Wie Israel am 7. Oktober Hunderte seiner eigenen Leute tötete

Vor einem Jahr führten palästinensische Kämpfende unter Führung der Hamas aus dem Gazastreifen heraus eine beispiellose Militäroffensive durch.

Das unmittelbare Ziel bestand darin, den israelischen Armeestützpunkten und militarisierten Siedlungen, die die Einwohnenden des Gazastreifens seit Jahrzehnten belagern und allesamt auf Land gebaut sind, von dem 1948 palästinensische Familien vertrieben wurden, einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

Das weitergehende Ziel bestand darin, einen Status quo zu erschüttern, bei dem Israel, die USA und ihre Verbündeten glaubten, die palästinensische Sache erfolgreich ins Abseits gedrängt zu haben, und den Befreiungskampf wieder in den Vordergrund der Weltöffentlichkeit zu rücken.

Die »Operation Al‐​Aqsa‐​Flut«, wie die Hamas sie nannte, war nach jedem objektiven militärischen Maßstab ein verblüffender Erfolg.

Im israelischen Militärhauptquartier hieß es an diesem Tag, dass »die Gaza‐​Division überwältigt wurde«, wie sich eine hochrangige Quelle später gegenüber israelischen Journalisten erinnerte. »Diese Worte jagen mir immer noch eine Gänsehaut über den Rücken.«

Unter Luftschutz durch bewaffnete Drohnen und Raketenbeschuss, der die Offensive um genau 6:26 Uhr einleitete, unternahmen palästinensische Kämpfende einen Blitzangriff über die Grenzlinie zum Gazastreifen hinweg.

Die Armeestützpunkte wurden für Stunden eingenommen. In einigen der Siedlungen waren noch zwei Tage später palästinensische Bewaffnete präsent. Die militärische Kommunikationsinfrastruktur wurde sofort zerschlagen. Gleichzeitig fanden Angriffe zu Lande, in der Luft und zur See statt. Palästinensische Drohnen zerstörten Panzer, Wachposten und Wachtürme.

Völlig unvorbereitet wurden die meisten Soldat:innen, die die Stützpunkte besetzten, entweder getötet oder als Kriegsgefangene zurück nach Gaza gebracht.

Berichten zufolge wurden 255 Israelis gefangen genommen, darunter Soldat:innen und Zivilpersonen. Seitdem wurden 154 von ihnen freigelassen, die meisten von der Hamas im Rahmen des Gefangenenaustauschs im November.

In der Zahl der freigelassenen Gefangenen sind jedoch auch die Leichen einiger Gefangener enthalten, die zumeist bei israelischen Angriffen auf Gaza getötet wurden. Von den übrigen 101 Gefangenen erklärte Israel 35 offiziell für tot. Die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich viel höher. Viele wurden durch israelische Bombenteppiche getötet, und drei entkommene Gefangene wurden im Dezember von israelischen Bodentruppen in Gaza‐​Stadt erschossen.

In der Operation Al‐​Aqsa‐​Flut konnten bewaffnete palästinensische Gruppen erstmalig in der Geschichte die seit 1948 verlorenen palästinensischen Gebiete zurückerobern, wenn auch nur für kurze Zeit.

Israels Reaktion war ebenfalls beispiellos, wenn nicht in ihrer Art, so doch zweifellos in ihrem Ausmaß: ein unverhüllter Völkermord an der Bevölkerung von Gaza.

Eine »konservative« Schätzung, die von der britischen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet im Juli veröffentlicht wurde, geht davon aus, dass bis zu 186.000 Palästinenser:innen von Israel getötet wurden – fast 10 Prozent der Bevölkerung Gazas.

Nach Angaben der Vereinten Nationen hat Israel 90 Prozent der Menschen in Gaza aus ihren Häusern vertrieben, und etwa ein Viertel aller Strukturen Gazas zerstört.

Die westliche Presse ließ sich von der offiziellen israelischen Desinformation leiten und war schnell mit reißerischer Gräuelpropaganda überschwemmt.

Die Lügen über Vergewaltigungen und enthauptete Babys wurden von der Electronic Intifada und einer kleinen Gruppe anderer unabhängiger Medien rasch entlarvt – oft um den Preis, dass sie von den Mainstream‐​Medien verleumdet und von Social‐​Media‐​Giganten wie YouTube verboten oder zensiert wurden.

Im Versuch, seine militärische und geheimdienstliche Niederlage unter den Teppich zu kehren, versuchte Israel verzweifelt, auch einen anderen großen Skandal zu vertuschen: dass Israel zwischen dem 7. und 9. Oktober 2023 Hunderte seiner eigenen Leute tötete.

Das Regime rechtfertigte dies innerhalb der israelischen Gesellschaft ideologisch mit einem gut etablierten nationalen Mord/​Suizid‐​Pakt, der in Israel als »Hannibal‐​Direktive« bekannt ist.

Die Electronic Intifada präsentiert heute einen umfassenden Überblick darüber, wie Israel während der palästinensischen Offensive so viele der eigenen Leute tötete. Dieser Artikel basiert auf der einjährigen investigativen Berichterstattung der Electronic Intifada sowie umfassenden Beobachtungen und Übersetzungen der hebräischsprachigen israelischen Medien, der unabhängigen Prüfung von Hunderten von Videos, einem kürzlich von der BBC und Paramount+ ausgestrahlten pro‐israelischen Film über den Supernova‐​Rave, offiziellen israelischen Zahlen zu den Toten und einem wenig gelesenen Bericht des UN‐Menschenrechtsrats.

Wir können Folgendes schlussfolgern:

  • Während der Al‐​Aqsa‐​Flut‐​Offensive erweitete Israel die Anwendung seiner mörderischen »Hannibal‐​Direktive«, die verhindern soll, dass Soldat:innen als Kriegsgefangene lebend gefangen genommen werden, indem es viele Menschen der eigenen Zivilbevölkerung tötete.
  • Der Einsatz solcher »Hannibal«-Angriffe wird von einem im Juni veröffentlichten UN‐​Bericht bestätigt.
  • Der Beschuss durch israelische Hubschrauber, Drohnen, Panzer und sogar Bodentruppen wurde absichtlich durchgeführt, um palästinensische Kämpfende daran zu hindern, lebende israelische Gefangene zu nehmen, die gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht werden könnten.
  • Auf Initiative der örtlichen Gaza‐​Division wurde »Hannibal« sofort angewendet: weniger als eine Stunde nach Beginn der palästinensischen Offensive.
  • »Kein einziges Fahrzeug darf nach Gaza zurückkehren«, wurde der Division um 11:22 Uhr befohlen.
  • Am Mittag erging vom Oberkommando des israelischen Militärs (dem so genannten »Gruben«-Hauptquartier tief unter dem israelischen Hakirya‐​Gebäude im Zentrum von Tel Aviv) der unmissverständliche Befehl, die Hannibal‐​Direktive in der gesamten Region anzuwenden, »selbst wenn dies bedeutet, dass das Leben von Zivilpersonen in der Region, einschließlich der Gefangenen, gefährdet oder geschädigt wird«.
  • Die Bombardierung israelischer Gefangener durch Israel geht in Gaza sogar heute noch weiter.
  • Bei einem Treffen mit freigelassenen Gefangenen und deren Familien im Dezember gab der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu, dass sie im Gazastreifen »unter unserem Bombardement« gestanden hätten.
  • Durch »Hannibal«-Einsätze sowie durch unbeabsichtigtes Kreuzfeuer wurden wahrscheinlich Hunderte von Israelis von Israel selbst getötet.
  • Israel war um eine aggressive Vertuschung seiner Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung bemüht.

Die eigenen Leute töten

Wenn sich die Hamas bei der Planung der Operation Al‐​Aqsa‐​Flut verkalkuliert hat, dann vielleicht, weil sie den Wert überschätzte, den die israelischen Verantwortlichen dem Leben ihrer eigenen Leute beimessen.

