Wer hat wen verraten? Sonia rätselt über Syrien

(Hinter und unter den wirklichen oder angeblichen »Verratenen«)

Unsere Antwort an eine Genossin

Eine Genossin schrieb an uns:

»In der Familie haben wir den Tag damit verbracht, darüber zu reden und zu spekulieren. Vor allem über den Verrat Russlands und des Irans. Es fiel uns auf, dass sie bis vor einem ›Moment‹ in Katar zusammen mit der Türkei und den Marodeuren vom Golf über das Schicksal Syriens diskutierten. Ohne Syrien. Die Frage ist: Haben sie Syrien verkauft, um von der Türkei (und den arabischen Marodeuren) eine Gegenleistung zu erhalten? Ich denke, das werden wir bald herausfinden. Früher habe ich mich geärgert, wenn die Leute sagten, Politik sei eine schmutzige Angelegenheit, aber je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass sie auf hohem Niveau dem Verbrechen sehr ähnlich ist. Und diejenigen, die wie Assad, Milosevic und Gaddafi keine Kriminellen sind, sind dazu bestimmt, Opfer zu werden.«

Mit freundlichen Grüßen, Sonia

Unsere Antwort:

Wir sind der Meinung, dass es notwendig ist über das Thema »Verrat« nachzudenken (den man sich jetzt gegenseitig vorwirft).

Unserer Meinung nach ist die Frage, die diesem »Verrat« zugrunde liegt und über die genau nachgedacht werden muss, der Klassencharakter aller aktuellen Richtungen des antiimperialistischen Kampfes.

Der antiimperialistische Kampf befindet sich derzeit in den Händen von »national‐​patriotischen bürgerlichen« Richtungen (die sich voneinander unterscheiden, weil der Kapitalismus und der russische Staat sich vom iranischen Staat unterscheiden und so weiter).

Warnung: Die aktuellen Richtungen des Kampfes als »bürgerlich‐​patriotisch« zu bezeichnen, bedeutet nicht sie zu beleidigen oder abzuqualifizieren. Es bedeutet, ihren genauen Charakter festzustellen.

Nehmen wir den Fall der russischen Gegenreaktion auf den westlichen imperialistischen Druck (die am 24. Februar 2022 eine Gegenreaktion auf den Angriff, der Beleidigung war).

Die Frage: Ist Putin (die russische patriotische Bourgeoisie) inkonsequent im Kampf gegen den Westen? Wir antworten grundsätzlich mit Nein!

Er ist konsequent im Kampf gegen die Hegemonialmacht als patriotischer bürgerlicher Führer, der in erster Linie die Interessen seines Staates, seines Kapitalismus, seines Heimatlandes im Auge hat. Interessen, die sich vielleicht nicht mit denen der verbündeten Staaten decken, die ebenfalls vom Hegemon unterdrückt werden, da es sich um bürgerliche Staaten, kapitalistische Staaten (einschließlich China) handelt, von denen jeder sein eigenes nationales Interesse hat, das er vorrangig verteidigen muss.

Unserer Meinung nach gibt es eine unüberwindbare (oder sehr schwer zu überwindende) Grenze bei den »antiimperialistischen« Aktionen, von denen wir sprechen: nämlich diejenige, die Massen und insbesondere die Arbeiterklasse in einem Zustand der Passivität zu halten.

Die aktive Mobilisierung der Massen im antiimperialistischen Kampf (was auch eine interne Mobilisierung gegen die verschiedenen bürgerlichen Schichten innerhalb des Landes bedeutet, zum Beispiel in Russland die Beseitigung von Elementen, die untrennbar mit dem kapitalistischen Handel verbunden sind, wie der Präsident der Russischen Nationalbank und andere Haie …) ist absolut keine Waffe, auf die man vom Standpunkt des bürgerlich‐​patriotischen Putin aus zurückgreifen kann.

