Der Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrag – Annexion und Täuschung

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Wenn man heute auf den Abschluss des Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrags zurückblickt, tut man das mit einer gewissen Verwunderung. Denn aus heutiger Sicht würde man seinen Bruch von vorneherein fürchten. Es ist schon fast nicht mehr vorstellbar, dass aus der damaligen Sicht der Sowjetunion der Westen als verlässlicher Verhandlungspartner galt. Der Augenblick, an dem der Vertrag geschlossen wurde, lag am Endpunkt einer langen Entwicklung, die beginnend mit der Kuba‐​Krise, langsam und mühevoll Vertrauen aufgebaut hat. Was wir allerdings alle wissen, ist, dass genau dieses Vertrauen, die Erwartung, dass Verträge abgeschlossen werden, um eingehalten zu werden, heute vollständig zerstört ist.

Vor dem Hintergrund der damaligen Erfahrung galt es zumindest im Verhältnis der großen Mächte untereinander als gegeben: wenn in einem Vertrag geschrieben steht, dass vom wiedervereinten Deutschland nur Frieden ausgehen solle, dann konnte der sowjetische Vertragspartner davon ausgehen, dass diese Vorgabe auch umgesetzt würde. Diese Formulierung war so nahe an einer Vorgabe der Neutralität, wie das unter Berücksichtigung der Souveränität möglich ist, die dieses Deutschland, das Gegenstand des Vertrages war, durch ihn erlangen sollte.

Wir wissen, dass die Menschen beider deutscher Staaten um die Chance betrogen wurden, diese subtile Vorgabe in freier Entscheidung umzusetzen. Denn auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erforderte eine neue Verfassung für den Fall einer Wiedervereinigung, und alle Anzeichen sprechen dafür, dass eines der Ergebnisse einer Verfassungsdiskussion ein neutraler deutscher Staat gewesen wäre. Schon allein weil einzig die Neutralität es vermieden hätte, dass an Stelle einer Wiedervereinigung eine Unterwerfung des einen Landesteils durch den anderen geschieht.

Um zu bestimmen, wie groß – angesichts des von den Vorgaben des Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrags massiv abweichenden weiteren Entwicklung – die tatsächliche historische Verantwortung der damaligen sowjetischen Führung ist, muss mit Sicherheit weiter geforscht werden. Der Einigungsvertrag, der zur Grundlage einer feindlichen Übernahme wurde, lag zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrags bereits vor. Wie tief wurde er geprüft, wie weit beeinflusste dieser fast vollständig von westlicher Seite verfasste Vertrag die Verhandlungen?

Es gibt einen Punkt, an dem im Einigungsvertrag eine klare Position zu finden ist: der Artikel 131 wurde im Beitrittsgebiet »vorerst nicht in Kraft gesetzt«

Artikel 131 Grundgesetz war jene Ergänzung, die 1951 unter Adenauer sämtlichen Beamten der Nazizeit einen Rechtsanspruch auf ihre alte Position verlieh.

In der Frage einer neuen, gemeinsamen Verfassung machten weder der Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrag noch der Einigungsvertrag klare Vorgaben, auch wenn der Einigungsvertrag diese wichtige Frage zumindest noch offen ließ: innerhalb von zwei Jahren sollten sich die »gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland […] mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung« befassen. Es kam nie zu einer Verfassungsdebatte und einer Volksabstimmung.

Ähnlich verhält es sich mit dem Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen der DDR. Ihre »Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen« sollte geregelt oder festgestellt werden, nach Konsultationen mit den entsprechenden Vertragspartnern. Diese sind jedoch in vielen Fällen nicht erfolgt.

So wurde der Sitz der DDR in der UN schlicht mit einem Schreiben aufgegeben, in dem Lothar de Maiziére mitteilte, er sei nicht mehr »nötig«. Nicht nur hier, auch an anderen Stellen bleibt offen, wie rechtsgültig derartige Handlungen sein können. Für die UN‐​Vertretung laufen bereits Vorbereitungen, sie wieder in Anspruch zu nehmen.

Während der Artikel 131 Grundgesetz von den Verhandelnden offenkundig als das erkannt wurde,

was er war, zeigen sich in Artikel 17 des Einigungsvertrags bereits klare Anzeichen für die künftige Richtung – es wurde festgelegt, die »Opfer des SED‐​Unrechts‐​Regimes« zu rehabilitieren und zu entschädigen. Im Interesse einer wirklichen Vereinigung hätten aber auch die Opfer beispielsweise der Adenauer Kommunisten Verfolgung rehabilitiert werden müssen – vielfach waren in der Bundesrepublik damals in den Prozessen auch Renten wegen Verfolgung als Nazigegner aberkannt worden.