Im Jahr 2006 gelang es der Hamas, den israelischen Besatzungssoldaten Gilad Shalit gefangen zu nehmen und ihn 2011 gegen 1.024 palästinensische Gefangene auszutauschen – darunter auch den derzeitigen Hamas‐​Führer Yahya Sinwar. Ein ähnlicher Austausch fand 2008 mit dem libanesischen Widerstand statt.

Obwohl der Austausch von Gefangenen ein übliches Element von Konflikten ist, fühlten sich die israelischen Verantwortlichen durch das, was sie als Kompromiss ansahen, geschwächt und in Verlegenheit gebracht. Daher änderten sie im Geheimen ihre Politik und bereiteten sich darauf vor, im Fall künftiger Gefangennahmen mit tödlicher Gewalt gegen ihre eigenen Leute vorzugehen.

Im Mittelpunkt dieser Pläne stand die Hannibal‐Direktive, die 1986 von israelischen Generälen im Geheimen ausgearbeitet und nach einem antiken karthagischen General benannt wurde, der sich lieber selbst tötete, als vom römischen Reich lebendig gefangen genommen zu werden.

Ursprünglich bezog sich die Direktive auf Soldat:innen.

Während der israelischen August‐​Invasion des Gazastreifens 2014 wurde der gefangene israelische Soldat Hadar Goldin durch einen gezielten Artillerieangriff getötet. Bei der Bombardierung von Rafah wurden bis zu 200 palästinensische Zivilpersonen getötet, darunter 75 Kinder.

In der Folge wurde die geheim gehaltene Militärdirektive ans Licht gebracht. Trotz beharrlicher Verschleierung gab das israelische Militär zu, dass die Direktive existiert und möglicherweise auf einen israelischen Soldaten angewandt wurde.

Zwei Jahre später distanzierte sich das israelische Militär von der Direktive und erklärte, »der Befehl, wie er heute verstanden wird«, sei aufgehoben worden. »Dieser Schritt war nicht unbedingt eine vollständige Änderung der Politik, sondern eine Klarstellung«, berichtete die Times of Israel 2016.

Nun haben jedoch mehrere israelische Presseberichte bestätigt, dass die Hannibal‐​Direktive am 7. Oktober nicht nur reaktiviert wurde – falls sie überhaupt jemals abgeschafft wurde –, sondern auch auf gefangene israelische Zivilpersonen auf dem Weg nach Gaza ausgedehnt wurde.

Bombardierung von Israelis auf dem Weg nach Gaza

Die Menschlichkeit Israels überschätzend, war sich die Hamas bei ihrer zweijährigen Vorbereitung und Ausbildung für die Offensive dieser Möglichkeit vielleicht nicht bewusst.

Im vergangenen Jahr erklärte sich die Gruppe wiederholt bereit, israelische Gefangene gegen palästinensische Gefangene auszutauschen. Doch abgesehen von den israelischen Gefangenen, die während der viertägigen Pause im November freigelassen wurden (darunter die Kinder und nicht an Kämpfen beteiligten Gefangenen), weigerte sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu beharrlich, eine Vereinbarung abzuschließen. Stattdessen bombardierte Israel systematisch jeden Teil des Gazastreifens – einschließlich der Gebiete, in denen die israelischen Gefangenen festgehalten werden.

Israelis, die im Rahmen des Gefangenenaustauschs im November freigelassen wurden, erklärten gegenüber den Medien, die größte Bedrohung für ihr Leben während ihrer Gefangenschaft im Gazastreifen sei nicht von der Hamas, sondern von israelischen Angriffen ausgegangen.

Chen Almog‐​Goldstein und drei ihrer Kinder wurden zeitweise in einem Supermarkt im Gazastreifen festgehalten, der von Israel bombardiert wurde.

»Es war grauenhaft«, sagte sie dem Guardian. »Es war das erste Mal, dass wir wirklich das Gefühl hatten, unser Leben sei in Gefahr.« Die Bombardierung »rückte so nah an uns heran, dass die Hamas‐​Wachen Matratzen über uns auf den Boden legten, um uns zu bedecken, und dann bedeckten sie uns mit ihren Körpern, um uns vor den Schüssen unserer eigenen Truppen zu schützen.«

Bei einem Treffen mit Angehörigen der Gefangenen im Stil einer Bürgerversammlung gab Benjamin Netanjahu zu, die Gefangenen hätten »unter unseren Bombardierungen und unseren [militärischen] Aktivitäten« gestanden. So berichtete das hebräische Online‐​Nachrichtenmagazin Ynet im Dezember.

»Jeder Tag in der Gefangenschaft war sehr hart«, sagte eine ehemalige Gefangene bei dem wütenden Treffen. »Ich war in einem Haus, als es überall Bombardierungen gab. Wir saßen in Tunneln und hatten große Angst, dass Israel – nicht die Hamas – uns töten würde, und dann würden sie sagen: Die Hamas hat euch getötet.‹«

Eine andere freigelassene Person sagte: »Tatsache ist, dass ich in einem Versteck war, das bombardiert wurde, und wir mussten weggeschmuggelt werden, und wir wurden verletzt. Ganz zu schweigen davon, dass wir von einem Hubschrauber beschossen wurden, als wir auf dem Weg nach Gaza waren … Ihr bombardiert die Tunnelrouten genau in dem Gebiet, in dem sie [die anderen Gefangenen] sind.«

Wie die Aussage der zweiten freigelassenen Person, die auf dem Weg nach Gaza von einem Hubschrauber beschossen wurde, beweist, wurden die Gefangenen von Israel getötet und angegriffen noch während die Operation Al‐​Aqsa‐​Flut im Gange war. Innerhalb der ersten Stunde der Offensive begannen die israelischen Streitkräfte, israelische Gefangene auf dem Weg nach Gaza zu beschießen und zu bombardieren.

»Hannibal beim Erez«

Eine Untersuchung der israelischen Zeitung Haaretz, die sich auf Dokumente und Zeugenaussagen von Soldat:innen stützt, fand Nachweise dafür, dass diese Hannibal‐​Angriffe spätestens bereits ab 7:18 Uhr erfolgten – nur 52 Minuten nach Beginn der Offensive.

Der Haaretz-Artikel erschien auf Englisch im Juli. Doch lag die Zeitung sechs Monate hinter ihrer Konkurrentin Yedioth Ahronoth zurück. Im Januar brachte die Wochenendbeilage von Yedioth, »7 Days«, einen bahnbrechenden investigativen Artikel, der eine Zeitleiste der Al‐​Aqsa‐​Flut‐​Offensive aus Sicht des israelischen Militärs enthielt. Die Zeitung veröffentlichte nie eine offizielle englische Übersetzung des Artikels. Die Electronic Intifada ist weltweit die einzige Publikation, die eine vollständige professionelle Übersetzung veröffentlicht hat, die hier gelesen werden kann.

Die Untersuchung von »7 Days« ergab, dass »die IDF [israelisches Militär] am Mittag des 7. Oktobers alle ihre Kampfeinheiten anwies, die Hannibal‐​Direktive in der Praxis auszuführen, ohne allerdings diesen Namen ausdrücklichzu nennen«. Die über gute Quellen verfügenden israelischen Militär‐ und Geheimdienstreporter Ronen Bergman und Yoav Zitun erklärten in ihrem langen Beitrag, dass »die Anweisung lautete, jeden Versuch der Hamas‐​Terroristen, nach Gaza zurückzukehren, um jeden Preis zu unterbinden, wobei sie sich sehr ähnlich wie in der ursprünglichen Hannibal‐​Direktive ausdrückten«.

Im Kontrast zur Untersuchung von »7 Days« wurde laut dem neueren Haaretz-Artikel der Name der Doktrin ausdrücklich genannt – und zwar sehr früh: »Eine dieser Entscheidungen wurde um 7:18 Uhr getroffen … Hannibal beim Erez

Erez ist der massive israelische Militärkontroll‐ und Stützpunkt, der die palästinensische Bevölkerung im Norden des Gazastreifens einsperrt. Er wurde von palästinensischen Kämpfenden völlig überrannt, und die belagerten israelischen Truppen scheinen einen Luftangriff auf ihre eigene Position angefordert zu haben.

