Anfang dieses Jahres entdeckte die Redaktion der Gewerkschaftszeitschrift express1 »Antisemitismus unter Kolleg:innen«, und zwar speziell beim Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg. Dieser hatte auf seinen Webseiten einen Gastbeitrag veröffentlicht, der das Vorgehen der israelischen Regierung bzw. ihrer Streitkräfte in Gaza als »Völkermord« bezeichnet und mit dem »Nationalsozialismus« in Verbindung bringt. Die express‐Redaktion fand den Beitrag antisemitisch und kündigte ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Joure Fixe auf.
Wie immer in solchen Fällen machte ich mich umgehend im Gastbeitrag auf die Suche nach Antisemitismus. Ich fand so einiges, das mir nicht passte; zum Beispiel eine unkritische Übernahme der Selbstbezeichnung des deutschen Faschismus: »Nationalsozialismus« – als ginge es um eine Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln und nicht um dessen Rettung. (Das lockte damalige Scheinlinke an. Heutzutage lockt sie anderes an.)
Aber Antisemitismus? Den fand ich nirgends.
Dafür konnte es nur einen Grund geben: Mit meinem Nichtantisemitismus stimmte etwas nicht!
Nach monatelanger Anstrengung gelang es mir, das in Ordnung zu bringen und aus dem Sumpf des falschen Nichtantisemitismus, der eigentlich antisemitisch ist, herauszufinden.
Damit andere es leichter haben und auch aus Sorge, der Antisemitismus könnte ebenso wachsen wie die unvermeidlichen Kollateralschäden der Selbstverteidigung Israels, habe ich eine Anleitung geschrieben.
Sie besteht aus 5 Teilen:
- Der vorliegende erste und einfachste Teil ist für diejenigen gedacht, die bombensicher nichtantisemitische Verbindungen nicht-»nationalsozialistischer« Geschehnisse mit dem »Nationalsozialismus« (NS) hinbekommen wollen, durch die sie mit einer korrekten politischen Haltung und einem fundierten Geschichtsbewusstsein glänzen können. Dazu sind bloß drei Regeln zu befolgen!
- Teile 2 bis 4 erläutern, was zur Entwicklung einer nichtantisemitischen Grundhaltung zu denken ist. Diese Angelegenheit ist leider dermaßen kompliziert, dass sie in drei Teile gegliedert werden musste: Teil 2 behandelt die Nation und Nationalidentität, Teil 3 behandelt Religion, Volk, Demokratie und Moral, und Teil 4 Semitismus als Nichtgegenteil des Antisemitismus sowie den Holocaust als Kernelement einer nichtantisemitischen Politkultur.
- Da einige Antisemitismus‐Gefährdete an der Komplexität einer nichtantisemitischen Grundhaltung scheitern könnten, bietet Teil 5 eine Notlösung an: den Pseudo‐Nichtantisemitismus, mit dem sie in jedem Fall besser dastehen werden als mit Falsch‐ oder gar Nicht‑Nichtantisemitismus, also Antisemitismus.
Los geht’s!
So bekommst du bombensicher nichtantisemische NS‐Verbindungen hin!
NS‐Verbindungungen beinhalten normalerweise Täterschafts‐ und Opferschaftszuweisungen. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen, die einander (natürlich nur rein theoretisch) überlappen können:
(A) solche mit »Jüdischem« in einer Täterrolle
(B) solche mit »Jüdischem« in einer Opferrolle.