Die »wunderbare« Waffe, die Oreschnik und andere »Juwelen« sorgen dafür, »die Dinge zu regeln« … anders als durch die »Mobilisierung der Massen«, antworten Putin und alle anderen antiimperialistischen »Realisten«. Unserer Meinung nach gibt es bei »antiimperialistischen« Aktionen staatsbürgerlich‐​patriotischer Natur immer eine weitere unüberwindbare (oder sehr schwer zu überwindende) Grenze: Man »versenkt den Schlag« nicht, man greift nicht bis zu dem Punkt an, an dem man der Hegemonialmacht (dem hegemonialen Machtblock) den Gnadenstoß versetzt, weil man den daraus folgenden weltweiten Zusammenbruch der gesamten Struktur des Weltkapitalismus wie die Pest fürchtet – einer Struktur, mit der auch die vom Imperialismus zerschlagenen und ihn herausfordernden Staaten verbunden und Teil davon sind.

Daraus folgt zum Beispiel, dass wir im Krieg gegen die NATO in der Ukraine nicht »die Kugel versenken«, wie wir es aus rein militärischer Sicht könnten (und wir müssen auf die Infanterie tschetschenischer Milizen, Wagner‐​Söldner und nordkoreanischer Soldaten zurückgreifen, um eine interne Massenmobilisierung, sprich einen totalen Krieg gegen den Imperialismus zu vermeiden); in Syrien intervenieren wir nicht angesichts der ständigen, ununterbrochenen israelischen Luftangriffe, wir träumen nicht davon, die amerikanischen Besatzungsstützpunkte anzugreifen und sie aus dem Land zu vertreiben, und so weiter. Stattdessen: Verhandlungen, Kompromissfindung, Realpolitik und … BRICS.

Ein Beispiel, das vielleicht deutlich genug macht, was wir meinen. Der arme Donbass‐​Kommandant Mozgovoj, der 2015 getötet wurde. Er war der Chef der »Priznak‐​Brigade«, die die Ukraine befreien wollte, indem sie an den vernünftigen Teil des ukrainischen Volkes appellierte, für einen Volksaufstand, der die unanständige Kiewer Machtmarionette des Westens, die auch ein Dieb und Unterdrücker ist, hinwegfegen könnte.

Aber die Aktion des armen Kommandanten Mozgovoj wurde nicht gut aufgenommen. Weder von den Machthabern der separatistischen Republiken noch von Moskau. Warum wurde sie nicht »gerne gesehen«? Weil die »antiimperialistische« Linie der bürgerlich‐​patriotischen Bourgeoisie vorschreibt, dass das gemeine Volk, vor allem die arbeitenden Menschen, zu schweigen haben. Im Donbass, in der Ukraine, in Russland … »Wir kümmern uns darum«, die Armee kümmert sich darum, der Staat kümmert sich darum, zwischenstaatliche Bündnisse kümmern sich darum, die Realpolitik kümmert sich darum. In diesem Sinne ist Putin (die patriotische Bourgeoisie) im Grunde genommen konsequent.

Der Krieg in der Ukraine, der ein Krieg gegen die NATO ist, wird übrigens, was im russischen Fall sehr wichtig ist, als eine »Spezielle Militäroperation« dargestellt. Das heißt, er gibt vor, den Imperialismus zu zähmen, ohne zum totalen und heiligen Krieg gegen ihn greifen zu müssen.

»Wir werden uns darum kümmern«, sagt Oreschnik, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Und in der Zwischenzeit ist nach den Meldungen der Agenturen (wenn sie nicht schwindeln) die Butter in Moskau innerhalb eines Jahres um 30 Prozent und die Kartoffeln um 70 Prozent teurer geworden!

Aber die prorussischen Souveränisten auf der ganzen Welt rühmen sich mit den großartigen Ergebnissen der russischen Wirtschaft, die den Sanktionen und Embargos trotzt: Das russische BIP ist um … gestiegen und so weiter.