Entscheidend ist die Schlussfolgerung der Untersuchung von »7 Days«, laut der Hannibal von der Spitze der israelischen Militärhierarchie angeordnet wurde. Demnach ist die Reaktivierung und Ausweitung der Hannibal‐​Direktive an diesem Tag nicht auf einzelne abtrünnige Truppen oder einfach auf Chaos und Verwirrung zurückzuführen. Sie war eine Frage der Politik.

Order und Chaos

Die Hannibal‐​Order kam von oben, nachdem die Generäle im Hakirya‐​Gebäude in Tel Aviv erkannten, dass israelische Soldat:innen und Siedler:innen in der gesamten Grenzregion des Gazastreifens massenhaft gefangen genommen wurden.

Sie wollten die Gefangenen so schnell wie möglich tot sehen.

Die israelischen Truppen vor Ort waren jahrelang in diesem Vorgehen geschult worden und wussten sofort, was sie zu tun hatten.

In einem Bericht einer UN‐​Kommission wird ein Panzerkommandant zitiert, der das Feuer auf israelische Gefangene eröffnete, die aus der Siedlung Nir Oz kamen.

»Irgendetwas in meinem Bauchgefühl ließ mich denken, dass sie [seine Soldaten] auf ihnen [den Fahrzeugen, die nach Gaza fahren] sein könnten«, sagte er. »Ja, es war möglich, dass ich sie töten könnte, aber ich entschied, dass dies die richtige Entscheidung ist. Ich ziehe es vor, die Entführung zu stoppen, damit sie nicht entführt werden«.

Die Beendigung der Gefangenschaft von Israelis durch ihre Tötung ist die Hannibal‐​Doktrin in Kurzfassung.

Im November letzten Jahres gab Nof Erez, ein Oberst der israelischen Luftwaffe, in einem hebräischsprachigen Podcast zu, dass die Reaktion auf die Operation Al‐​Aqsa‐​Flut »ein Massen‐​Hannibal« war.

Zudem herrschte an diesem Tag eine unglaublich chaotische Situation. Laut einem separaten Artikel von Yoav Zitun räumte das israelische Militär eine »immense und komplexe Anzahl« von Vorfällen ein, die es als »friendly fire« bezeichnete.

An einem jüdischen Feiertagswochenende völlig unvorbereitet getroffen, konnten die israelischen Streitkräfte nicht mehr miteinander kommunizieren, nachdem die palästinensischen Kämpfenden die Kommunikationsinfrastruktur zerstört hatten. Die Untersuchung von »7 Days« ergab, dass »40 Prozent der Kommunikationseinrichtungen wie Türme mit Relaisantennen … in der Nähe des Gazastreifens …. an diesem Morgen von der Hamas zerstört wurden«.

Selbst der palästinensische Widerstand war von der Größenordnung seines Erfolgs überrascht. Und teilweise herrschte bei dem Angriff der palästinensischen Kämpfenden ein gewisser Grad an Chaos.

Kollateralschäden?

Kurz nachdem die erste Welle der Hamas‐​Vorhut (bekannt als Nukhba‐​Truppe, arabisch für »Elite«) den Zaun an fast 50 Stellen durchbrochen hatte, schlossen sich kleinere bewaffnete Gruppen – darunter der Islamische Dschihad und die Volksfront zur Befreiung Palästinas – an.

Etwa eine Stunde nach dem Start der Offensive begann eine Welle palästinensischer Zivilpersonen, durch die Lücken im Zaun zu strömen und ihre Heimat zu betreten. Einige dieser Menschen scheinen israelische Nichtkombattant:innen in den militarisierten Siedlungen, die den Gazastreifen umgeben, angegriffen oder gefangen genommen zu haben.

Die chaotische Situation und die Tatsache, dass Israel zur Belagerung und Besetzung des Gazastreifens seine eigene Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde verwendet, bedeutete auch, dass nicht alle israelischen Opfer des palästinensischen Widerstands an diesem Tag Kombattant:innen waren.

Trotz der Bemühungen der westlichen Medien und Politiker:innen, ein Bild von im Süden Israels wütenden bösen, babymordenden palästinensischen »Terroristen« zu zeichnen, die so viele Zivilpersonen wie möglich abschlachteten, ist klar, dass israelische Nichtkombattant:innen oft ins Kreuzfeuer zwischen bewaffneten israelischen Streitkräften und palästinensischen Kämpfenden gerieten.

Überall in der Region brachen heftige Kämpfe aus. Es wird geschätzt, dass etwa 1.000 bis 3.000 palästinensische Kämpfende daran beteiligt waren. Entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben, die israelische Armee sei an diesem Tag nirgendwo zu finden gewesen, kamen der UN‐​Bericht und die Untersuchung von »7 Days« zu dem Schluss, dass israelische Kämpfende in der gesamten Region präsent waren, und zwar schon sehr früh.

Innerhalb der ersten 24 Minuten des Angriffs entsandte das israelische Militär mindestens sechs bewaffnete Flugzeuge: zwei F‑16‐​Bomber, zwei F‑35‐​Bomber und zwei der tödlichen Hermes‐​450‐​Drohnen des Herstellers Elbit Systems.

Außerdem trafen zwei weitere Lufteinheiten – Apache‐​Kampfhubschrauber – innerhalb einer Stunde in der Siedlung Be’eri ein.

Im UN‐​Bericht heißt es, dass »die Entsendung von mindestens acht Apache‐​Hubschraubern am 7. Oktober in das Gebiet an der Grenze zum Gazastreifen bestätigt« ist und »etwa 23 Panzer im gesamten Grenzgebiet zum Gazastreifen stationiert waren« (Anmerkung der Redaktion: Tatsächlich hat Israel keine erklärten Grenzen).

Menschliche Schutzschilde

Doch besteht auch kein Zweifel daran, dass die Israelis von den palästinensischen Kämpfenden überwältigt, ihnen kurzzeitig unterlegen und oft von ihnen überlistet wurden. Die Schlacht um den Kibbuz Be’eri zum Beispiel dauerte drei Tage an.

Nichtsdestotrotz zeigt die Anwesenheit von bewaffneten israelischen Kämpfenden in der – oft als menschliche Schutzschilde eingesetzten – Zivilbevölkerung, vor welchen operativen Herausforderungen die Hamas an diesem Tag stand.

Der UN‐​Bericht dokumentiert sogar einige Fälle, in denen israelische »zivile« Personen Waffen in die Hand nahmen, um sich an Zusammenstößen mit palästinensischen Kämpfenden zu beteiligen.

Der stellvertretende politische Führer der Hamas, Khalil al‐​Hayya, sagte letzte Woche in einem Interview mit der BBC, dass die Kämpfenden der Hamas angewiesen worden seien, während des Angriffs nicht auf Zivilpersonen zu zielen, dass es aber einzelne Verstöße gegen diesen Aktionsplan gegeben habe. Er spielte auch auf die militärischen Schwierigkeiten der palästinensischen Beteiligten an, wenn sie zu unterscheiden versuchen, wer wer ist: »Die Kämpfenden hatten möglicherweise das Gefühl, in Gefahr zu sein«.

Videoausschnitte Militärstützpunkt Nahal Oz

In einem Video, das der bewaffnete Flügel der Hamas am 10. Oktober 2023 veröffentlichte, zeigten die Al‐​Qassam‐​Brigaden, wie sie drei Tage zuvor den Militärstützpunkt Nahal Oz mit Luftunterstützung ausgefeilter, doch kostengünstiger Drohnentechnologie eingenommen hatten. Der Stützpunkt liegt direkt an der Grenze zum Gazastreifen.