Zur Verdeutlichung einige Beispiele für NS‐Verbindungen, die als antisemitisch und nichtantisemitisch einzustufen sind (Hyperlinks verweisen auf Praxisfälle):
Antisemitisch | Nichtantisemitisch |
(A‑1) Vorgehen der israelischen Regierung in den »besetzten Gebieten« ← Ghettoisierung, V‑Wort → NS
(B‑2) Beteiligung der deutschen Bundeswehr am Krieg gegen Jugoslawien ← militärischer Ost‐Vorstoß → NS (B‑3) Selbstkennzeichnung mRNA‐Unbehandelter mit »Judenstern« ← Diskriminierung, Gewaltbereitschaft, Staats‐ und Medienhetze → NS |
(B‑4) Vorgehen der Regierung Milošević 1998/99 im Kosovo ← Völkermord, KZ → NS
(B‑5) Geheimtreffen Rechter zur Förderung einer rassistischen Auswanderungspolitik ← Wannseekonferenz → NS (B‑6) Tod, Verletzung, Verschleppung durch die Hamas ← Judenverfolgung → NS |
Entscheidend an den Pfeilverbindungen → und ← ist die Assoziation mit dem NS überhaupt. Welcher Art diese Verbindungen sind, ist nicht so wichtig, erkennbar unter anderem daran, dass Antisemitismus‐Befunde häufig das Wort »vergleichen« mit dem Wort »gleichsetzen« gleich setzen.
Verbindungen der Gruppe A sind leicht als antisemitisch identifizierbar, da »Jüdisches« nicht in eine Täterrolle gehört. Bei Verbindungen der Gruppe B scheint die Unterscheidung zwischen »antisemitisch« und »nichtantisemitisch« schwieriger zu sein. Zwei häufige Erklärungen für den Antisemitismus solcher Verbindungen lauten: Die Verbindung verharmlost den NS und/oder die Verbindung beinhaltet eine Täter/Opfer‐Umkehr.
Antisemitismus‐Gefährdete könnten hier zum Beispiel fragen: Weshalb sollte A‑1 den NS verharmlosen und B‑4 nicht? Oder: Hat die deutsche Regierung in B‑3 nicht eine größere Anzahl von Tötungen zu verantworten als die Rechten in B‑5? Antisemitismus‐Gefährdete könnten zudem versucht sein, über Einzelheiten zu diskutieren und etwa fragen: Was hat in A‑1 die israelische Regierung mit »Jüdischem« zu tun? Oder: Betrifft in B‑6 der Hamas‐TerrorE2 speziell Jüdinnen oder allgemein Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig Teil einer kolonialen Besatzungsmacht sind? Gäbe es die Hamas bei zum Beispiel christlich‐italienischer Kolonialgewalt nicht? Oder: Was könnten in der NS‐Verbindung B‑3, die laut Amadeu Antonio Stiftung eine Täter/Opfer‐Umkehrung repräsentiert, mRNA‐Unbehandelte mit NS‐Täterinnen zu tun haben, wenn sie US‐Amerikanerinnen sind?
Solche Fragen führen unweigerlich zu Verwirrungen! Sie sind gefährliche Stolperfallen, die den antisemitischen Charakter antisemitischer NS‐Verbindungen verschleiern!
Schauen wir uns die Tabelle oben weniger genau an! Was haben die Einträge in der linken Spalte gemeinsam, das sie von den Einträgen in der rechten Spalte unterscheidet?
An dieser Stelle solltest du zur Erzielung eines nachhaltigen Lerneffekts eine Lesepause einlegen und scharf nachdenken. … – … – …
Du hast es sicher erkannt! Sowohl die mehrheitlich gewaltbereitenE Palästinenserinnen als auch mRNA‐Unbehandelte bilden eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und sollten entsprechend behandelt werden. Die getöteten Jugoslawinnen und lebendigen krebskranken Ex‐Jugoslawinnen, auf die B‑2 hinweist, haben als unvermeidliche Kollateralschäden vielleicht zwar ein kollaterales Mitgefühl verdient (man ist ja kein Unmensch), jedoch keine Anerkennung, die womöglich noch Geld kosten könnte.
Dagegen verdienen unsere vollumfängliche Anerkennung: die Leiden der Menschen im Kosovo, soweit die serbische Seite sie verursachte; die Leiden nach Deutschland Eingewanderter und Einwanderungswilliger, soweit sie nicht die deutsche Regierung verursacht; und die Leiden der Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft sowie der Gäste und nichtpalästinensischen ArbeitsmigrantinnenE in Israel, soweit sie nicht die israelische Regierung verursacht.
