Palästinensischer Widerstand – ein Webinar mit Dr. Tareq Baconi

Im April 2024 organisierte die Student Coalition Berlin ein englischsprachiges Webinar mit Tareq Baconi, einem Historiker vom Netzwerk für palästinensische Politik Al‐​Shabaka und Autor des Buches Hamas Contained: The Rise and Pacification of Palestinian Resistance (Hamas eingedämmt: Der Aufstieg und die Befriedung des palästinensischen Widerstands), das 2018 bei Stanford University Press erschien.

Dieser Beitrag fasst zusammen, was es im Webinar zu lernen gab. »[M]« ist eine Repräsentation des Webinar‐​Moderators und »[B]« eine Repräsentation Baconis. Was diese Repräsentationen in Deutsch sagen, sind – Zeitmangel für eine 1:1‑Übersetzung geschuldet – zusammenfassende Interpretationen dessen, was die echten Beteiligten sagten, nicht Zitate. Zur Kontrolle und zum »Nachschlagen« von Details sind Zeitpositionen im Original‐​Video des Webinars angegeben.

0:00 [M] Wir sind eine Gruppe Studierender unterschiedlicher Fachbereiche, die sich über die Ereignisse in Palästina/​Israel und den Diskurs darüber in Deutschland ernsthafte Sorgen machen. Aufgrund zunehmender Repressionen sahen wir uns bei der Organisation dieses Webinars gezwungen, anwaltlichen Rat einzuholen, um die rechtlichen Risiken abschätzen zu können, die entstehen, wenn man öffentlich über die Hamas spricht. Die Behinderung der Wissensentwicklung und ‑vermittlung und Förderung von Selbstzensur, wie wir sie zur Zeit erleben, halten wir in einem demokratischen Land für inakzeptabel – ebenso auch die Gesetzesinitiative des Berliner Senats, Exmatrikulationen aus politischen Gründen zu ermöglichen, gegen die zu protestieren wir aufrufen.

Trotz dieser Herausforderungen halten wir an unserer Vortragsreihe als Akt des Widerstands fest. Ich möchte Dr. Tareq Baconi willkommen heißen. Zunächst würden wir gern etwas über den akademischen Weg erfahren, der Sie dazu führte, politische Bewegungen Palästinas und speziell die Hamas zu erforschen und welche Methodologie Sie anwandten, um Daten darüber zu sammeln.

4:35 [B] Bevor ich antworte, möchte ich mich herzlich für die Einladung bedanken und für Ihre Bemühungen, trotz aller Schwierigkeiten den Freiraum für geistige Auseinandersetzungen zu erhalten, der ein Grundpfeiler jeder Demokratie ist.

Hamas als Wahlsiegerin und Forschungsgegenstand

5:55 [B] Ich bin gebürtiger Palästinenser. Alle meine Großeltern wurden 1948 vertrieben. Sie wuchsen außerhalb Palästinas auf und waren immer im Kampf für die Befreiung Palästinas engagiert. Als ich 2006 meinen Master in Internationalen Beziehungen abschloss, fanden gerade Wahlen in den besetzten palästinensischen Gebieten statt, in der Westbank und im Gazastreifen sowie in Ost‐Jerusalem.

Im Laufe dieser Wahlen geschah etwas sehr Merkwürdiges: die Partei, die der Großteil der westlichen Welt, sagen wir mal, verteufelte, war genau die Partei, die sich einem demokratischen Sieg zu nähern schien, und so war ich sehr neugierig auf diese Diskrepanz zwischen der Darstellung und dem Verständnis der Hamas und der Tatsache, dass sie bei den ersten demokratischen Wahlen in Palästina seit Jahrzehnten die Bewegung war, die an Zustimmung gewann.

Das war mein Einstieg in das Studium der Hamas. Die Frage, die ich mir stellte, lautete: Wie kann sich diese islamistische Partei an demokratischen Wahlen beteiligen und warum wählen die Palästinenser*innen sie? Wie definiert sich die Hamas sowohl als Organisation, die sich für den Islam jenseits des Nationalstaats interessiert, als auch als nationalistische Organisation?

Ich habe den Zeitraum zwischen 2000 und 2010 untersucht, der in der Geschichte der Hamas von entscheidender Bedeutung ist, da sich die Bewegung in dieser Zeit von einer primär militärischen Bewegung, die außerhalb des politischen Systems existiert, zur Regierungsorganisation im Gazastreifen entwickelt.

2014, als ich meine Dissertation einreichte, war das Jahr, in dem Israel einen seiner brutalsten Angriffe auf den Gazastreifen startete. Daraufhin entstand bei akademischen Verlagen ein Interesse, die Dissertation in ein Buch umzuwandeln. Für das Buch weitete ich den zeitlichen Rahmen auf eine 30‐​jährige Geschichte der Bewegung aus: von 1987, als die Bewegung gegründet wurde, bis 2017.

Ein paar Worte zur Methodik: Es ging im Wesentlichen darum, den Diskurs der Bewegung zu studieren, zu versuchen, die Aussagen der Bewegung zu verstehen, die Veröffentlichungen der Bewegung zu nutzen, um zu verstehen, wie sie bestimmte Wörter verwenden und was diese Wörter über ihre Politik aussagen.

Der Grund für diese Vorgehensweise der Diskursanalyse war, dass ich als jemand palästinensischer Abstammung anfangs nicht das Recht hatte, nach Palästina zu reisen. Aber nachdem ich 2014 im Vereinigten Königreich eingebürgert wurde und einen britischen Pass besaß, erhielt ich schließlich die Erlaubnis, nach Palästina einzureisen. Ist es nicht eine Ironie, dass die Kolonialmacht meiner Vorfahren mir das Recht auf Einreise nach Palästina gewähren muss?

Aufgrund dessen konnte ich zwei Dinge tun: Ich führte direkte Interviews mit Mitgliedern des politischen und des sozialen Arms der Hamas im Gazastreifen und im Westjordanland, und ich führte auch Interviews in Jordanien, Syrien, im Libanon und in Katar. Außerdem erhielt ich Zugang zu den internen Archiven der Hamas. So war ich in der Lage, alle internen Dokumente und Memos einzusehen. Das daraus entstandene Buch basiert auf diesen Recherchen und ist eine umfassende Geschichte der Bewegung über einen Zeitraum von 30 Jahren.

12:15 [M] Ich bin neugierig: Wie war deren Einstellung zu den Interviews und zur Öffnung ihrer internen Archive?

12:30 [B] Seit etwa den späten 1990er und frühen 2000er Jahren versucht die Hamas sehr aktiv, ihr politisches Denken und die Beweggründe für ihre Aktivitäten darzulegen. Das lag zum Teil daran, dass sie verstand, dass es im Westen ein bedeutendes Narrativ gab, das die Sichtweise auf die Bewegung kontrollierte. So hatte ich keine großen Schwierigkeiten, Zugang zu den Mitgliedern zu bekommen oder sie zu interviewen. Sie sind offen und bereit, mit Forschenden und Akademiker*innen sowie mit Medienvertretenden zu sprechen.

