Ich bin mir dessen bewusst, dass eine »konservative« Haltung in der Abtreibungsfrage unter westlichen Kommunisten wütende Reaktionen hervorrufen wird, schließlich sind die meisten von ihnen vom Liberalismus durchdrungen. Die KP (vormals KO‐Göttingen) hat jedoch eine Stellungnahme gepostet, in welcher sie sich für ein »Recht auf Abtreibung« ausspricht.
Die KP schreibt zwar: »Erst wenn die Arbeiterklasse ihren eigenen Staat, nämlich den sozialistischen Staat hat, werden die Rechte, die wir uns erkämpft haben, sicher sein. Wenn die Wirtschaft nicht mehr danach agiert, was am profitabelsten ist und der Staat nicht mehr dazu dient, den Profit zu sichern.«1 Das ist aber die einzige Erwähnung einer wirklich sozialistischen Zielsetzung im gesamten Statement. Der restliche Inhalt ist im Wesen liberal. Allein die Formulierung »Recht auf Schwangerschaftsabbrüche« ist offensichtlich an die kürzliche Verfassungsänderung in Frankreich angelehnt.2
Dass die Abtreibung als eine »Lösung« präsentiert wird zur Verhinderung von Kinderarmut erinnert mehr an Malthus als an Marx. Malthus behauptete schließlich, dass Armut dadurch entstehe, dass die Bevölkerung schneller wachsen würde, als die Produktionskapazitäten für Nahrungsmittel.3 Engels polemisierte seinerzeit schon dagegen, indem er Malthus’ falsche Modellierung auf die Spitze trieb und meinte, dass die Welt dann schon mit einem Menschen »überbevölkert« wäre.4 Vielleicht ist es auch zu viel der Polemik gegen die KP, wenn man ihr offen Neomalthusianismus unterstellt (Maurice Thorez unterstellte dies offen Ärzten, die Abtreibungen befürworten5). Vielleicht wäre es passender, ihnen zu unterstellen, dass sie den »Gebärstreik« wieder hoffähig machen wollen.
Rosa Luxemburg polemisierte ihrerzeit gegen den »Gebärstreik«. Sie fragte am 22. August 1913 auf einer Versammlung: »Glauben Sie durch den Gebärstreik das Los eines einzigen Arbeiters zu verbessern?«6 Die Antwort darauf lautete natürlich: Nein. Sie schloss ihre Rede wie folgt:
»›Es gibt hienieden Brot genug für alle Menschenkinder!‹, sagt Heine, und dieses Ideal in die Wirklichkeit umzusetzen, dazu helfen keine kleinen Mittelchen, sondern nur der klare Weg des politischen und wirtschaftlichen Klassenkampfes. Jeder Versuch, von diesem Wege abzulenken, muß bekämpft werden mit aller Energie als ein reaktionärer Versuch, die Massen zu verdummen.«7
Die KP lenkt von diesem Kampf ab. Anstatt Verbesserungen für arme Familien zu fordern, rät sie armen Müttern zur Abtreibung. Welch eine Verkehrung der Zielsetzung!
Bei Clara Zetkin tauchten in ihren Schriften konkrete Verbesserungen für das Leben der Mütter auf, aber nicht Abtreibung als Thema. Stattdessen findet sich, dass sie mit Lenin zusammen die Verbesserung der Lage der Mütter besprach.8 Warum wohl?
Schließlich könnte man auch Lenin anführen, der Ines Armand für ihre geplante Broschüre zur »Freiheit der Liebe« dafür kritisierte, dass unter diesem Begriff unter anderem die »Freiheit vom Kinderkriegen«9 verstanden werden könnte, bei welcher es sich um eine »bürgerliche Forderung«10 handeln würde. Damit hat Lenin recht. Daran kann man auch ersehen, wie viel Verbürgerlichung in der kommunistischen Bewegung Einzug gefunden hat – vor allem unter Studenten und Akademikern.
Ludwig Büchner schreibt in Kraft und Stoff über die Illusion, dass Gesetze und Moralvorschriften Ewigkeitswert besitzen würden:
»Scheint uns dennoch auf den ersten Anblick etwas Festes oder Unverrückbares darin zu liegen, so liegt die Schuld hiervon in der bestimmten Form jener gesetzlichen Vorschriften, welche die menschliche Gesellschaft zu ihrer Selbsterhaltung notwendig erachtet und nach und nach erfahrungsgemäß festgestellt hat. Aber auch diese Vorschriften sind äußerst schwankend nach Verhältnis äußerer Umstände, verschiedener Zeiten und Ansichten. Die Tötung einer ungebornen Frucht schien den Römern eine nicht im geringsten gegen die Moral verstoßende Sache; heute hat man dafür strenge Strafen. Eine Menge Dinge, welche die Sitte heute als abscheulich brandmarkt, fand man früher ganz in der Ordnung usw. Erziehung, Lehre, Beispiel machen uns Tag für Tag mit diesen Vorschriften bekannt und verleiten uns, an ein angeborenes Sittengesetz zu glauben, dessen einzelne Bestandteile sich bei näherer Betrachtung als Paragraphen des Strafgesetzbuchs erweisen.«11
Auf den ersten Blick könnte man dadurch auch für die Abtreibungen argumentieren, da Gesetze und Moral ja nicht in Stein gemeißelt sind. Dabei würde aber missachtet werden, dass man dieselbe Logik eben auch gegen Abtreibungen hervorbringen kann. Ist dieses Zitat also unnötig? Nein. Es zeigt eher, dass die Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen axiomatischen Grundsätzen gesellschaftlicher Moralwerte und ‑normen ausgegangen ist und ausgehen wird.