Bei den Täterrollen in NS‐Verbindungen geht es weniger um unser Mitgefühl und die Anerkennung von Leiden als um die Legitimität des Vorgehens. Was legitime Regierungen wie die von Israel und Deutschland tun, ist natürlich immer legitim – wenn vielleicht auch hier und da ein klein wenig übertrieben. Das Gegenteil gilt für mRNA‐Unbehandelte, Milošević und Hamas. Deren Taten sind in keinem Fall legitim, gehen auf ihre Konten nun hohe, vergleichsweise niedrige oder negative Todeszahlen.
Verallgemeinert ergeben sich drei Regeln, deren Einhaltung die Konstruktion bombensicher nichtantisemitischer NS‐Verbindungen gewährleistet:
(Regel 1) Setze in eine Täterrolle nie etwas ein, dem der Mainstream das Eigenschaftswort »jüdisch« zuordnen könnte.
(Regel 2) Setze in eine Täterrolle nur etwas ein, dessen Vorgehen der Mainstream als illegitim betrachtet.
(Regel 3) Setze in eine Opferrolle nur etwas ein, dessen Leiden der Mainstream im konkreten Fall als anerkennungswürdig erachtet.
Das Tolle an diesen Regeln: Zu ihrer Befolgung genügt Fernsehgucken, so dass du weißt, was der Mainstream zu meinen hat! Ein Verständnis dessen, was Antisemitismus ist, brauchst du nicht. Auch ein Verständnis des Faschismus ist weitgehend belanglos, teilweise sogar schädlich, etwa, wenn es sich darum dreht, wie faschistische Propaganda Legitimierbarkeiten für grausame Taten herstellte und Empathieverweigerungen angesichts menschlicher Leiden ermöglichte.
Da die nichtantisemitische Handhabung von NS‐Verbindungen kein Verständnis dessen erfordert, was Nichtantisemitismus ist, trug das Bisherige wenig zur Entwicklung einer nichtantisemitischen Grundhaltung bei. Darum wird es im nächsten Teil dieser Anleitung gehen.
Aber Achtung! Die Entwicklung einer nichtantisemitischen Grundhaltung ist schwierig – dermaßen schwierig, dass sogar Jüdinnen daran scheitern können. Dies zeigte sich beispielsweise an der traurigen Notwendigkeit, dem Berliner Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« das Bankkonto sperren zu müssen, anstatt es zur Deckung entstehender Kosten auflösen zu können, da den israelischen Verteidigungsstreitkräften ungerechtfertigterweise verwehrt wurde, die Häuser zu bombardieren, in denen die Vereinsmitglieder ihr Unwesen treiben. Geistig Ungeduldigen wird daher empfohlen, die nächsten Folgen dieser Anleitung zu ignorieren und auf den letzten, fünften Teil zu warten, der relativ fix und einfach den Pseudo‐Nichtantisemitismus erklären wird.
Fußnoten
1 Wie es der Zufall will, erschien vor ein paar Wochen in der MagMa ein, wie ich finde, sehr wichtiger Beitrag von Wilfried Schwetz zur express, der sich um die Spaltung der linken Gewerkschaftsbewegung in Deutschland vor allem anlässlich der Themen »Ukraine« und »Covid‐19« dreht.
2 Das hochgestellte E warnt vor Sprungzielen, mit denen sich ohne Englischkenntnisse bzw. Übersetzungsdienste nichts anfangen lässt. Die Kenntnis einer Zweitsprache neben Deutsch wirkt bei der Entwicklung einer nichtantisemitischen Grundhaltung aufgrund des Zugangs zu Missinformationen, den man dadurch erhält, eher störend, hilft aber bei der Ausbildung eines soliden Pseudo‐Nichtantisemitismus.
Bild: Palmach‐Soldaten üben den Kapap‐Stabkampf, irgendwann vor 1948, Wikimedia |ספר »הפלמח« הוצאת הקיבוץ המאוחד, und Marineausbildung der Palmach 1944, Wikimedia | Palmach Museum