In einem Dokument, betitelt »Our Narrative«, das die Hamas im Januar veröffentlichte, gab die Gruppe zu: »Möglicherweise sind bei der Durchführung der Operation Al‐​Aqsa‐​Flut einige Fehler passiert, die auf den schnellen Zusammenbruch des israelischen Sicherheits‐ und Militärsystems und das in den Grenzgebieten zum Gazastreifen entstandene Chaos zurückzuführen sind.«

Einer dieser »Fehler« bestand darin, dass der Geheimdienst der Hamas offenbar nicht mit der nächtlichen »Supernova«-Trance-Party gerechnet hatte.

Dieses Ereignis fand weniger als drei Meilen [weniger als 5 km] vom Militärstützpunkt Re’im entfernt auf freiem Feld statt. Re’im war das Hauptquartier der Gaza‐​Division der israelischen Armee – das Hauptziel der Al‐Aqsa‐Flut‐Offensive.

Allerdings ist die Trennung zwischen israelischen »zivilen« Siedler:innen und israelischen Kämpfenden nicht immer eindeutig.

Die zumeist nach der gewaltsamen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch zionistische Milizen und die neugeschaffene israelische Armee zwischen 1947 und 1949 um den Gazastreifen herum errichteten Siedlungen waren nach der israelischen Militärdoktrin als ein Gürtel menschlicher Schutzschilde gedacht, um die israelische Okkupation zu schützen und die weitaus größere Bevölkerung Gazas zu unterdrücken.

Die Bevölkerung des Gazastreifens besteht zu mehr als 80 % aus Geflohenen, d.h. aus Menschen, die 1948 und danach aus ihren Häusern vertrieben wurden, um Platz für den neuen Staat Israel zu schaffen, sowie aus ihren Nachkommen.

Eine dieser sogenannten »Gaza Envelope«-Siedlungen, die 1951 gegründet wurde, trägt sogar den Namen »Magen« – das hebräische Wort für »Schild«. Eine andere, Nahal Oz, wurde ausdrücklich als Militärsiedlung gegründet.

Nach Angaben des Jüdischen Nationalfonds, einem kolonialen Arm des israelischen Staates, sollte Nahal Oz »die IDF mit Soldat:innen versorgen«. Die Siedlung sollte auch »ein ziviles Zentrum werden und als erste Verteidigungslinie gegen mögliche künftige arabische Invasionen dienen, während sie eine Operationsbasis und Ressourcen für die in den Randgebieten operierenden Streitkräfte bereitstellt.«

UN‐​Waschanlage für israelische Propaganda

Im Juni dieses Jahres veröffentlichte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen einen Bericht: »Detailed findings on attacks carried out on and after 7 October 2023 in Israel« [»Detaillierte Erkenntnisse über in Israel durchgeführte Angriffe am und nach dem 7. Oktober 2023«].

Die geringe Aufmerksamkeit, die der Bericht in den Medien fand, konzentrierte sich auf die Schlussfolgerung des Berichts (zusammen mit einem Begleitdokument, das sich auf den Gazastreifen konzentrierte), nach der »sowohl Israel als auch die Hamas Kriegsverbrechen begangen haben«, wie der Guardian es ausdrückte.

Die Autor:innen des Berichts bezeichneten sich selbst als eine »unabhängige internationale Untersuchungskommission« zur Offensive. In dem Bericht werden die Quellen größtenteils nicht offengelegt. Die Autor:innen begründen dies mit nicht näher spezifizierten »Schutzbedenken«.

Allerdings geht aus den Stellen, an denen der Bericht seine Quellen offenlegt, hervor, dass sie sich fast ausschließlich auf israelische Angaben stützen. Soweit palästinensische Quellen zitiert werden, handelt es sich größtenteils um Bodycam‐​Videos von getöteten oder gefangenen Kämpfenden. Diese wurden von den israelischen Besatzungsbehörden veröffentlicht und sind höchstwahrscheinlich selektiv bearbeitet worden.

Es überraschend daher nicht, dass das Dokument letztlich größtenteils dem entlarvten israelischen Narrativ palästinensischer Gräueltaten folgt. Manchmal geht das bis zur Absurdität. In einem Fall verdreht die Untersuchungskommission die Chronologie der Ereignisse, um den Eindruck zu erwecken, im Kibbutz Be’eri hätte ein palästinensischer Kämpfer nach dem Einbruch in ein Zimmer absichtlich ein israelisches Baby getötet.

Presseberichten zufolge war der Tod jedoch die tragische Folge eines verirrten Schusses. Milla Cohen, ein 10 Monate altes Baby, starb, als ein palästinensischer Kämpfer durch eine Tür schoss, bevor er in ein Zimmer in einem Siedlungshaus einbrach, um Gefangene zu nehmen.

Schlimmer noch scheint sich der UN‐​Bericht in hohem Maße auf die diskreditierte jüdische Extremistengruppe ZAKA als Quelle zu stützen, die einmal explizit und häufig ungenannt unter der Bezeichnung »Ersthelfer« zitiert wird. Diese »Ersthelfer« erzählen dann reißerische Geschichten über angebliche palästinensische »Kriegsverbrechen«.

Doch räumt der Bericht selbst ein, dass ZAKA »nicht für die Bewältigung großer, komplexer Tatorte ausgebildet und ausgerüstet ist und möglicherweise auch Beweise verfälscht oder sogar manipuliert hat« (Hervorhebung hinzugefügt).

»Ein für ZAKA arbeitender Ersthelfer«, den der Bericht nicht beim Namen nennt, »machte in Medieninterviews ungenaue und übertriebene Angaben über Untersuchungsergebnisse.« Dies könnte eine Anspielung auf den hochrangigen ZAKA‐​Führer Yossi Landau sein.

Landau wurde von Al Jazeera‐​Journalisten gezwungen, vor laufender Kamera – für eine im März ausgestrahlte Dokumentation – zuzugeben, dass seine ursprüngliche Geschichte über palästinensische Kämpfer, die zehn israelische Kinder bei lebendigem Leib verbrannten, erfunden war. Mit seinem eigenen Mangel an Beweisen konfrontiert, gab Landau zu: »Wenn man sie ansieht und sie verbrannt sind, weiß man das Alter nicht genau. Man redet also von 18 Jahren, 20 Jahren … man schaut einfach nicht auf die Stelle … um das Alter oder so etwas zu sehen.«

Nach internen Streitigkeiten um Geld und Macht war Landau später gezwungen, von seiner Position in der Gruppe zurückzutreten.

Hannibal‐​Angiffe durch die UN bestätigt

Obschon die Autor:innen des Berichts ihr Bestes zu geben scheinen, um die israelische Gräuelpropaganda in das UN‐​System zu schleusen, enthält das Dokument eine erstaunliche Sammlung von Belege, die die Berichte der Electronic Intifada während des letzten Jahrs bestätigen, dass an jenem Tag Israel selbst viele, wenn nicht sogar die meisten, Israelis getötet hat.

Einige der Nachweise im UN‐​Bericht sind nur schemenhaft und müssen mit hebräischsprachigen Medienberichten über die Hannibal‐ Direktive und deren beispiellose Anwendung am 7. Oktober 2023 abgeglichen werden. Einige jedoch sind eindeutig.

Über drei Seiten hinweg beschreibt der Bericht, was über die »Anwendung der Hannibal‐​Direktive« an diesem Tag bekannt ist.

Die Kommission schreibt, sie habe »starke Hinweise dafür dokumentiert, dass am 7. Oktober die Hannibal‐​Direktive in mehreren Fällen eingesetzt wurde, bei denen Israelis verletzt und gleichzeitig palästinensische Militante getroffen wurden“.

In seinem Abschnitt über die Hannibal‐​Richtlinie stellt der UN‐​Bericht sogar fest, dass »israelische Hubschrauber über dem Nova‐​Gelände präsent waren und möglicherweise auf Ziele am Boden, einschließlich ziviler Fahrzeuge, schossen«. Es heißt, »ein oder zwei Hubschrauber« seien »in den frühen Morgenstunden über dem Nova‐​Festivalgelände anwesend gewesen«. Darüber berichtete die Electronic Intifada erstmals im November.

