist, berichtete, dass eine große Anzahl syrischer Flüchtlinge im Libanon in der syrischen Botschaft zur Wahl erschienen: »Es war eine Parade von Syrern, die ihren umkämpften Präsidenten Bashar al‐Assad feierten und ihm ihre Unterstützung im Kampf gegen den Aufstand, der vor drei Jahren ausbrach, zusicherten.« ›Minuten nach Bekanntgabe der Ergebnisse‹, so ein weiterer Bericht von Al Jazeera, «gingen die Menschen in Damaskus auf die Straße, um zu feiern.«
2 Zwar erhielt kein einziger Akteur eine positive Nettobewertung (die Bewertungen ergeben sich aus der Addition positiver und negativer Einschätzungen), doch die unbeliebtesten waren ISIS (-94 Prozent), HTS/Nusra (-78 Prozent), die Syrian Democratic Forces (-55 Prozent) und YPG/Kurden (-53 Prozent). In dieser düsteren Szene erhielt Assad die geringste negative Bewertung (-16 Prozent). Die Ergebnisse scheinen zu bestätigen, dass das syrische Volk den Säkularismus schätzt und die Kräfte, die sektiererischen Hass verbreiten, am meisten verabscheut.
3 Mazen Kherallah, Tayeb Alahfez, Zaher Sahloul, Khaldoun Dia Eddin, Ghyath Jamil, «Health care in Syria before and during the crisis”, Avicenna Journal of Medicine, July‐September 2012. doi:10.4103/2231 – 0770.102275
4 Baghdadi wurde 2004 von den US‐Streitkräften festgenommen und im selben Jahr wieder freigelassen. Laut einem ehemaligen US‐Kommandeur des Lagers wurde er 2005 erneut in Bucca inhaftiert und blieb dort bis 2009, als Hunderte von Insassen freigelassen wurden und das Lager abrupt geschlossen wurde. Während seiner Haft wurde er zum Vorsitzenden des Mujahideen Shura Council ernannt, der in Islamischer Staat Irak (ISI) umbenannt wurde. 2013 nahm der ISI seine Tätigkeit in Syrien auf und änderte seinen Namen in Islamischer Staat Irak und die Levante (ISIL), auch übersetzt als Islamischer Staat Irak und Syrien (ISIS). Abu Mohammad al‐Jolani, der Anführer von HTS, war früher ebenfalls im Camp Bucca und in anderen US‐amerikanischen Gefangenenlagern im Irak inhaftiert. Seine Freilassung fiel mit der »syrischen Revolution« im Jahr 2011 zusammen. Die New York Times berichtet, dass Jolani 2011 »die Ideologie aufgab, dass sich seine Gruppe auf die Anstiftung eines globalen Dschihad gegen den Westen konzentrieren sollte. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, Syrien von den Assads zu befreien …« ↑
5 Laut der WHO stieg die Lebenserwartung bei der Geburt in Syrien von 71,1 Jahren im Jahr 2000 auf 73,8 Jahre im Jahr 2010; dann sank sie auf 59,2 Jahre im Jahr 2017. Zu diesem Zeitpunkt wendete sich das Blatt und die Assad‐Regierung begann, die Kontrolle über das Land zurückzugewinnen. Danach stieg die Lebenserwartung im Jahr 2021 wieder auf 72,4 Jahre, was immer noch unter dem Wert von 2010 liegt. Das heißt, die Sterblichkeitsrate stieg in den Jahren 2011 – 2017 stark an und fiel dann in den Jahren des relativen Friedens danach wieder.
6 China: »Wir hoffen, dass die relevanten Parteien eine politische Lösung finden werden, um die Stabilität und Ordnung in Syrien im langfristigen und grundlegenden Interesse des syrischen Volkes wiederherzustellen.« Brasilien: »Brasilien unterstützt die Bemühungen um eine politische und verhandelte Lösung des Konflikts in Syrien, die die Souveränität und territoriale Integrität des Landes respektiert.« Russland: »Unserer Ansicht nach führt der Weg zu einer nachhaltigen Normalisierung der Lage in der Arabischen Republik Syrien über die Aufnahme eines inklusiven innersyrischen Dialogs, der darauf abzielt, einen nationalen Konsens zu erreichen und einen umfassenden politischen Lösungsprozess im Einklang mit den in der Resolution 2254 des UN‐Sicherheitsrats dargelegten Grundprinzipien voranzutreiben.« Indien: »Wir betonen, dass alle Parteien auf die Wahrung der Einheit, Souveränität und territorialen Integrität Syriens hinarbeiten müssen. Wir befürworten einen friedlichen und inklusiven politischen Prozess unter syrischer Führung, der die Interessen und Bestrebungen aller Teile der syrischen Gesellschaft respektiert. Südafrika: »In diesem Zusammenhang unterstützt Südafrika die Bemühungen des UN‐Generalsekretärs Antonio Guterres, durch seinen Sondergesandten Geir O. Pederson auf einen ›geordneten Übergang‹ hinzuarbeiten. Wir hoffen, dass das syrische Volk bald einen inklusiven und von Syrien geführten Dialog beginnt, der zu einem friedlichen Übergang führt und den Weg für eine nachhaltige politische Lösung ebnet, die den Willen des syrischen Volkes widerspiegelt.» Vergleichen Sie dies mit der Erklärung der Ansarallah‐Regierung des Jemen: »Solidarität mit Syrien und dem syrischen Volk gegen die israelisch‐zionistische Aggression«. In ähnlicher Weise brachte die venezolanische Regierung am 3. Dezember ihre Solidarität mit der syrischen Regierung und Assad zum Ausdruck, verurteilte »alle Feindseligkeiten gegen das Volk der Arabischen Republik Syrien, die von Terroristen unter der Führung von Hayat Tahrir al‐Sham verübt wurden«, und forderte »ein sofortiges Ende der Unterstützung der angreifenden Truppen der Assad‐Regierung durch die westlichen Großmächte und das Netanjahu‐Regime«.
Übersetzt aus dem Englischen. Im letzten Kapitel wurde die Nummerierung von der MagMa-Redaktion eingefügt statt der Strichliste im Original.
Bild: Montage aus Syrienflagge von Kaufdex (Pixabay) und Schakal Harshana Weragama (Pixabay)