Die KP scheint davon auszugehen, dass der Mensch nicht mehr ist als ein bloßer »Zellklumpen«, zumindest als Fötus. Das Problem dabei ist, dass das Leben mit der Befruchtung der Eizelle beginnt. Wäre dem nicht so, würde aus der Eizelle nicht später ein Mensch erwachsen können. Natürlich kann man argumentieren, dass ein Fötus noch kein Bewusstsein besitzen würde. Geht man diese Logik aber konsequent zu Ende, dann müsste es auch in Ordnung sein, Menschen zu töten, die das Bewusstsein verloren haben (schließlich schlachtet man auch Tiere, nachdem man sie durch Betäubung bewusstlos gemacht hat). Hier gibt es keine »wissenschaftlich korrekte« Sichtweise, sondern es handelt sich um eine anthropologische Frage und der gesellschaftliche Umgang mit dieser. Die antifeministische Komponente der Abtreibungsbefürwortung erkennt die KP nicht. Vielleicht, weil sie den sozialistischen Humanismus verworfen hat?
Um dieses ethische Problem zu umschiffen bestreiten Abtreibungsbefürworter im Prinzip, dass es sich bei einem Fötus um einen entwickelnden Menschen handelt. Manche wollen das Problem »verwissenschaftlichen«. Das Problem dabei ist, dass die ganze Debatte nicht »rein wissenschaftlich« geführt werden kann, da es keine »wissenschaftliche Notwendigkeit« für Abtreibungen gibt. Es ist ein gesellschaftliches Problem und eine ethische Frage, ob es in Ordnung ist, den eigenen Nachwuchs zu töten (schließlich geschieht das im Tierreich unter gewissen Umständen auch) oder ob man eine andere Lösung zum Umgang mit dem Problem sucht.
Abgesehen von einigen revisionistischen Kräften in der KPD der 20er Jahre12 gab es über die Jahrzehnte keine große Bewegung für die Legalisierung von Abtreibungen in der deutschen Arbeiterbewegung. Bis dann unter Erich Honecker 1972 Abtreibungen in der DDR als »Schwangerschaftsunterbrechung« legalisiert worden sind. Das war ein Einknicken vor liberalen Kräften, schließlich brachte dies nur mit sich, dass in der DDR jedes dritte Kind abgetrieben wurde.13 Kann es im Interesse der Arbeiterklasse sein, ihresgleichen zu töten? Natürlich nicht!
Der KP ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: »Es ist Fakt, dass der Schutz der Mutter einen Schwangerschaftsabbruch manchmal unausweichlich macht.«14 Medizinischen Ausnahmen ist auf jeden Fall zuzustimmen. Über rechtliche Ausnahmen, zum Beispiel bei einer Vergewaltigung, lässt sich ebenfalls reden. Diese Ausnahmen werden oft dafür missbraucht, um eine generelle Legalisierung der Abtreibung gewissermaßen »moralisch erpressen« zu wollen. Die Zahlen stehen aber nicht auf deren Seite. In Deutschland hat sich die Zahl der Abtreibungen in den vergangenen Jahren bei etwa 100.000 pro Jahr eingependelt. Davon sind lediglich vier Prozent(!) aufgrund »medizinischer oder kriminologischer Indikationen« erfolgt.15 Das heißt, dass über 95 Prozent der Abtreibungen in Deutschland aus anderen Gründen erfolgen – etwa aus sogenannten »Lifestyle‐Gründen«. An der schieren Menge erkennt man auch, dass die Abtreibungen in Deutschland zwar de jure nicht legal sind, aber de facto. Dass die KP hier einen wichtigen »Kampf« sieht, dem sie auch in der Zwischenzeit weitere Beiträge gewidmet hat16 zeugt eher von Inhaltsleere. Genauso inhaltsleer ist das Statement der KP im Hinblick auf Verhütung: Sie findet gar keine Erwähnung. Dabei wäre es doch wichtig und richtig, auf Verhütung zu setzen.