Der UN‐​Bericht beruft sich auf die Aussagen zweier ungenannter Zeug:innen, darunter ein »Brigadegeneral der Reserve der israelischen Armee, der in der Nähe eines geparkten Panzers in der Nähe des Nova‐​Geländes gegen Militante kämpfte« und erklärte, er habe »das Gaza‐​Bataillon angerufen, um einen Kampfhubschrauber anzufordern«.

Die Anwesenheit von Kampfhubschraubern – und mindestens eines Panzers – bei der Schlacht um das Supernova‐​Rave‐​Gelände könnte zur Erklärung der hohen Zahl der Opfer unter den nicht kämpfenden fliehenden Rave‐​Gästen an diesem Morgen beitragen.

Der Supernova‐​Rave

Supernova wurde von einer Eventmanagementfirma, die sich »Tribe of Nova« nennt, an einem Ort veranstaltet, der weniger als vier Meilen [weniger als rund 6,5 km] von dem riesigen Freiluftgefangenenlager, das der Gazastreifen darstellt, entfernt ist.

Diejenigen, die das Event befürworten, haben die palästinensischen Kämpfenden für ihren Angriff auf ein »Friedensfestival« verurteilt, während diejenigen, die das Event kritisieren, es mit dem Tanz deutscher Zivilpersonen vor den Toren von Auschwitz während des Nazi‐​Holocaust vergleichen.

Von westlichen Medien oft als »Nova‐​Musikfestival« bezeichnet, nannte sich die Veranstaltung auf ihrer offiziellen Webseite eigentlich »Supernova Sukkot Gathering«. Ein kürzlich gedrehter Film über das Event zeigte, dass es eher den illegalen Raves ähnelte, die in vielen westlichen Ländern an geheimen Orten veranstaltet werden.

Supernova war nicht illegal und wurde mit der örtlichen israelischen Polizei koordiniert (die bewaffnet und im vorhinein zur Bewachung der Veranstaltung anwesend war). Aus Gründen, die nicht ganz klar sind, wurde der Ort des Raves jedoch erst am 6. Oktober bekannt gegeben.

Teilnehmende am hochkarätigen israelischen Film »We Will Dance Again« bestätigten, dass der Drehort von Supernova bis zur letzten Minute vor den Karteninhaber:innen geheim gehalten wurde.

Dies (und nicht etwa eine Verwirrung über den Zeitraum der Veranstaltung oder eine Verlängerung der Veranstaltungsdauer, wie manchmal fälschlicherweise im Internet behauptet wird) erklärt, weshalb die Hamas keine Ahnung von vom Rave auf den Feldern zwischen Gaza und dem größten Militärstützpunkt in der Gegend – dem regionalen Hauptquartier in Re’im – hatte.

Die Supernova‐​Tode

Oft heißt es, die meisten Todesopfer am 7. Oktober habe es beim Rave gegeben. Laut UN‐​Bericht wurden 364 der insgesamt 3.000 Rave‐​Gäste »entweder auf dem Gelände, in der Nähe des Kibbutz Re’im oder an angrenzenden Orten« getötet.

Eine detaillierte Aufschlüsselung der Todesfälle, die kürzlich von der Times of Israel veröffentlicht wurde (auf der Grundlage einer Untersuchung eines israelischen Fernsehsenders), zeigt, dass mehr als 60 Prozent von ihnen außerhalb des ausgewiesenen Rave‐​Geländes auftraten.

Dies ist aus zwei Gründen wichtig.

Erstens: Obwohl der Film »We Will Dance Again« versucht, ein Bild von bösartigen palästinensischen Terroristen zu zeichnen, die absichtlich Zivilpersonen angreifen, geht aus allen verfügbaren Beweisen hervor, dass der Rave an diesem Tag kein geplantes Ziel der Hamas‐​Offensive war.

Tatsächlich bedeutete die Geheimhaltung des Veranstaltungsortes, dass einige palästinensische Kämpfende – vielleicht einige Mitglieder bewaffneter Gruppen und eventuell einige bewaffnete Zivilpersonen – im Rahmen ihres Angriff auf die Militärstützpunkte über die Veranstaltung stolperten. Schnell kam es zu bewaffneten Zusammenstößen mit den israelischen Streitkräften – darunter Polizeikräfte, Soldat:innen und mindestens ein Panzer sowie bewaffnete israelische »zivile« Personen, die ebenfalls anwesend waren.

Der israelische Geheimdienst kam zu dem Schluss, dass die Palästinenser:innen nichts von dem Rave wussten.

Zweitens: Die von der Times of Israel veröffentlichte Aufschlüsselung zeigt, dass die Todesfälle von Rave‐​Gästen außerhalb des Rave‐​Geländes so weit voneinander entfernt sind wie Sderot (11 Meilen [17,7 km] nördlich des Supernova‐​Geländes) und die Militärbasis Re’im (nur 2,3 Meilen [3,7 km] südlich).

Zeichnet man diese Orte des Todes auf Google Earth ein und vergleicht sie mit den Orten der Hinterhalte, die von den Hamas‐​Elitekommandos gelegt wurden – wie in der Untersuchung von »7 Days« detailliert beschrieben –, zeigt sich, dass diese beiden Orte oftmals übereinstimmen.

Es ist daher wahrscheinlich, dass der Tod einiger fliehender Rave‐​Gäste die unbeabsichtigte Folge von palästinensischen Hinterhalten war, die eingerichtet wurden, um Verstärkungen der israelischen Armee in der Region abzufangen.

»Während viele Verstärkungen nach Süden strömten«, schrieben Ronen Bergman und Yoav Zitun in der »7 Days«-Untersuchung, hatte die Hamas‐​Kommandotruppe »diese Verstärkungen vorausgesehen und die strategischen Knotenpunkte eingenommen … wo sie die Truppen erwartete … [A]n diesen Knotenpunkten wurde viel Blut vergossen, sowohl von Soldat:innen als auch von Zivilpersonen.«

Die Untersuchung von »7 Days« berichtet außerdem über Fälle, in denen israelische Soldat:innen aus eigenem Antrieb nach Süden eilten, um sich dem Kampf anzuschließen – auch in ihren eigenen zivilen Fahrzeugen.

»Befehlshabende, die bereits aus den Medien oder von Freund:innen erfahren hatten, dass etwas im Gange war, drängten in den Gaza Envelope“, erklären Bergman und Zitun. Ein Brigadekommandeur erzählte den Journalisten: »Ich kam mit meinem Privatfahrzeug zur Yad‐​Mordechai‐​Kreuzung [2,3 Meilen nördlich des Erez‐​Kontrollpunkts], nachdem ich [den Angriff] zu Hause in den Nachrichten gesehen hatte.«

Gesprengte Siedlungshäuser

Die Belege für vorsätzliche israelische »Massen-Hannibal«-Tötungen israelischer Zivilpersonen in den Kibbuzim und anderen Siedlungen rund um Gaza sind eindeutig und unbestreitbar.

Videoaufnahmen und Presseberichte von der Al‐​Aqsa‐​Flut‐​Offensive zeigen, dass viele Gebäude in den Siedlungen vollständig zerstört wurden, und zwar in einer Weise, die mit schweren Waffen übereinstimmt, wie sie sich laut Militärexpert:innen im Besitz des israelischen Militärs und nicht im Besitz palästinensischer Kämpfender befinden.

Während einige Gebäude und Autos lediglich Brandspuren aufwiesen, wurden viele andere eindeutig von israelischen Drohnen und Kampfhubschraubern aus der Luft bombardiert oder von israelischen Panzern beschossen.

Nof Erez, der Oberst der israelischen Luftwaffe, der zugab, dass der 7. Oktober ein »Massen‐​Hannibal« war, beantwortete die Frage des Interviewers, ob sie »alle Arten von Häusern in den Siedlungen in die Luft jagten«, positiv.

Erez bestand darauf, dass seine Pilot:innen dies nur mit »Erlaubnis« ihrer Vorgesetzten taten. »Ich sah zahlreiche Drohnen über jeder Siedlung auf einem Computerbild, das wir in jedem Kommando der IDF [israelisches Militär] sehen können«, erklärte er.