Wenn man vergleichsweise die Hisbollah untersucht, ist es etwas komplizierter, weil die Hisbollah eine ausgereiftere Organisation ist. Sie ist anspruchsvoller in der Art und Weise, wie sie mit diesen Themen umgeht, und man muss sich über ihre Pressestelle bewerben, um zu versuchen, bestimmte Interviews zu vereinbaren. Zumindest als ich meine Nachforschungen anstellte, war das bei der Hamas noch nicht der Fall.

Muslimbruderschaft, PLO und erste Intifada

14:10 [M] In Ihren Recherchen erklären Sie, dass die Hamas nicht als bewaffnete militärische Bewegung begann, sondern erst später das Vakuum des bewaffneten Widerstands füllte, nachdem die PLO zur Diplomatie übergegangen war und den Oslo‐​Prozess akzeptiert hatte. Könnten Sie erklären, wie es zu diesem Wandel kam, und etwas über den Hintergrund der Hamas sagen?

14:50 [B] Die Hamas ist in der Muslimbruderschaft verwurzelt, die 1928 in Ägypten gegründet wurde und in gesamt Westasien und darüber hinaus präsent ist. In den 1940er und 1950er Jahren gründete die Muslimbruderschaft Abteilungen in Palästina. Die palästinensische Muslimbruderschaft konzentrierte sich, wie die Muslimbruderschaft im Allgemeinen, auf die Islamisierung. Das bedeutet, dass sie die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur anstrebt, eine tugendhafte islamische Gesellschaft schaffen will, sich für Wohltätigkeitsorganisationen einsetzt, für Moscheen, für soziale Aktivitäten. Das war in den ersten drei Jahrzehnten der Muslimbruderschaft der Schwerpunkt, die Okkupation Palästinas war zweitrangig.

Die Idee war, dass durch die Islamisierung die Befreiung kommen wird. Wenn also eine islamische Gesellschaft entwickelt wird, dann wird das zur Befreiung führen. Deshalb hatten die israelischen Besatzer in den ersten Jahrzehnten auch nichts gegen die Aktivitäten der Muslimbruderschaft, denn es waren hauptsächlich soziale Aktivitäten.

In den späten 1970er und 1980er Jahren geschahen jedoch zwei Dinge.

Zum einen rückte die PLO von ihrem bewaffneten Widerstand ab. Ursprünglich war die PLO eine antikoloniale Bewegung, die im Kontext der weltweiten antikolonialen Bewegungen entstand und sich dem bewaffneten Widerstand zur Befreiung des historischen Palästina verschrieben hatte. In den 1970er Jahren war aus Sicht der PLO klar, dass dieses Ziel nicht mehr erreichbar war, und so ging die PLO dazu über, die Waffen niederzulegen und zu erklären, dass sie den Staat Israel anerkennen würde. Anstatt durch bewaffneten Widerstand für die vollständige Befreiung Palästinas zu kämpfen, ging sie dazu über, die Teilung Palästinas zu akzeptieren, also den Staat Israel auf 78 Prozent des Landes des historischen Palästina anzuerkennen, und beschloss, sich für die Gründung eines palästinensischen Staates auf einem Teil Palästinas einzusetzen.

Zum anderen wurden die Palästinenser*innen unter der Besatzung durch deren Brutalität zunehmend beunruhigt, und so kam es in den 1980er Jahren vermehrt zu Widerstand, nicht unbedingt zu organisiertem politischem Widerstand, sondern zu Widerstand von Palästinenser*innen im Allgemeinen, die sich gegen die Besatzung wehrten. Dies mündete 1987 in die erste palästinensische Intifada.

Beides zusammen erzeugte einen gewissen Druck auf die Muslimbruderschaft, sich von ihrer Fokussierung auf die Islamisierung in Richtung Befreiung zu bewegen. Die Muslimbruderschaft entschied, dass sie sich zuerst auf die Befreiung und dann auf die Islamisierung konzentrieren müsse. So beschlossen die Führer der Muslimbruderschaft, eine Organisation zu gründen, die unter dem Namen »Hamas« bekannt wurde und die sich auf die Befreiung Palästinas konzentrieren sollte, während die soziale Infrastruktur und die Entwicklung einer tugendhaften palästinensischen Gesellschaft zweitrangig waren.

Als die Hamas 1987 ins Leben gerufen wurde, war sie nicht ein Ableger der Muslimbruderschaft, sondern übernahm schlussendlich die gesamte Infrastruktur der Muslimbruderschaft. Die Hamas, so wie wir sie heute verstehen, ist eine Fortentwicklung der Muslimbruderschaft in Palästina. Es handelt sich um eine Partei, die weiterhin auf islamischen Werten basiert und im Gegensatz zur PLO die Idee ablehnt, dass das historische Palästina vom Fluss bis zum Meer jemals geteilt werden kann. Sie bleibt der Idee verpflichtet, im bewaffneten Widerstand ein Recht zur Befreiung von dem zu verstehen, was sie als koloniales Gebilde in Palästina ansieht, nämlich den Staat Israel.

Eines der Argumente, die ich in dem Buch anführe, ist, dass es sich um zyklische Entwicklungen handelt. Wenn eine Organisation ihre Niederlage eingesteht und die Waffen niederlegt, wird eine andere Organisation aufstehen und das Projekt der Befreiung Palästinas weiterführen. Wenn wir das so verstehen, dann sehen wir, dass die palästinensischen politischen Triebkräfte, die für die Befreiung kämpfen, beständige Werte sind, die für den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts galten. Von der Ankunft der ersten Zionisten*innen in Palästina bis heute gibt es eine tiefe palästinensische Verpflichtung, die Kolonisierung Palästinas abzulehnen und sich weiterhin für den bewaffneten Widerstand zur Befreiung einzusetzen. So entstand in den 1980er und dann in den 1990er Jahren die Hamas als eine Partei, die sich dem bewaffneten Widerstand verpflichtet hat.

20:30 [M] Und in diesem Zusammenhang versuchten sie, in die Oslo‐​Verhandlungen einzugreifen?

Oslo‐​Abkommen und zweite Intifada

20:45 [B] Richtig. Als die PLO die Waffen niederlegte und die Teilung Palästinas akzeptierte, wurde dies von der internationalen diplomatischen Gemeinschaft begrüßt. Das führte zum Beginn des so genannten Friedensprozesses, der ab 1993 in den Osloer Abkommen gipfelte. Die Osloer Abkommen waren ein auf fünf Jahre angelegter Prozess, in dem die dabei geschaffene Palästinensische Autonomiebehörde von einem Regierungsorgan unter Besatzung in einen palästinensischen Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung übergehen sollte.