Ein anderer Punkt, der im Erleben die zentrale Demütigung der DDR‐​Bürger war, steht im Einigungsvertrag anders, als er letztlich umgesetzt wurde: denn akademische wie berufliche Abschlüsse hätten nach dem Text des Einigungsvertrags anerkannt werden müssen.

So beispielsweise Artikel 37 Absatz 3: »Prüfungszeugnisse nach der Systematik der Ausbildungsberufe und der Systematik der Facharbeiterberufe und Abschlussprüfungen und Gesellenprüfungen in anerkannten Ausbildungsberufen stehen einander gleich.«

Die Hintertür fand sich in einem halben Satz in Absatz 1 – die Abschlüsse würden anerkannt, »wenn sie gleichwertig sind«. In der Praxis wurde dann erklärt, sie seien es nicht, und nur bei einzelnen Ausnahmen wurde die ursprünglich vereinbarte und unterzeichnete Regelung umgesetzt.

Es gibt einen Punkt in der Protokollerklärung, der damals die sowjetische Seite hätte hellhörig werden lassen müssen, weil er eine massive Beeinflussung der anstehenden Wahlen darstellte:

»Die Parteien haben Anspruch auf Chancengleichheit bei der Wahlvorbereitung und im Wahlwettbewerb. Geld oder geldwertes Vermögen, das den Parteien weder durch Mitgliedsbeiträge noch durch Spenden oder eine staatliche Wahlkampfkostenerstattung zugeflossen ist, insbesondere Vermögensgegenstände ehemaliger Blockparteien und der PDS in der Deutschen Demokratischen Republik, dürfen weder zur Wahlvorbereitung noch im Wahlkampf verwendet werden.«

Diese Bestimmung dürfte bei den Verhandlungsführern der Übergangsregierung aus schlichtem Eigeninteresse auf Gegenliebe gestoßen sein; tatsächlich bedeutete sie aber, dass die Parteien, die zuvor in der DDR existiert hatten, im ersten massiv von Werbung bestimmten Wahlkampf mitnichten eine Chance hatten. Das war erst ein Anzeichen für die künftige Entwicklung, aber ein deutliches. Es wäre eine Herausforderung, in den sowjetischen Archiven zu prüfen, wie weit derartige Anzeichen wahrgenommen und erkannt wurden.

Auch die Bestrebung, das Land – entgegen der anzunehmenden Mehrheit in beiden Teilen – zu einer Westbindung zu drängen, lässt sich dem Einigungsvertrag bereits entnehmen. Wobei dieser entscheidende Punkt aus den Anlagen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen durchaus wert ist, studiert zu werden.

Die Verträge, die die Westbindung der jungen Bundesrepublik zementierten, wurden mit dem Einigungsvertrag nicht in Frage gestellt. Es gibt in besagter Anlage nur eine Sonderregelung – das »in Artikel 3 des Vertrages genannte Gebiet«, also »in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg‐​Vorpommern, Sachsen, Sachsen‐​Anhalt und Thüringen sowie in dem Teil des Landes Berlin«, der die Hauptstadt der DDR war, ist von der Geltung all dieser Verträge ausgenommen. Und zwar im Gegensatz zu einer Reihe weiterer Regelungen, die zeitlich begrenzt sind, ohne jede Zeitbegrenzung.

Was zweierlei bedeutet – die sowjetische Führung hätte vor der Unterzeichnung des Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrags bereits wissen können, dass eine Neutralitätsdebatte nie beabsichtigt war; und – das ist der Aspekt, der für uns heute im Zusammenhang mit dem Schicksal des Vertrags interessant ist – bezogen auf das gesamte Gebiet der DDR wäre gründlich zu prüfen, ob eine Einbeziehung in die Strukturen der NATO in irgendeiner Form nicht einen Verstoß auch gegen den Einigungsvertrag darstellt.