Aufnahmen im israelischen Fernsehen zeigten schießende israelische Panzer in der Siedlung Kibbutz Be’eri.

Brigadegeneral Barak Hiram gab zu, seinen Panzern den Befehl gegeben zu haben, das Haus von Pessi Cohen im Kibbuz Be’eri zu beschießen – »selbst auf Kosten der Zivilpersonen«, wie er der New York Times sagte.

Palästinensische Kämpfer der Hamas hatten 15 Personen gefangen genommen und in dem Haus festgehalten, während sie über ihre Rückkehr nach Gaza zu verhandeln versuchten. Nachforschungen der Electronic Intifada ergaben, dass die meisten der Toten mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Hirams Angriff getötet wurden.

Die Electronic Intifada veröffentlichte als erste den Augenzeugenbericht der Überlebenden Yasmin Porat in englischer Sprache, die sagte, israelische Truppen seien am Ort des Geschehens eingetroffen und »eliminierten alle« mit schwerem Geschützfeuer und Panzerbeschuss.

Porat, der palästinensische Kommandant Hasan Hamduna (der sich ergab) und eine weitere Gefangene – Hadas Dagan – waren die einzigen drei Überlebenden des Massakers von Barak Hiram.

Dagan bestand in ihrer Aussage in Bezug auf Porat – über die die Electronic Intifada erstmalig im November letzten Jahres berichtete – darauf, dass alle anderen in und um das Gebäude herum entweder erschossen oder durch das israelische Panzerfeuer »völlig verbrannt« wurden.

Zu den Opfern dieser Apokalypse gehörten die 12‐​jährigen israelischen Zwillinge Liel und Yanai Hatsroni. Schändlicherweise wurde das Foto von Liel später in der offiziellen israelischen Propaganda benutzt, die fälschlicherweise behauptete, die Hamas habe das Mädchen massakriert und verbrannt. »Ermordet in ihrem Haus von Hamas‐​Monstern … nur weil sie Jüdin ist«, log der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett.

Hannibal beim Supernova‐Rave?

Im Zusammenhang mit dem Supernova‐​Rave ist nach wie vor unklar, wie viele der Toten von palästinensischen Kämpfenden getötet wurden und ob einige von ihnen bei »Hannibal«-Angriffen durch Israel ums Leben kamen.

Im Vergleich zu den stärker bebauten Gebieten wie den Militärbasen und Kibbuzim – bei denen eindeutige visuelle Beweise für zerbombte Gebäude und schlüssige Augenzeugenberichte vorliegen – war die visuelle Situation in und um das Supernova‐​Gelände chaotischer. Anders als in den Siedlungen trafen israelische Flugzeuge und Panzer nur auf wenige bebaute Strukturen, die sie in die Luft hätten jagen konnten.

Video‐ und andere bildliche Belege zeigen, dass die Felder am Ausgang des Geländes neben dem bewaffneten israelischen Kontrollpunkt stark verbrannt und geschwärzt waren. Ob dies das Ergebnis von Hubschrauber‐ oder Panzerangriffen oder von Bränden war, die nach palästinensischen Raketengranateneinschlägen entstanden sein könnten, ist unklar.

Bekannt ist, dass die israelischen Streitkräfte vor Ort eine Straßensperre am Hauptausgang errichteten, wodurch ein massiver Rückstau von Autos entstand, die darauf warteten, das Gelände verlassen zu können. Viele Rave‐​Gäste flüchteten schließlich zu Fuß über die Felder in Richtung Osten, als das Feuergefecht ausbrach.

Während der Film »We Will Dance Again« die von den israelischen Streitkräften errichtete Straßensperre nicht erwähnt, zeigt ein früher CNN‐​Bericht sie auf einer Karte des Schauplatzes, und die Times of Israel berichtet, dass die Straßensperre wahrscheinlich schon um 7.00 Uhr morgens errichtet wurde.

Der Journalist William Van Wagenen legte in einem Bericht für den Cradle ausführlich dar, dass wahrscheinlich in Folge der Straßensperre die israelischen Streitkräfte einige flüchtende Rave‐​Gäste unbeabsichtigt in ein Feuergefecht zwischen ihnen und palästinensischen Kämpfenden verwickelten, die von Norden her auf die Militärbasis Re’im vorrückten.

Psychoaktive Drogen

Sowohl aus »We Will Dance Again« als auch aus einem Interview von Haaretz mit einem israelischen Psychologen, der Überlebende behandelt hat, geht hervor, dass auf dem Rave der Konsum psychoaktiver Drogen weit verbreitet war.

Bei ihrer Ankunft am Ort des Geschehens in der Nacht des 6. Oktober »sagten alle, sie würden so richtig high werden«, erinnerte sich eine am Film teilnehmende Person.

Dem Haaretz-Interview und dem Film zufolge nahmen die Rave‐​Gäste Ecstasy, Acid, Kokain, Magic Mushrooms und möglicherweise Ketamin. Schlimmer noch, viele der Teilnehmenden hatten ihre Dosis absichtlich so gewählt, dass der Kick bei Sonnenaufgang einsetzte – was sich als kurz vor Beginn der palästinensischen Offensive herausstellte, die mit Raketensalven aus Gaza um 6:26 Uhr begann.

»Das ist so scheiße! Alle sind high«, erinnerte sich eine am Film teilnehmende Person an ihre Gefühle, als die Raketen über sie hinwegflogen. Acid, erklärte jemand anderes, »kann die Dinge viel schlimmer erscheinen lassen«. Psychedelische Drogen, so erklärte der israelische Psychologe, können dazu führen, dass »auch Teile des Unbewussten ins Bewusstsein treten«.

All dies macht es unwahrscheinlich, dass viele Rave‐​Gäste in der Lage waren, zu erkennen, ob sie von israelischer, palästinensischer oder von beiden Seiten beschossen wurden, als sie um ihr Leben rannten. Obwohl die Existenz der Hannibal‐​Direktive innerhalb Israels ein offenes Geheimnis ist, war ihre Anwendung auf zivile israelische Ziele – soweit wir wissen – vor dem 7. Oktober 2023 beispiellos.

Hannibal überall im Süden

Im Kibbutz Be’eri wurden etwa 105 Einwohnende getötet. Derzeit ist nicht bekannt, wie viele von ihnen durch palästinensische und wie viele durch israelische Kräfte starben.

Im UN‐​Bericht heißt es, dass »mindestens 57 Gebäude im Kibbuz zerstört oder beschädigt wurden, was mehr als ein Drittel aller Wohngebäude ausmacht«. Viele von ihnen scheinen den visuellen Belegen zufolge von Israel zerstört worden zu sein.

Ein wichtiger zu beachtender Faktor ist jedoch, dass Israels »Hannibal«-Massaker an Israelis in Be’eri in der gesamten Region wiederkehrt. Wir wissen nur deshalb so viel über das Massaker am Haus von Pessi Cohen, weil zwei Zivilpersonen überlebten, um ihre Geschichte zu erzählen.

Ähnliche Vorfälle ereigneten sich auch anderswo. Doch an den meisten Orten gab es nur wenige Überlebende, insbesondere bei den Luftangriffen.

Eine rein weibliche Panzereinheit kommandierte ein Militärfahrzeug, für das sie nicht ausgebildet war, und stürmte durch die Tore von Holit, einer israelischen Siedlung nahe der Grenze zu Ägypten und dem Gazastreifen, mehr als 14 Meilen [22 km] südlich des Supernova‐Raves.