Zumindest haben es die Palästinenser*innen so verstanden. In den Osloer Abkommen selbst wurde nie eine palästinensische Staatlichkeit oder Souveränität definiert.

Die Hamas war in zwei Hauptaspekten dagegen. Sie war gegen die Idee, dass Palästina geteilt werden kann, weil sie als islamistische Bewegung an den Waqf glaubt, was bedeutet, dass Palästina eine islamische Stiftung ist, die für zukünftige muslimische Generationen auf ewig erhalten werden muss. Es steht also niemandem zu, Palästina aufzuteilen.

Aber sie sind auch gegen Verhandlungen aus einer Position der Schwäche heraus, und das war es, was die PLO ihrer Meinung nach tat, dass sie sich auf einen Friedensprozess aus einer Position der Schwäche heraus einließ, was bedeutete, dass keine der grundlegenden Forderungen des palästinensischen Kampfes berücksichtigt wurde, insbesondere nicht das Recht auf Rückkehr der Geflüchteten, die in der Nakba vertrieben worden waren, ein international verbrieftes Recht.

Die Bewegung war also der Meinung, dass die PLO sich nicht mehr auf die Befreiung, sondern auf den Aufbau eines Staates konzentrierte, und das war ein Übergang, den die Bewegung ablehnte. So wurde sie zu einer Partei, die gegen die Osloer Abkommen und gegen Verhandlungen war und sich stattdessen dafür einsetzte, diesen Prozess zu untergraben. Sie wurde zu einer Spoiler‐​Bewegung, was in der Politik der internationalen Beziehungen heißt, dass eine Bewegung versucht, mit militärischen Mitteln einen Friedensprozess oder einen diplomatischen Prozess zu stören.

23:15 [M] Vielleicht sollten wir nun, da wir eine mehr oder weniger klare Vorstellung von den Veränderungen und der Konfiguration während der Oslo‐​Abkommen haben, ein wenig weitergehen und über den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 sprechen.

2005 wurden die israelischen Siedlungen im Gazastreifen einseitig aufgelöst und Israel verlegte sein Militär entlang der Grenze. In gewisser Perspektive bedeutete das nicht das Ende der Besatzung, sondern vielmehr eine Formveränderung der Besatzung als Blockade. War der Rückzug ein Sieg für die bewaffneten Gruppen oder war er eine Taktik zur Durchsetzung eines neuen Kontrollsystems oder beides?

24:05 [B] Es war beides.

Um den Kontext zu verdeutlichen: Dies war die Zeit während der zweiten Intifada. Im Gegensatz zur ersten war die zweite Intifada von Beginn an bewaffnet.

Israel hatte auf die anfängliche Mobilisierung der palästinensischen Zivilgesellschaft im Jahr 2000 mit erheblicher Waffengewalt geantwortet, was sehr schnell zu einer Militarisierung der Intifada führte.

Die bewaffneten Gruppen, von denen Hamas eine war neben zum Beispiel Fatah Tanzim und PFLP und anderen, begannen sofort, auf die israelische Waffengewalt mit bewaffnetem Widerstand zu reagieren, vor allem mit der Taktik der Selbstmordattentate. Die Gruppen glaubten, dass die israelische Öffentlichkeit, wenn sie durch den bewaffneten Widerstand genug Angst bekäme, Druck auf ihre Regierung ausüben würde, die Besatzung zu beenden, wozu sie sich im Rahmen der Zweistaatenregelung verpflichtet hatte, und die Entstehung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels zuzulassen. Das war der eigentliche Gedanke des bewaffneten Widerstands und die Art und Weise, wie die politischen Fraktionen mit ihm umgingen. Aber so haben sich die Dinge nicht entwickelt.

9/​11 und Gaza‐Blockade

25:30 [B] Im Jahr 2001, nach dem 11. September, vollzog sich ein Wandel in der Weltpolitik. Die Art und Weise, wie sich dies in Palästina manifestierte, erlaubte es der israelischen Regierung zu argumentieren, dass der bewaffnete Widerstand, mit dem sie konfrontiert war, dem bewaffneten Widerstand der USA gegen Al‐​Qaida ähnelte. Sie konnte den bewaffneten palästinensischen Widerstand in den Rahmen des globalen Terrorismus einordnen. Anstatt die Besatzung aufzulösen, eroberte das israelische Militär unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung insbesondere die Flüchtlingslager im Westjordanland, und versuchte, die politische und militärische Infrastruktur des palästinensischen Befreiungskampfes vollständig zu zerstören.

Damit wurde, nachdem Oslo gescheitert war, ein weiterer diplomatischer Prozess unter der Bush‐​Regierung in Gang gesetzt. Die Regierung Sharon beschloss, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die dort gegründeten Siedlungen zu entfernen – umfassend etwa 8.000 Siedler*innen, die das fruchtbarste und begehrteste Land im Gazastreifen kontrollierten, wobei zwei Millionen Palästinenser*innen unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, damit die Siedler*innen im Gazastreifen leben konnten.

In den Augen der Bush‐​Regierung war dieser Rückzug ein friedliches Unterfangen, um den Weg für einen palästinensischen Staat zu ebnen. Zumindest wurde dies im Westen so dargestellt. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Rekonfiguration der Besatzung.

Viele glauben, die Blockade des Gazastreifens habe mit der Machtübernahme der Hamas begonnen. Tatsächlich wurde die Blockade zu dem, was wir heute darunter verstehen, bevor die Hamas als politische Partei auftrat. Bereits bevor die Hamas zu den Wahlen antrat, waren die Palästinenser*innen auf Genehmigungen der israelischen Behörden angewiesen, um den Gazastreifen zu verlassen und zu betreten. Auch eine Kontrolle der Waren in und aus dem Gazastreifen bestand. Die Wirtschaft des Gazastreifens war bereits stark eingeschränkt. Anstatt ein Weg zum Frieden und zum Aufbau eines palästinensischen Staates, war der Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen eine Methode, den Gazastreifen zu kontrollieren und vom Rest der palästinensischen Gebiete, vor allem dem Westjordanland und Ostjerusalem, abzutrennen.

Man mag sich fragen, weshalb die Israelis daran interessiert waren, den Gazastreifen zu räumen. Der Hauptgrund ist demografischer Art. Im Gazastreifen leben zwei Millionen Palästinenser*innen. Die meisten von ihnen sind Geflüchtete und deren Nachkommen, die das Recht haben, in ihre Häuser im heutigen Israel zurückzukehren, und die meisten von ihnen sind heute unter 16 Jahre alt. Würde der Gazastreifen offen unter israelische Besatzung gestellt, käme heraus, dass Israel ein Staat ist, der zwar behauptet, jüdisch zu sein, der aber über mehr Nicht-Jüd*innen als Jüd*innen herrscht. Aber wenn man den Gazastreifen mit zwei Millionen Palästinenser*innen los wird, kann Israel behaupten, ein jüdischer Mehrheitsstaat zu sein und sagen: der Gazastreifen ist nicht unser Problem; wir haben uns zurückgezogen; es ist keine Besatzung.