Allerdings ist die Geschichte mit den Verträgen noch nicht zu Ende. Bereits am 25. April 1990 fand das Attentat gegen Oskar Lafontaine, zu diesem Zeitpunkt Kanzlerkandidat der SPD für die im Dezember 1990 angesetzte erste gemeinsame Bundestagswahl. Die nächsten beiden Anschläge waren erfolgreich – der gegen Alfred Herrhausen, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, am 30.11.1990, und der gegen Detlev Rohwedder, den ersten Präsidenten der Treuhandanstalt, am 1. April 1991. Alle drei Handlungen hatten einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des als »Wiedervereinigung« etikettierten Übernahmeprozesses. Im Rückblick kann man an einen Zufall nicht mehr glauben. Die Weichenstellung für die deutsche Zukunft erfolgte unter Einsatz politischer Gewalt.

Wie hatte die sowjetische Führung damals den Anschlag auf Lafontaine bewertet?

Lafontaine war jener Kanzlerkandidat, der die Wirtschaft der DDR bewahren wollte; zu diesem Zeitpunkt führte er in den Umfragen in der BRD; nach dem Anschlag konnte er monatelang keinen Wahlkampf führen. Die Beschränkungen aus dem Einigungsvertrag hinderten insbesondere die PDS am Wahlkampf – jene DDR‐​Parteien, die sich von Westparteien hatten übernehmen lassen, hatten hingegen reichlich Wahlkampfmittel. Die Kombination dieser beiden Faktoren machte einen wirklich demokratischen Prozess unmöglich.

Ahnte man, wie sehr die mögliche Entscheidung über das Binnenverhältnis der beiden Landesteile und die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit des DDR‐​Gebiets durch derartige Eingriffe manipuliert würde? Besaß sie Informationen darüber, ob die erwähnten Anschläge das Ergebnis ausländischer Einflussnahme waren?

Aus heutigem Blickwinkel ist unübersehbar, dass die weitere Entwicklung letztlich beide ursprüngliche Teile um die Souveränität brachte, die sie in den Prozess eingebracht haben; es ist nur schwer zu definieren, welchen Anteil daran einzelne Details hatten, wie z.B. der freiwillige Abzug der sowjetischen Truppen, ohne die Spiegel gleiche Handlung auch auf bundesdeutschem Gebiet vorauszusetzen, oder welchen Anteil daran der Lissabon‐​Vertrag hatte, den Deutschland ebenfalls ohne Volksentscheid unterzeichnete, obwohl – wie an der gegenwärtigen EU‐​Außenpolitik, die sich als politischer Arm der NATO zeigt, zu sehen ist – auch hier entscheidende Souveränitätsrechte preisgegeben wurden. Ein weiteres Mal im Interesse der Vereinigten Staaten und gegen das Deutsche.

Das alles zu klären ist Aufgabe für Historiker, so wie es eine Aufgabe für Juristen wäre, die Rechtswirksamkeit beider erwähnter Verträge, des Zwei‐​plus‐​Vier‐​Vertrags ebenso wie des Einigungsvertrags, zu überprüfen. Auch der Einigungsvertrag beinhaltet in der Eingangsformel die Verpflichtung zum Frieden und das »Bestreben, durch die deutsche Einheit einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten«.

Rüstungstransporte durch das Gebiet der DDR, um den Vorgaben von NATO und EU folgend, Krieg gegen Russland zu führen, sind mit keinem der beiden Verträge vereinbar. Was Teil der politischen Debatte in Deutschland werden müsste – ein Volksbegehren in den oben benannten Gebieten.

Auch wenn die materiellen Voraussetzungen noch nicht gegeben sind, diese Vertragsbrüche zu korrigieren – sich damit auseinanderzusetzen, ist keine Befassung mit einem abgeschlossenen Kapitel der Vergangenheit, sondern ein Beitrag dazu, dass vielleicht doch noch ein deutscher Beitrag zu einer europäischen Friedens‑, nicht Kriegsordnung möglich wird, in der souveräne Staaten auf gleicher Ebene, befreit von den Fesseln der Brüsseler Bürokratie, einen Weg in eine sichere Zukunft und ihren Platz in einer Welt souveräner Gleichheit finden.

Nationalkomitee Freies Deutschland

Bild: Außenministertreffen – Seinen letzten Morgen erlebte der Kontrollpunkt der Westalliierten im Herzen Berlins, der als »Checkpoint Charlie« in die Geschichte eingegangen ist. Zum Auftakt der Zwei‐​plus‐​Vier‐​Außenminstergespräche wurde das Wachgebäude in Anwesenheit hoher Politprominenz demontiert und – »ging in die Luft« (Bundesarchiv, Bild 183‑1990‐​0622 – 028 /​Grimm, Peer /​CC‐​BY‐​SA 3.0)

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