»Wir dringen in die Siedlung ein und sprengen das Tor«, sagte eine der Soldatinnen dem israelischen Kanal 12. »Der Soldat zeigt auf mich und sagt: Schießt dort, die Terroristen sind dort. Ich frage ihn: Sind dort Zivilpersonen?Er sagt: Ich weiß nicht, schießt einfach.‹«

Die Panzerkommandantin behauptet dann, sie habe beschlossen, nicht zu schießen – widerspricht sich aber sofort: »Ich schieße mit meinem Maschinengewehr auf ein Haus.«

Ähnlich wie angesichts der visuellen Belege für die Hannibal‐​Angriffe Israels auf Israelis im Kibbutz Be’eri kam eine Untersuchung der Electronic Intifada im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass im Kibbutz Kfar Aza die gleiche Art von Haussprengungen stattfand.

Der UN‐​Bericht listet eine überraschend hohe Zahl von Orten auf, an denen Hannibal‐​Angriffe möglicherweise oder sicher stattgefunden haben.

Außerhalb der israelischen Siedlung Nirim (die auf dem Weg zwischen der palästinensischen Stadt Khan Younis und dem militärischen Hauptquartier der Gaza‐​Division Re’im liegt) fuhr eine israelische Panzerbesatzung nach Nir Oz, einer anderen nahe gelegenen Siedlung, ab. Dort angekommen, so der UN‐​Bericht, »bemerkten sie Hunderte von Menschen, die ins Innere Israels und zurück in den Gazastreifen strömten, und sie schossen auf sie, auch auf Fahrzeuge, die mit Menschen gefüllt waren, von denen einige Geiseln gewesen sein könnten« (Hervorhebung hinzugefügt).

Der nächste Absatz des Berichts weist auf die Möglichkeit ähnlicher Vorfälle in Nitzana, Kissufim und Holit hin.

Wie viele wurden von Israel getötet?

Obwohl Israel zunächst behauptete, am 7. Oktober letzten Jahres seien 1.400 Menschen »von der Hamas ermordet« worden, begann es bald, diese Zahl nach unten zu korrigieren.

Im November gab die israelische Regierung bekannt, bei 200 dieser Menschen handele es sich in Wirklichkeit um Hamas‐​Kämpfende. Sie waren durch israelische Bombenangriffe so stark verbrannt, dass sie nicht mehr identifiziert werden konnten.

Dies zeigt, wie wahllos Israel an diesem Tag geschossen hat.

Die Zahl der israelischen Todesopfer liegt laut Al Jazeera aktuell bei 1.154. Davon sollen laut UN‐​Bericht mindestens 314 »israelisches Militärpersonal« gewesen sein.

Im März bezifferte das Investigativ‐​Team von Al Jazeera in einer umfassenden, hebräisch‐​sprachigen Untersuchung über drei israelische Todesopfer die bewaffneten Kämpfenden höher, auf insgesamt 372.

Neben Soldat:innen umfasst die Zahlenangabe von Al Jazeera auch Polizeikräfte, Sicherheitskräfte (d.h. bewaffnete Siedlungsmilizen) sowie »Sicherheitspersonal«.

Die Untersuchung von »7 Days« kam zu dem Schluss, dass auch Angehörige des Shin Bet – der verdeckt arbeitenden israelischen Behörde für »innere Sicherheit« – in die Kämpfe im Süden geschickt wurden: »Im Verlauf der Kämpfe wurden 10 Mitarbeitende der Organisation getötet.«

Die englische Ausgabe der Haaretz-Datenbank der Toten offenbart die Namen von drei dieser Personen – Yossi Tahar, Smadar Mor Idan und Omer Gvera.
Von diesen dreien ist niemand in der Datenbank als Kombattant:in aufgeführt. Es ist daher wahrscheinlich, dass in der Datenbank die anderen sieben toten Shin Bet-Kombattant:innen ebenfalls heimlich als »Zivilpersonen« aufgeführt sind.

Aus den Rohdaten von Al Jazeera, die deren Investigativ‐​Team der Electronic Intifada für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat, geht hervor, dass die Zahlen des »Sicherheitspersonals« tatsächlich acht Shin Bet‐​Angehörige unter den Toten aufführen.

Die 372 deklarierten Kämpfenden plus die zwei nicht als kämpfend deklarierten Shin Bet‐ Angehörigen ergeben 374 tote Kämpfende – fast ein Drittel der toten Israelis insgesamt.

Zieht man diese von den insgesamt 1.154 Toten ab, bleiben maximal 780 tote israelische Zivilpersonen übrig. Das bedeutet, dass mindestens 41 Prozent der ursprünglichen (falschen) Zahl von 1.400 Toten tatsächlich Kombattant:innen waren – hauptsächlich Israelis, aber auch 200 der toten palästinensischen Kämpfenden.

»Alle im Auto wurden getötet«

Wenn während der Al‐​Aqsa‐​Flut‐​Offensive maximal 780 unbewaffnete Israelis starben: Wie viele davon wurden von israelischer und wie viele von palästinensischer Seite getötet?

Die derzeitige Antwort auf diese Frage lautet, dass das herauszufinden ohne eine wirklich unabhängige internationale Untersuchung unmöglich ist.

Wie der UN‐​Bericht deutlich macht, blockiert Israel genau eine solche Untersuchung. »Die Kommission ist der Ansicht, dass Israel ihre Ermittlungen zu den Ereignissen am und nach dem 7. Oktober 2023 sowohl in Israel als auch in den besetzten palästinensischen Gebieten behindert.«

Doch ist es möglich, einige vorläufige Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der investigative Film von Al Jazeera fand heraus, dass »mindestens 18« der nicht kämpfenden Toten definitiv von israelischen Bodentruppen getötet wurden und dass mindestens 27 der Israelis in palästinensischer Gefangenschaft »irgendwo zwischen ihrem Haus und dem Gaza‐​Zaun unter ungeklärten Umständen ums Leben kamen«.

Doch zeigen die Rohdaten von Al Jazeera, dass es sich dabei um sehr gut belegte und vorsätzliche Hannibal‐​Tötungen handelte, so wie das infame Massaker im Haus von Pessi Cohen, das von Barak Hiram verübt wurde.

Nicht berücksichtigt sind dabei mehrere andere Schlüsselelemente, aus denen wir eine mögliche grobe Vorstellung von der Größenordnung der gesamten Hannibal‐ und unbeabsichtigten „friendly fire“-Todesfälle extrapolieren können.

In der Untersuchung von »7 Days« heißt es, israelische Militärermittler:innen hätten »etwa 70 Fahrzeuge untersucht, die … den Gazastreifen nicht erreichten, weil sie auf dem Weg dorthin vom Feuer eines Kampfhubschraubers, eines UAV [unbesetztes Luftfahrzeug] oder eines Panzers getroffen worden waren; und zumindest in einigen Fällen wurden alle im Fahrzeug getötet« (Hervorhebung hinzugefügt).

Wie viele Israelis sich in diesen 70 Fahrzeugen befanden, ist unbekannt, doch nach dem, was man über andere Vorfälle weiß, befanden sich in einigen Autos wahrscheinlich mehrere. Diese Fahrzeuge allein könnten für eine sehr große Zahl von Todesopfern unter der israelischen Zivilbevölkerung verantwortlich gewesen sein.

Palästinensische Entführer stopften oft mehrere israelische Gefangene in Pickups, in enteignete PKWs und in einigen Fällen sogar in Anhänger, die von Traktoren gezogen wurden.

Fliehende Israelis taten dasselbe.

Eine am Rave teilnehmende Person im Film »We Will Dance Again« beschreibt, wie sie verzweifelt in ein Auto steigt, um vom Supernova‐​Gelände zu entkommen. Es waren »eine Million Leute im Auto«, erinnert sie sich. »Die Hälfte meines Körpers ist draußen«, fügt sie hinzu und erklärt, dass sie aus dem Fenster hing.

Im Internet veröffentlichte und im Al Jazeera‐​Film zusammengestellte Aufnahmen von israelischen Kampfhubschraubern zeigen ein Video von etwa einem Dutzend Menschen, die aus einem vollbesetzten Auto fliehen, während sie von den Israelis beschossen werden. Ihr Schicksal ist unbekannt. Der Film zeigt viele ähnliche Videos. Es ist unklar, wo genau in der Nähe von Gaza diese Vorfälle stattfanden. Der vollständige Film kann auf der Website von Al Jazeera oder in dem unten eingebetteten YouTube‐​Video angesehen werden (aufgrund der Altersbeschränkungen der Plattform ist ein entsprechendes YouTube‐​Konto nötig).