Das Problem dabei ist, wie die UNO nach dem Rückzug sehr schnell feststellte, dass der Gazastreifen weiterhin besetzt ist, auch wenn es keine Siedlungen dort gibt, weil Israel alles kontrolliert, alle Formen des Lebens im Gazastreifen.

Zugleich – und deshalb sage ich: es ist beides – sahen die Hamas und die anderen Widerstandsgruppen den Rückzug als Erfolg an, denn anders als im Westjordanland kann die israelische Armee im Gazastreifen nicht tagtäglich in die Häuser der Menschen eindringen und Palästinenser*innen verhaften und terrorisieren. Es gab also sogar innerhalb dieses Gefängnisses ein gewisses Maß an Freiheit für die Palästinenser*innen – fast so etwas wie Freiheit oder Befreiung innerhalb einer Gefängniszelle, wenn das Sinn macht.

31:20 [M] Entschuldige, wenn ich ein wenig nachhake. Aber wie war die Beziehung zwischen PLO und Hamas zu diesem Zeitpunkt und wie hat sie sich von da an entwickelt?

31:30 [B] Die Beziehungen zwischen der PLO und der Hamas waren in den 1990er Jahren ziemlich angespannt. Es war kein einfaches Verhältnis, denn die PLO setzte sich für diplomatische Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung ein, während die Hamas für den bewaffneten Widerstand für die vollständige Befreiung Palästinas eintrat.

Als der Rückzug erfolgte, versuchte die PLO auf verschiedene Weise, sich in den diplomatischen Prozess einzubringen, den die Bush‐​Regierung damals einzuleiten versuchte, während die Hamas sich darauf konzentrierte zu sagen, dass wir uns weiterhin für die Befreiung einsetzen müssen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich auch das Konzept der Hamas für die Befreiung gewandelt. Die Bewegung verstand unter Befreiung nicht mehr die vollständige Befreiung des historischen Palästina. Nach dem 11. September verstand sie, wie ihre bewaffneten Angriffe eine Situation schufen, in der Israel aktiver zurückschlug und dass Befreiung nicht die vollständige Befreiung des historischen Palästina bedeutete, sondern lediglich die Beendigung des Siedlungsprojekts. Dabei stand die Bewegung im Widerspruch zur Vorstellung der PLO, dass wir uns auf eine Verhandlungslösung einlassen können, um eine Zweistaatenlösung zu schaffen. Sie glauben, dass nur der bewaffnete Widerstand dies ermöglichen würde.

Als der Rückzug aus dem Gazastreifen stattfand, geschahen zwei Dinge. Zum einen war aus israelischer Sicht klar, dass er ein Mittel war, um den Friedensprozess zu untergraben, auch wenn der Rückzug hier im Westen als eine friedliche Maßnahme angesehen wurde. Scharons Berater Dov Weissglas sprach davon, dass dies eine Möglichkeit sei, den Friedensprozess zu stoppen und die Verwirklichung eines palästinensischen Staates zu stoppen.

Währenddessen drängte die Bush‐​Regierung auf etwas, das sie als »Demokratisierung der palästinensischen Selbstverwaltung« verstand. Wir schreiben das Jahr 2003. Die Bush‐​Regierung marschiert in den Irak ein und will »Demokratie« in Westasien schaffen. Sie benutzten dieselbe Sprache in Palästina und sagten: Bevor es einen palästinensischen Staat geben kann, muss es ein »demokratisches« Projekt geben, muss es eine »Demokratisierung« der politischen Agenda in den palästinensischen Gebieten geben. Also riefen sie zu Wahlen auf und erwarteten, die PLO würde aus diesen Wahlen als Siegerin hervorgehen. Natürlich wissen wir heute, dass tatsächlich die Hamas die Siegerin war. Das führte zu großen Spannungen. Die PLO wollte in den Friedensprozess eintreten, die Hamas war dem bewaffneten Widerstand verpflichtet.

Operation »Al‐​Aqsa Flut«

34:50 [M] Es tut mir leid, dass wir uns nur in großen Schritten durch einen lange währenden Prozess bewegen, aber vielleicht können wir ein wenig in die Gegenwart springen, um mehr oder weniger zu verstehen, was jetzt passiert. Ich möchte fragen: Welche Ziele verfolgte die Hamas mit dem Angriff vom 7. Oktober? War das Ausmaß der israelischen Vergeltungsmaßnahmen Teil des Kalküls der Hamas? Bis heute sind mehr als 30.000 Menschen im Gazastreifen tot, und Tausende weitere leiden unter akutem Hunger und interner Vertreibung. In diesem Zusammenhang fragen wir uns: Was bezweckt die Hamas mit all dem?

36:10 [B] Antworten darauf sind noch nicht gut geklärt. Um die Frage zu beantworten, was die Hamas nach dem 7. Oktober tun wollte, müssen wir verstehen, wo die Hamas vor dem 7. Oktober stand. Sie hatte 2006 demokratische Wahlen gewonnen, und anstatt sich mit der Bewegung und ihrem demokratischen Wahlsieg auseinanderzusetzen, hat die israelische Regierung – unterstützt von den USA, der EU und anderen internationalen Gremien – einen Staatsstreich initiiert, bei dem sie, anstatt die Hamas regieren zu lassen, sofort versuchte, sie aus der Regierungsfunktion herauszubekommen.

Aufgrund der beschriebenen Spannungen zwischen der PLO und der Hamas führte diese Intervention zu einem Bürgerkrieg, der damit endete, dass die PLO auf das Westjordanland beschränkt blieb und die Hamas vor die Aufgabe gestellt war, die Regierung im Gazastreifen zu übernehmen, der unter einer Blockade stand. Das war eine erdrückende Blockade für die letzten 17 Jahre. Die Hamas wurde im Gazastreifen eingeschlossen – nicht nur die Hamas, sondern auch zwei Millionen Palästinenser*innen, die im Wesentlichen unter einer gewalttätigen und nach internationalem Recht illegalen Blockade gefangen gehalten wurden.