Die KP versucht offensichtlich im »links«liberalen Spektrum zu fischen, weil sie zu glauben scheinen, dass diese weniger bürgerlich wären als Konservative. Da irren sie sich aber gewaltig. Die Liberalen befürworten Abtreibung, weil ihnen das Schicksal der Menschen gleichgültig ist. Ihnen ist die soziale Lage und die demographische Lage gleichermaßen gleichgültig. Das ist von Liberalen nicht anders zu erwarten, der Bourgeoisie und ihren Lakaien liegt nichts am Leben der Werktätigen. Dass eine selbsternannte Kommunistische Partei aber in ihren Chor einstimmt und versucht, Nuancen zu finden, in denen sie sich von den anderen Liberalen unterscheidet, ist beschämend. Letztlich wird die KP von den Liberalen kein bisschen mehr Unterstützung erhalten und im Gegenzug dazu humanistisch gesinnte Werktätige abstoßen.
»Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht,
Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht!«17
Verweise
1 https://kommunistischepartei.de/allgemein/der-mangel-an-koerperlicher-selbstbestimmung-ein-systemisches-problem/
2 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/frankreich-abtreibung-verfassung-102.html
3 Vgl. Thomas Robert Malthus »Das Bevölkerungsgesetz«, Matthes & Seitz, Berlin 2022, S. 30/31.
4 Vgl. Friedrich Engels »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« (1844) In: Karl Marx/Friedrich Engels »Werke«, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 518.
5 Vgl. Maurice Thorez »Tagebuch 1952 – 1964«, Edition UZ, Essen 2024, S. 191/192.
6 »Gebärstreik?« (22. August 1913) In: Rosa Luxemburg »Gesammelte Werke«, Bd. 7.2, Karl Dietz Verlag, Berlin 2017, S. 769.
7 Ebenda, S. 770.
8 Siehe bspw.: »Erinnerungen an Lenin« (1924/1925) In: Clara Zetkin »Ausgewählte Reden und Schriften«, Bd. III, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 151.
9 Brief an Ines Armand (17. Januar 1915) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 35, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 155.
10 Ebenda, S. 156.
11 http://www.zeno.org/Philosophie/M/B ProzentC3 ProzentBCchner,+Ludwig/Kraft+und+Stoff/Der+freie+Wille
12 https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/p62-1296 Dieses berühmte Plakat von Käthe Kollwitz dürfte für diese Strömung wohl das Sinnbild sein.
13 https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/gesundheit/weltweit-erster-staat-schwangerschaftsabbruch-legal-selbstbestimmung-frau-100.html
14 https://kommunistischepartei.de/allgemein/der-mangel-an-koerperlicher-selbstbestimmung-ein-systemisches-problem/
15 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/232/umfrage/anzahl-der-schwangerschaftsabbrueche-in-deutschland/
16 https://kommunistischepartei.de/aktuelles/reaktionaere-lebensschuetzer-provozieren-an-der-uni-schafft-den-massenselbstschutz/ z.B. dieser
17 Louis Fürnberg »Lied der Partei« (1949)
Zuerst erschienen in Die Rote Front
Bild: Sowjetisches Plakat 1925 (wikimedia commons). Übersetzung des Textes oben: »Fehlgeburten, die von Hebammen oder Volksheilern herbeigeführt werden, verstümmeln nicht nur die Frau, sondern führen oft auch zum Tod.« Bildunterschrift für das obere linke Bild: »Besuch bei der Volkshebamme« Bild oben rechts: »Folgen einer Fehlgeburt« Unteres Bild: »Tod durch Fehlgeburt« Text unten links: »Jede Fehlgeburt ist schädlich.« Text unten rechts: »Jede Volks‐ oder Berufshebamme, die eine Fehlgeburt herbeiführt, begeht ein Verbrechen.«
Schwangerschaftsunterbrechung schon mal als Kindermord zu bezeichnen geht gar nicht.
Die Unterbrechung der Schwangerschaft muss in erster Linie eine Entscheidung der Frau bleiben. Wer sich für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzt kommt da nicht umhin dieses anzuerkennen, die Gesellschaft kann nur frei sein wenn die Knechtung eines seiner Geschlechter nicht stattfindet.
Die Gesellschaft hat die Pflicht die Grundlage zu schaffen das evt. ungewollte Schwangerschaften nicht entstehen durch das bereitstellen entsprechender Verhütungsmittel.
Gerade Kommunisten sollen sich in dieser Frage aktiv für die Frauen einsetzen.
Danke für diesen – mutigen – Artikel!
Ja, menschliches Leben muss von Anfang an und ohne Vorbedingungen geschützt werden.
Ansonsten verkommt der Lebensschutz aller Menschen zur reinen Willkür. Denn wer soll dann künftig entscheiden (dürfen), welches Leben, ab wann, unter welchen Bedingungen schützenswert ist?
Abtreibung ist eine billige Lösung (und für die Frauen eine schmerzhafte Entscheidung, oft auch mit Langzeitfolgen) und lenkt ab von der Notwendigkeit, alles dafür zu tun, um Frauen, Kindern und Familien einen Lebensraum zu ermöglichen, in dem sie sich optimal entfalten können.