In einem Nachrichtenbericht auf der israelischen Website Ynet vom November wurde ein Hubschrauberpilot mit den Worten zitiert, »allein in den ersten vier Stunden nach Beginn der Kämpfe« hätten israelische Luftstreitkräfte »etwa 300 Ziele angegriffen, die meisten davon auf israelischem Gebiet.« Dem Bericht zufolge erhielten sie den Befehl, in der Nähe des Zauns zum Gazastreifen »auf alles zu schießen«.

Der Reporter des hebräischen Artikels war Yoav Zitun, der Co‐​Autor der »7 Days«-Untersuchung, ein gut informierter israelischer Militärreporter, der dem geheimdienstlichen und militärischen Establishment nahe ist.

Die Drohnenpilot:innen scheinen noch tödlicher gewesen zu sein als die Hubschrauberbesatzungen. In dem Artikel von »7 Days« heißt es, dass sie oft selbst »Entscheidungen für Angriffe« trafen und dass am Ende des Tages am 7. Oktober »das Geschwader nicht weniger als 110 Angriffe auf etwa 1.000 Ziele durchführte, von denen die meisten innerhalb Israels lagen.«

Wenn die »Ziele« einzelne Personen einschließen, ist es schwer zu sagen, wie viele davon Israelis waren. Wahrscheinlich wussten das die Pilot:innen oft selbst nicht. Wenn ein getroffenes »Ziel« auch einzelne Autos einschließt, könnten die 1.000 getroffenen Ziele leicht zu Hunderten von Toten geführt haben.

Der Auto-»Friedhof«

Im November wurden Hunderte von Fahrzeugen, die während der palästinensischen Offensive gesprengt worden waren, von israelischen Truppen eingesammelt und auf einem Schrottplatz in der Nähe der Siedlungen Tekuma und Netivot gestapelt.

Fotos und Drohnenaufnahmen des Schrottplatzes zeigten deutlich, dass viele der Autos völlig plattgedrückt und verbogen waren, wie es bei israelischen Bombardierungen aus der Luft zu erwarten ist. Kurz gesagt sahen die Autos den palästinensischen Autos (sowohl von Zivilpersonen als auch von Kämpfenden) sehr ähnlich, die Israel im Laufe der Jahre in Gaza aus der Luft zu bombardieren pflegte.

Heute scheint der Schrottplatz zu einer Art Touristenattraktion für Israel und seine Unterstützer:innen geworden zu sein – ein Ort, den sie als »Autofriedhof« bezeichnen. In einem Video, das dort im vergangenen Sommer gedreht wurde, sagt ein Fremdenführer der israelischen Armee, auf dem Schrottplatz lagerten »1.650 Fahrzeuge, die hierher gebracht wurden«.
Allein in einem Krankenwagen, so sagt er, wurden aus der Asche und dem geborgenen »menschlichen Staub« die Überreste von 18 Menschen gefunden.

Wie hoch die Zahl der durch israelische »Hannibal«-Angriffe getöteten Israelis auch immer ist: es erscheint durchaus plausibel, dass Israel Hunderte der im Verlauf der Offensive ums Leben gekommenen Israelis tötete.

Die Vertuschung

Während des letzten Jahres fand eine systematische Vertuschung durch Israel statt.

Die meisten israelischen Berichte darüber waren ausschließlich in Hebräisch – und das nicht, weil es keinen Zugang zu englischsprachigen Medien gäbe.

Der Hauptautor der »7 Days«-Untersuchung war Ronen Bergman, ein bekannter Reporter der New York Times und Bestsellerautor mehrerer Hagiographien über den Mossad und andere israelische Spionageagenturen. Bergman hätte auf Englisch über die Hannibal‐​Richtlinie in der New York Times oder anderswo erst noch zu schreiben.

Nur sehr wenige Autopsien wurden durchgeführt – jedenfalls keine bei den Toten im Haus von Pessi Cohen im Kibbuz Be’eri. Im Falle dieses speziellen Verbrechens wäre dies wahrscheinlich ohnehin unmöglich gewesen. Barak Hirams Panzerbeschuss führte dazu, dass die meisten seiner israelischen Opfer zu Asche verbrannten – darunter auch die 12‐​jährige Liel Hatsroni.

Viele Leichen wurden vorzeitig begraben. Israelische Autos, die bei offensichtlichen »Hannibal«-Morden zerstört wurden, haben die israelischen Behörden zerquetscht, bevor sie unter einem religiösen Vorwand auf dem »Friedhof« begraben wurden.

Der Bericht der UN‐​Kommission kritisiert Israel dafür, dass es ihnen den Zugang zum Land verwehrt. »Israelische Verantwortliche verweigerten nicht nur die Unterstützung der Untersuchung der Kommission, sondern hinderten Berichten zufolge auch Mediziner:innen und andere Personen daran, Kontakt aufzunehmen«, heißt es in dem Bericht.

In einer vertuschenden »Untersuchung« der Morde in Pessi Cohens Haus sprach die Armee im Juli Barak Hiram weitgehend von Fehlverhalten frei. Die Überreste des Hauses sind inzwischen von der Armee abgerissen worden. Letzten Monat wurde Hiram befördert und zum Leiter der gedemütigten Gaza‐​Division ernannt.

Sein Vorgänger, Brigadegeneral Avi Rosenfeld, war zurückgetreten, da es ihm nicht gelungen war, die Offensive vom 7. Oktober 2023 zu verhindern.

Eine hochrangige Quelle, die sich an diesem Tag tief unter Tel Aviv im »Schacht«-Hauptquartier des Militärs aufhielt, verglich den Angriff mit der ägyptischen Überraschungsoffensive vom Oktober 1973 zur Rückeroberung der von Israel besetzten Gebiete und erinnerte sich gegenüber Bergman und Zitun an die damals angestimmten Worte.

»Es ist unvorstellbar. Es ist wie die Altstadt Jerusalems im Unabhängigkeitskrieg oder die Außenposten entlang des Suezkanals während des Jom‐​Kippur‐​Krieges. Wir dachten, so etwas könnte nie wieder passieren.« »Dies wird eine Narbe hinterlassen, die für immer in unser Fleisch eingebrannt ist.«

Mit zusätzlichen Recherchen von Maureen Murphy und einer Übersetzung aus dem Hebräischen von Dena Shunra.

Erstveröffentlichung nachträglich geändert zur Ergänzung von: »Kein einziges Fahrzeug darf nach Gaza zurückkehren«.

Dieser Artikel erschien erstmalig in der Electronic Intifada in Englisch am 7. Oktober 2024

Asa Winstanley ist investigativer Journalist und Mitherausgeber der Electronic Intifada. Er ist Autor des Buches »Weaponising Anti‐​Semitism: How the Israel Lobby Brought Down Jeremy Corbyn« (OR Books, 2023).

Kilometerangaben wurden von der MagMa‐​Redaktion hinzugefügt. Aufgrund unklarer Bildrechte wurden nicht alle Fotos des Originalartikels übernommen. Nach Rücksprache mit dem Autor wurde die Übersetzung gegendert.

Bild: Beschädigtes Gebäude im Kibbuz Be’eri in Israel nach der Hamas‐​Offensive am 7. Oktober 2023, aufgenommen am 11. Oktober 2023, Wikimedia | Kobi Gideon /​Government Press Office of Israel.

One thought on “Wie Israel am 7. Oktober Hunderte seiner eigenen Leute tötete

  1. Autoren können sowohl weiblich als auch männlich sein – gleiches gilt für Soldaten, Siedler, Helfer, etc. pp. Auch für Menschen ‚-)
    Wer auch immer den Text von Asa übersetzt hat – warum wird die deutsche Sprache dem Anliegen der herrschenden Klasse folgend »verändert«?

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