Während dieser Zeit, von 2007 bis 2023, befanden sich Israel und die Hamas in einem Zustand, den ich in meinem Buch als »gewaltsames Gleichgewicht« bezeichne. Jedes Mal, wenn die Situation im Gazastreifen zu erdrückend wurde, wenn die Palästinenser*innen im Gazastreifen nicht mehr ausreichend mit Lebensmitteln oder Waren versorgt werden konnten, wenn die wirtschaftliche Situation aufgrund der Blockade zu beunruhigend war, feuerte die Hamas Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel. Israel würde darauf mit Raketenbeschuss antworten, und das würde eine indirekte Verhandlung zwischen den beiden Parteien in Gang setzen, die letztlich dazu führen würde, die Beschränkungen der Blockade ein wenig zu lockern.

Das ist das Gleichgewicht, in dem wir uns in den letzten 16 Jahren befanden. Aus israelischer Sicht war dieses Gleichgewicht nachhaltig. Es gab keinen Grund, die Langlebigkeit der Blockade in Frage zu stellen, da sie alle paar Jahre eine Maßnahme namens »Rasenmähen« durchführten. Sie griffen militärisch an, untergruben die Stärke der Widerstandsgruppen in Gaza, hielten aber im Wesentlichen zwei Millionen Palästinenser*innen auf unbeschränkte Dauer unter der Blockade.

Für die Hamas und die Palästinenser*innen ist es eine Horrorvorstellung, dass die Blockade auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden könnte. Dies ist nicht nur eine Form der kollektiven Bestrafung von zwei Millionen Palästinenser*innen, sondern der Gazastreifen hat auch eine wachsende Bevölkerung, und die Mehrheit dieser Menschen ist unter 16 Jahre alt. Was passiert in fünf Jahren, wenn wir 2,3 Millionen Palästinenser*innen haben, oder in 10 Jahren, wenn wir 2,5 Millionen Palästinenser*innen haben? Die Vorstellung, dass die Blockade dauerhaft sein wird, war schon immer unhaltbar. Wir wussten immer, dass die Blockade irgendwann aufbrechen müsste.

Im Laufe dieser 16 Jahre probierte die Hamas verschiedene Wege, um die Situation zu meistern und die Blockade zu durchbrechen. 2018 gab es den Großen Marsch der Rückkehr. Das waren große, friedliche Proteste der Zivilgesellschaft, die gegen die Blockade mobilisieren wollten. Israels Reaktion darauf war, zu schießen.

Die Hamas versuchte es mit militärischen Mitteln, mit politischen Mitteln, mit friedlichen Protesten, um die Blockade aufzuheben. Auf der anderen Seite haben wir nicht nur eine israelische Regierung, die immer rechter wird und die Blockade fortsetzt, sondern auch eine israelische Regierung, die immer gewalttätiger wird, immer tödlicher, immer schrecklicher für die Palästinenser*innen, und die ihre Siedlungsaktivitäten ausweitet.

Zugleich »normalisierten« alle, auch die arabischen Länder, ihre Beziehungen zu Israel und taten so, als ob alles akzeptabel, friedlich und normal wäre.

Dies ist der Kontext, in dem der 7. Oktober stattfand. Das Ziel der Hamas war es, diese Realität zu stören, zu zeigen, dass die palästinensische Frage nicht vergessen ist, dass die Vorstellung, Israel könne seine Gewalt ungestraft fortsetzen, ohne dass die Palästinenser*innen in irgendeiner Weise zurückschlagen, unhaltbar ist. Was die Bewegung am 7. Oktober also tat, war zu zeigen, dass, solange die israelische Apartheid anhält, die israelischen Bürger*innen nicht sicher sind, dass es nur Frieden geben kann, wenn die Palästinenser*innen nicht mehr unter Apartheid leben. Das war das Ziel: das Paradigma, nach dem die Palästinenser*innen befriedet sind, zu zerbrechen.

42:10 [M] Sie verfolgen also im Grunde dieselbe Strategie gegenüber den kooperationsbereiten Ländern, die sie während der Osloer Abkommen gegenüber der PLO anwandten: die Störung eines Normalisierungsprozesses.

42:30 [B] Ja, sie stören einen Prozess. Genauer gesagt stören sie ein Paradigma, das besagt, dass es keine Verantwortlichkeit für israelische Gewalt gibt. Sie stören die Idee, dass wir alle so tun können, als ob wir über eine Zweistaatenlösung sprechen, während die Realität vor Ort von kolonialer Gewalt und dem Tod von Palästinenser*innen geprägt ist. Sie stören die Idee, so zu tun, als sei Israel eine »Demokratie«, während man zwei Millionen Palästinenser*innen in Gaza gefangen hält. Wie kann man ein Regime für eine Demokratie halten, das mehr Menschen rechtlos hält als das Regime Bürger*innen hat? Die Hamas stört dieses »Demokratie«-Verständnis.

Aber Sie haben eine sehr wichtige Frage gestellt, nämlich die nach den zehntausenden toten Palästinenser*innen. Hat die Hamas das vorausgesehen und wie ist es dazu gekommen? Was sind die Ziele der Hamas?

Ich glaube, dass die Hamas‐​Operation nicht darauf abzielte, ein solches Ausmaß an Tod und Gräueltaten zu verursachen, wie es in Israel am 7. Oktober geschah. Meiner Meinung nach hatte die Hamas eine viel engere Operation geplant, die sich auf militärische Ziele innerhalb Israels konzentrierte. Das ist natürlich nicht die Operation vom 7. Oktober, bei der es zu Massakern und Gräueltaten an Zivilisten kam. Und so war die israelische Reaktion entsetzlich. Die Reaktion scheint mir mehr zu sein als alles, was die Hamas erwartet haben könnte.

Doch unabhängig davon, was am 7. Oktober passierte, ist das Vorgehen der israelischen Regierung gegen das palästinensische Volk nach internationalem Recht in keinster Weise akzeptabel. Ich denke, die Verantwortung dafür liegt nicht bei der Hamas, sondern eindeutig bei der israelischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, die diesen Völkermord unterstützt.

45:30 [M] Ja, ganz sicher. Dies scheint im Grunde eine Situation zu sein, die auch für die Hamas aus dem Ruder gelaufen ist.

Worauf wird das alles hinauslaufen?

45:45 [B] Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage.

Ich würde sagen, mit dem Bruch des Paradigmas, von dem ich gesprochen habe, dieses Paradigma, dass alle in einer Zweistaatenlösung zusammenleben können, dass Israel nicht für seine Gewalt zur Rechenschaft gezogen werden muss, mit dem Bruch dieses Paradigmas sind zwei Möglichkeiten entstanden.

Eine Möglichkeit ist, dass es jetzt ein Erwachen auf der internationalen Bühne gibt, aber auch ein Erwachen innerhalb der israelischen und palästinensischen Welt, dass wir uns zu einer wirklichen Anti‐​Apartheid‐​Bewegung entwickeln müssen, dass es kein Zurück zum 6. Oktober gibt. Die Idee, dass wir alles zum 6. Oktober zurückversetzen können, existiert nicht mehr. Also gehen wir jetzt zu einer vollständigen Anti‐​Apartheid‐​Bewegung über, einer Bewegung, die darauf abzielt, den israelischen Staat zu dekolonisieren, da wir nicht länger unter Apartheid leben können. Das ist die eine Möglichkeit, und ich glaube, das ist eine Richtung, auf die der Bruch dieses Paradigmas durch die Hamas hinzielte.