Aber: Kann das imperialistische Monster gezähmt und geschlagen werden, ohne auf die Mobilisierung der Massen zurückzugreifen – und wir sagen –, ohne auf ihren revolutionären Aufstand zurückzugreifen? Putin und die anderen sagen ja. Wir (sic!) … sagen Nein.

Was den armen Kommandeur Mozgovoj betrifft, der sich der Illusion hingab, er könne einen nationalen und sozialen Befreiungskrieg führen (nichts Revolutionäres, Internationalistisches, um es klar zu sagen), vielleicht mit der Unterstützung der bürgerlichen Patrioten Moskaus und des Donbass: Diejenigen, die in russischen Angelegenheiten gut informiert sind (wir sind es nicht), sagen, dass er von Prigoschins Truppen getötet wurde (und nicht von den ukrainischen Sicherheitsdiensten, wie die offizielle Version lautet). Was Prigoschin ein paar Jahre später bekanntlich zum Verhängnis wurde, weil er … »Inkonsequenz« und »Verrat« (und zwar »Verrat«) an der Spitze der russischen Armee was die Durchführung des Krieges, pardon: der »Spezialoperation« begangen hat …

Und ja, wie Sie sagen: Politik auf höchster Ebene ist eine schmutzige, dreckige Sache. Aber was in dieser Welt ist das nicht? Für uns stellt sich nicht die Frage nach der »Moral«/Ethik oder »ideeller Reinheit«, die nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist. Die Frage ist eine Frage der Klasse. Nirgendwo auf der Welt gibt es heute eine wirklich revolutionäre, reale Klassenorganisation. Das hängt mit der jahrzehntelangen Verdunkelung des Klassenkampfes durch das Proletariat in den Metropolen zusammen. Wir schematisieren auf das Äußerste.

In dieser objektiven Situation müssen wir tun, was wir können.

Tatsache ist, dass wir in gewisser Weise von den Aktionen der »antiimperialistischen« staatsbürgerlich‐​patriotischen Führungen abhängig sind, die das sind, was sie sind. Wir müssen (sogar zu Gott beten, dass sie im Feld sind; dass ein Putin, ein Khamenei dort sind … ) uns wünschen, dass ihr Gegensatz zur Hegemonialmacht so radikal wie möglich ist (und so einheitlich wie möglich auf der Ebene der koordinierten bürgerlich‐​patriotisch‐​staatlichen Aktion), so kohärent wie möglich, auch von ihrem eigenen bürgerlich‐​patriotisch‐​staatlichen Standpunkt aus.

Hier zu Hause, unter unseren gegenwärtigen schmerzhaften und unglücklichen Bedingungen, dürfen wir das Feld des antiimperialistischen Kampfes nicht verlassen, wir müssen jedoch unbedingt unsere organisatorische und politische Unabhängigkeit bewahren, das heißt uns nicht in den Dienst und zum Verkauf einer etablierten Macht, eines Staatsapparates stellen. Und wir müssen keinerlei Skrupel haben, die Missetaten und manchmal sogar die Verbrechen der gleichen patriotisch‐​bürgerlichen Führungen anzuprangern, die die Hegemonialmacht des kollektiven Westens herausfordern.

Ein Beispiel: Die bösartige und bestialische ZeroCovid‐​Politik der chinesischen »Genossen« musste als das Ungeheuerliche angeprangert und angegriffen werden, das sie war. Das haben – im Guten wie im Schlechten – nur wenige von uns getan.

Es gäbe natürlich noch viel mehr zu sagen, dies ist unserer Meinung nach einfach die Grundlage für die Erklärung des tatsächlichen oder angeblichen »Verrats«.

Einen ganz lieben Gruß!

Nucleo Comunista Internazionalista

Dieser Brief ist im dritten Kapitel des Dossiers (PDF) zu finden, das der Nucleo Comunista Internazionalista uns zukommen ließ

Bild: Blatt der gemeinen Hasel (wikimedia commons)

http://​www​.nucleocom​.org/

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