Die zweite Möglichkeit besteht leider in dem, was sich leider abspielt. Die israelische Rechte versteht ebenfalls, dass es keine Rückkehr zum 6. Oktober gibt, aber für sie ist die Zukunft, die sie sich wünscht, keine Zukunft der Entkolonialisierung und der vollen Gleichheit und Gerechtigkeit. Es ist eine Zukunft der Jewish Supremacy, der »jüdischen Überlegenheit«, wobei der einzige Weg, das durchzusetzen, darin besteht, zu beenden, was 1948 begonnen wurde und was sie damals nicht beenden konnten: die ethnische Säuberung und Massenvernichtung der Palästinenser*innen. Das ist die Realität, die sich heute im Gazastreifen abspielt.

Im Moment ist die Situation schwierig und beängstigend, und es ist nicht ganz klar, wo wir am Ende landen werden. Aber ich denke, dass die Palästinenser*innen jetzt unbedingt die Führung übernehmen müssen, wenn es darum geht, wie wir in einem Prozess vorankommen können, der den Palästinenser*innen im Land des historischen Palästina volle Gerechtigkeit und volle Gleichberechtigung sichert.

Dieser Kampf wird an mehreren Fronten geführt werden, aber die größte ist im Moment die diplomatische: die diplomatische Gemeinschaft, die politische Gemeinschaft dazu zu bringen, zu verstehen, dass diese Sprache der Rückkehr zur Zweistaatenlösung, ohne Israel zur Verantwortung zu ziehen, ohne den Palästinenser*innen ihre vollen Rechte zu geben, keinen Frieden bringen wird. Vielmehr wird so etwas zu dem führen, was wir bereits erlebt haben. Ich denke an ein wirklich wichtiges Korrektiv, bei dem wir aus dem bisherigen Prozess herauskommen und einen, wie ich hoffe, palästinensisch geführten Anti‐​Apartheid‐​Kampf initiieren.

Fragen von Teilnehmenden

48:50 [M] Ich werde nun den Raum für Fragen öffnen. Ich werde mit dieser Frage beginnen, die natürlich sehr schwer zu beantworten ist: Wie lautet Ihre Prognose für Gaza nach dem Krieg? Israel ist bestrebt, die Hamas zu entmachten und durch eine andere Führung zu ersetzen. Einige Analyst*innen meinen, dass eine der Möglichkeiten ein Übergang unter saudischer Aufsicht mit Mohammed Dahlan, dem ehemaligen Fatah‐​Führer, als Nachfolger der Hamas wäre. Was ist Ihre Meinung dazu?

49:35 [B] Das ist eine wirklich wichtige Frage. Um sie zu beantworten, muss ich auf einen Zusammenhang hinweisen.

Die israelische Regierung will nicht, dass die Palästinenser*innen Souveränität erlangen, und so haben die aufeinander folgenden israelischen Regierungen in der Vergangenheit versucht, Mechanismen der Selbstverwaltung unter ihrer Kontrolle zu schaffen.

Das bekannteste Beispiel dafür ist die Palästinensische Autonomiebehörde. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist ein Teil des israelischen Staates, ein Teil der Besatzungsmacht. Sie stellt grundlegende Dienstleistungen bereit, für Gesundheit, Bildung, zivile Dienstleistungen, aber sie bietet den Palästinenser*innen keinerlei politische Souveränität. Auf diese Weise versucht jede israelische Regierung, die Palästinenser*innen unter ihrer Kontrolle zu fixieren: Sie gibt ihnen keine politischen Rechte, aber sie gibt ihnen zivile Rechte. Das ist das Modell, das dieser Frage zugrunde liegt.

Im Grunde genommen wird gefragt: Wie kann es eine Regierung in Gaza geben, die die Palästinenser*innen stabilisiert? Wie können wir eine Regierung einrichten, die freundlich genug ist, die israelische Vorherrschaft nicht zu gefährden, und die Palästinenser*innen ruhig hält? Gebt ihnen Gesundheitsfürsorge, gebt ihnen Bildung, und haltet sie unter israelischer Kontrolle.

Für »den Tag danach« gibt es mehrere Möglichkeiten: Es könnte die saudische Führung sein, es könnte die Palästinensische Autonomiebehörde des Westjordanlands sein, die in den Gazastreifen zurückkehrt, es könnte Mohammed Dahlan sein, der kommt und sagt, »wir werden die Macht übernehmen«, es könnten die Village Leagues, »Ortschaftsvorstände«, sein, ein historisches Konzept, bei dem in jedem Teil des Gazastreifens eine prominente palästinensische Familie mit den israelischen Behörden zusammenarbeitet, um zu versuchen, das Gebiet zu stabilisieren …

Es könnte jede Form des Regierens sein. Sie alle werden scheitern. Das ist die Lektion, die wir immer und immer wieder lernen. Aber das ist, was die israelische Regierung und die internationale Gemeinschaft einzurichten versuchen werden. Sie werden scheitern. Solange Israel als Apartheidstaat existiert, wird es Widerstand geben.

Der zweite Teil der Frage lautet: Was geschieht mit der Hamas? Israel sagt, dass es die Hamas militärisch zerstören will, dass es die Hamas im Gazastreifen nicht mehr geben wird und der Gazastreifen daher nach dieser Operation stabilisiert werden kann.

Die Hamas könnte militärisch geschwächt werden, sie könnte organisatorisch geschwächt werden, wahrscheinlich ist sie das bereits, aber es gibt keine Möglichkeit, die Hamas zu dezimieren, denn die Hamas ist vor allem eine Ideologie.

Wenn wir auf die erste Stunde zurückgehen, in der ich zu sprechen begann, sagte ich: Es gibt einige Bewegungen, die schwächer werden, andere Bewegungen werden erstarken. Selbst wenn die Hamas geschwächt ist, wird es eine andere politische Formation geben, die sich dem bewaffneten Widerstand für die vollständige Befreiung Palästinas verschreibt.

53:10 [M] Eine weitere Frage: Welche Veränderungen hat der Angriff der Hamas am 7. Oktober in den Haltungen der Länder der Region bewirkt? Sind eventuelle Erwartungen der Hamas erfüllt worden?

54:10 [B] Ich denke, dass die Hamas, wie ich schon sagte, etwas erwartet hat, das viel enger gefasst war, das sich auf militärische Ziele konzentrierte, und dass die Hamas die Erwartung hatte, Länder in der Region, insbesondere der Iran und möglicherweise der Libanon, könnten in einer Weise eingreifen, die ihr mehr Rückhalt gibt.

Das, denke ich, haben sie gemacht. Iran und Libanon haben eine sehr wichtige Rolle gespielt. Was in den letzten sieben Monaten passierte, war zwar eine Hamas‐​Operation, ihre Planungen und so weiter, aber ich glaube, dass es in der Region zu erheblichen Verschiebungen gekommen ist.

Das Wichtigste: jetzt ist klar, dass der Iran und die Hisbollah offensichtlich die Hamas unterstützen. Sie wissen aber auch, dass es strategisch nicht das Klügste wäre, jetzt eine weitere Front gegen Israel zu eröffnen. Ich glaube, Israel ist – es fällt mir sehr schwer, das zu sagen, angesichts der vielen Toten im Gazastreifen … Aber eigentlich ist Israel militärisch ziemlich schwach und kann keines seiner militärischen Ziele im Gazastreifen erreichen. Die Strategie der Hisbollah und des Irans besteht darin, Israel zu erlauben, sich gewissermaßen mit seinem eigenen Gewand zu erhängen. In dem Moment, in dem sich andere Fronten gegen Israel öffnen, würde Israel aufhören, die völkermordende, gewalttätige Seite zu sein, und zum Opfer werden, das mit weiteren gegnerischen Mächten in der Region konfrontiert ist. Ich denke, strategisch war es sehr klug vom Iran und der Hisbollah, diese Realität beizubehalten.

Die beiden anderen Länder, die sich nach dem 7. Oktober stark verändert haben, sind natürlich Jordanien und Ägypten. Für beide Länder ist das, was in Gaza passiert, aus unterschiedlichen Gründen existenziell. Jordanien könnte destabilisiert werden, wenn es irgendeine Art von Vertreibung aus dem Westjordanland gibt, wenn innenpolitischer Druck auf die Regierung entsteht, eine mehr oppositionelle Rolle gegenüber Israel einzunehmen. Ägypten wird jetzt von einer Diktatur beherrscht, die gegen die Muslimbruderschaft eingestellt ist. Jede Art von Erfolg oder Sieg der Hamas wird auch für Ägypten als existenziell angesehen. Beide Länder versuchen entsprechend, die Folgewirkungen auf ihre eigenen nationalen Interessen zu bewältigen.

Die größte Veränderung, die in der Region stattgefunden hat, ist, dass die Idee der Normalisierung sehr bedroht ist. Die Vorstellung, die arabischen Länder könnten eine Normalisierung mit einem völkermordenden Staat eingehen, ist für die Öffentlichkeiten dieser Länder nur sehr schwer zu ertragen.

Die arabischen Staaten sind Diktaturen, und sie vertreten ihr Volk nicht. Es gab immer öffentlichen Widerstand gegen die Normalisierung, aber nicht immer die Möglichkeit, ihn öffentlich zu äußern. Nach dem 7. Oktober ist klar, dass die Schwelle dessen, was die Menschen noch akzeptieren, höher liegt.

58:25 [M] Im Hinblick auf die autoritären Strukturen der Staaten in der Region: Wie ausgeprägt ist ein Diskurs über den Zusammenhang der palästinensischen Befreiung mit anderen regionalen Bewegungen für den Abbau unterdrückender staatlicher Strukturen in Westasien? Wie hat der palästinensische Widerstand die Bewegungen in Westasien und Nordafrika beeinflusst, insbesondere in Bezug auf Solidarität und Widerstand gegen diese autoritären Regime?

59:00 [B] Ich denke, wir verstehen sehr gut – insbesondere nach 2011, als in gesamt Westasien Revolutionen begannen –, dass die Freiheit und die Befreiung der Menschen in der gesamten Region miteinander verbunden sind und Palästina ein zentraler Teil davon ist.

Die Frage der Befreiung Palästinas wurde von Diktaturen und autoritären Regimen opportunistisch genutzt. Die Länder der arabischen Welt nutzten die Palästina‐​Frage, um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten als Regierungsbehörden abzulenken und um ihre Diktaturen zu erhalten und zu stärken.

Auch verstehen wir, dass sich diese antidemokratischen Systeme stärker in der Überwachung engagieren müssen. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi‐​Arabien, Bahrain, Ägypten und Marokko bauen ihre Beziehungen zu Israel aus, weil sie zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Diktaturen auf israelische Überwachung und israelisches Militär angewiesen sind.

Zwischen israelischer Apartheid und arabischen Diktaturen besteht eine Allianz, und so gibt es auch auf der Grassroots‐​Ebene eine Allianz zwischen der palästinensischen Befreiung und der Befreiung anderer arabischer Länder. Deren Kämpfe unterscheiden sich natürlich sehr von dem, was die Palästinenser*innen zu bewältigen haben. Andere Länder sind mit Diktaturen konfrontiert, die unterschiedliche Formen und Ideologien haben, aber sie sind miteinander verbunden.

1:00:55 [M] Eine andere Frage: Welchen Grad an Unterstützung genießt die Hamas derzeit bei den Palästinenser*innen in Gaza? Was ist darüber bekannt?

1:01:20 [B] Im Moment ist es sehr schwierig, genaue Zahlen aus Gaza zu bekommen. Es wurden verschiedene Umfragen veröffentlicht. Einige Umfragen besagen, dass die Popularität der Hamas seit dem 7. Oktober deutlich gesunken ist. Andere sagen, dass sie relativ konstant geblieben ist.

Im Westjordanland und in der Diaspora hat die Popularität der Hamas erheblich zugenommen. Aber im Gazastreifen sind aufgrund des Völkermords und der Gewalttätigkeit der Ereignisse Wut und Angst über das, was die Hamas getan hat und wie es weitergeht, gewachsen. Wenn wir uns die Kriege von 2008, 2012 und 2014 ansehen, steigt die Unterstützung für die Hamas im Gazastreifen nach den Operationen deutlich an, geht dann aber wieder zurück, wenn das Ausmaß der Zerstörung sichtbar wird. Ich denke also, dass es immer wieder zu solchen Schwankungen kommt.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Hamas vor dem 7. Oktober als Regierungsbehörde nicht sehr beliebt war – so wie die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland als Regierungsbehörde nicht beliebt ist. Die Unterstützung der Bevölkerung für die Hamas war im Laufe der Jahre gesunken. Wenn wir eine realistische Einschätzung wollen, müssen wir natürlich die Palästinenser*innen im Allgemeinen betrachten, nicht nur die im Gazastreifen, aber innerhalb der spezifischen Grenzen des Gazastreifens ist die Popularität der Hamas gesunken.

1:03:15 [M] Eine weitere Frage: Welche Staaten könnten als Vermittler für Verhandlungen zur Überwindung des Apartheidstaates dienen, denen sowohl Israelis als auch die Palästinenser*innen vertrauen würden? Gibt es mögliche dritte Parteien in der Region, die solche Verhandlungen ermöglichen könnten?

1:03:40 [B] Das ist eine sehr gute Frage. Es ist sehr schwierig, das in der Region und auch international zu sehen, denn die vorherrschende Erzählung ist immer noch nicht die Abschaffung der Apartheid, sondern die Zweistaatenlösung. In der Region käme Katar aufgrund seiner historischen Rolle am ehesten in Frage, aber eigentlich interessiere ich mich mehr für Länder außerhalb der Region, die eine Vorreiterrolle übernommen haben, um auf internationaler Ebene gegen die Rechtsverstöße Israels vorzugehen, für Länder wie Südafrika, weil es seine eigene Geschichte der Abschaffung der Apartheid hat.

1:04:40 [M] Ich habe auch daran gedacht, dass die lateinamerikanischen Länder so eine Rolle spielen können …

Hier ist noch eine Frage: Inwieweit trägt das Verbot der Hamas durch die EU, die USA und einige andere Staaten zum zionistischen Projekt bei und begünstigt es? Kann man dessen Interessen und Politik mit zum Beispiel faschistischen türkischen Gruppen wie den Großen Wölfen vergleichen, die in Deutschland nicht verboten sind?

1:05:45 [B] Wir dürfen nicht vergessen, dass jede Art von palästinensischem Widerstand gegen die israelische Apartheid im Westen kriminalisiert wird. Jetzt ist es die Hamas, aber vor der Hamas war es die PLO. Die PLO wurde vom Westen als terroristische Organisation betrachtet. Jetzt wird sie als die Partei angesehen, auf die sie sich verlassen wollen, weil sie befriedet wurde. Genauso ist es mit dem ANC oder der IRA. Gruppen, die sich für die Befreiung einsetzen, die bewaffneten Widerstand leisten, werden kriminalisiert.

Der Westen ist vor allem daran interessiert, Israel als einen jüdisch‐​suprematistischen Staat zu erhalten, und die Frage der Befreiung der Palästinenser*innen ist zweitrangig. Daher wird alles, was dies effektiv in Frage stellt, kriminalisiert werden – nicht nur bewaffneter Widerstand. Man muss nur an BDS denken. BDS, die Bewegung »Boykott‐​Desinvestitionen‐​Sanktionen«, ist eine friedliche Bewegung, eine Form des wirtschaftlichen Drucks, die im Westen als antisemitische Mobilisierung bekämpft wird. Jede Art von wirksamer Gegenwehr gegen die israelische Apartheid wird im Westen als problematisch angesehen, weil der Westen momentan leider der israelischen Apartheid verpflichtet ist.

1:07:45 [M] Ich werde eine weitere Frage stellen und dann eine abschließende Frage.

Sie haben über den militärischen und den sozialen Zweig der Hamas gesprochen. Könnten Sie die Beziehung zwischen diesen beiden Zweigen näher erläutern? Und: Wie hat die Hamas vor dem 7. Oktober mit der gesellschaftlichen Basis in Gaza zusammengearbeitet und sich engagiert?

1:08:10 [B] Die Hamas ist eine vielschichtige Organisation, sie hat verschiedene Flügel. Sie verfügt über eine soziale Infrastruktur, über eine politische und militärische, aber auch über eine geografische Vielfalt. Ein Teil der Führungsriege befindet sich im Westjordanland, ein Teil im Gazastreifen, ein Teil im Ausland, und einige sitzen in israelischen Gefängnissen.

Die Bewegung funktioniert nach einem Konsultationsprinzip. Es gibt ein Büro, das politische Büro, in dem Vertreter*innen der verschiedenen Zweige zusammenarbeiten und die Gesamtstrategie der Bewegung festlegen. Die verschiedenen Zweige arbeiten im Rahmen dieser übergreifenden Strategie. Es handelt sich also intern um eine sehr demokratische Organisation. Der militärische Zweig agiert unter diesem Dach der Gesamtstrategie der Bewegung.

Doch seit Ende der 1990er Jahre, als Israel begann, Hamas‐​Mitglieder außergerichtlich zu ermorden, ist der militärische Zweig in den Untergrund gegangen. Das politische Büro der Bewegung, die Führung, legt die Gesamtstrategie fest, ist aber nicht über die Details der konkreten Operationen informiert. Der militärische Zweig arbeitet geheim, operiert aber immer noch unter dem allgemeinen Dach der Bewegung. Um es auf den 7. Oktober zu beziehen: Der politische Zweig könnte gewusst haben, dass die Hamas die Blockade auf irgendeine Weise durchbrechen würde, wusste aber wahrscheinlich nicht, wie und wann.

Zum zweiten Teil der Frage: Wie hat die Hamas vor dem 7. Oktober regiert? Sie regierte in einer sehr schwierigen Situation unter der Blockade. Sie verfügte über begrenzte Einnahmen, erbrachte einige Dienstleistungen und regierte relativ gut. Aber der größte Teil der Regierungsarbeit im Gazastreifen musste sich auf internationale Organisationen wie das UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina‐​Flüchtlinge im Nahen Osten) stützen, die den größten Teil der sozialen Dienstleistungen und der Bedürfnisse, der Gesundheitsversorgung und der Bildung usw., trug.

1:10:30 [M] Abschließend würden wir gerne wissen, ob es irgendetwas gibt, was wir nicht gefragt haben und worüber Sie gerne sprechen würden?

1:10:35 [B] Ich denke, das war sehr umfassend. Sie haben uns durch die Geschichte der Bewegung geführt, aber auch durch die Gegenwart und den Versuch, diesen Moment und seinen breiteren Kontext zu verstehen. Ich habe also nicht viel hinzuzufügen, aber fand es wunderbar, mit euch zusammen zu sein.

1:11:00 [M] Wir sind auch sehr froh, dass Sie dabei sein konnten. Dies war wirklich ein sehr notwendiges Gespräch, zumal die Hamas ein Thema ist, das gegenwärtig sehr schwierig zu behandeln ist. Und nur als Anekdote: Es war nicht einfach, die Leute zu dem Treffen einzuladen, denn wenn man »Hamas« auf einem Plakat oder was auch immer erwähnt, bekommt man beispielsweise in den sozialen Medien leicht einen Shadowban oder ähnliches.

1:11:40 [B] Ich möchte sagen, dass ich weiß, dass die Situation in Deutschland sehr schwierig ist, und ich bin dankbar für diesen Raum. Ich denke, dass ihr alle sehr mutig seid in Ihrem Einsatz für die freie Meinungsäußerung und intellektuelle Auseinandersetzung. Das finde ich großartig.

Bild: Gaza City 1987 während der ersten Intifada (Wikimedia Commons | Dan Hadani collection, National Library of Israel)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert