
Otto Bauer (*1881 †1938) war ein führender Theoretiker der Sozialdemokratie. 1913 schrieb er eine ausführliche Kritik an Rosa Luxemburgs Buch Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus.
Bis heute wird Bauers Kritik, die unter dem Titel »Die Akkumulation des Kapitals« als zweiteiliger Artikel in der SPD‐Zeitschrift Die Neue Zeit erschien, als Widerlegung Luxemburgs angesehen – vor allem als Widerlegung ihrer Behauptung, der Kapitalismus sei aus sich selbst heraus nicht zur Kapitalakkumulation befähigt und auf außersystemische Zugewinne angewiesen.
Als Quellen der Zugewinne hatte Luxemburg vor allem »nichtkapitalistische soziale Formationen« wie familiäre Landwirtschaften und Kolonien vor Augen. Stellt man sich eine komplett kapitalistisch wirtschaftende Welt vor, läuft Luxemburgs Behauptung auf einen ökonomischen Kannibalismus hinaus, bei dem Kapitalakkumulation, wenn nicht unmittelbar auf Waffengewalt, hauptsächlich auf chronischen Exportüberschüssen und Kapital‐Deakkumulationen an anderen Stellen beruht.
In Reaktion auf die Kritik Bauers und anderer verfasste Luxemburg 1916, im Knast sitzend, eine Entgegnung mit dem Titel: »Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik«.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Bauer Luxemburg tatsächlich widerlegen konnte. Dabei wird herauskommen, was der Beitragstitel verrät. Weil das für viele trocken und haarerauferisch wird, zunächst eine andeutende Antwort auf die Frage:
Weshalb sich mit solchem Kram befassen?
Luxemburgs Reform‐orientierter SPD‐Genosse Eduard Bernstein formulierte vor exakt 125 Jahren folgendes Problem:
»Wenn der Sieg des Sozialismus eine ›immanente ökonomische Notwendigkeit‹ sein soll, dann muss er auf den Nachweis von der Unvermeidlichkeit des ökonomischen Zusammenbruchs der bestehenden Gesellschaft begründet werden. Dieser Nachweis ist noch nicht erbracht worden und nicht zu erbringen. […] Aber wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange? Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewusstseins, des Willens der Menschen? Wozu die Übertragung des so oft missverstandenen Theorems von der Willensunfreiheit des Individuums auf die Menschen der Kulturländer als Gesellschaft? Ich halte all’ das für unhaltbar und überflüssig. Die Gesellschaft tut schon heute vieles, nicht weil es das absolut Notwendige, sondern weil es das Bessere ist. Und in der sozialistischen Bewegung ist das Rechtsbewusstsein, das Streben nach noch gerechteren Zuständen, ein mindestens so wirkungsvoller und wichtiger Faktor, wie die materielle Not.«[1]
Dem hielt Luxemburg – außer Kritik an rassistischen »Kulturland«-Posen – eine materialistische Grundauffassung entgegen:
»Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich.« – »Wir verflüchten uns alsdann in den Nebel der vormarxistischen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klasse ableiten wollten«.[2]
Um dem Nebel zu entgehen, wird oft mit einer sinkenden Profitrate und/oder einem technologisch bedingten Überflüssigwerden menschlicher Arbeit argumentiert. Beides muss dem, wie Luxemburg dem Nebel zu entkommen versucht, nicht widersprechen. Aber inwiefern könnten diese beiden Aspekte, wenn sie stimmen würden, einen Wesenszipfel der gegenwärtigen Weltsituation mit ihren Blöcken USA/EU… – BRICS… erfassen?
Zur Herstellung konkreter Aktionsbezüge solcher Angelegenheiten könnte Sunzi beitragen:
»Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.«
Marxens Schemata der erweiterten Reproduktion
Luxemburg und Bauer gehen in ihrer Debatte von Marxens Schemata der erweiterten Reproduktion im zweiten Band des »Kapitals« aus.[3] In diesen Schemata teilt Marx die Wirtschaft in zwei Abteilungen ein: Abteilung I produziert Produktionsmittel und Abteilung II Konsumtionsmittel. Anhand von Beispielzahlen rechnet Marx vor, in welchen Wert‐Proportionen die Abteilungen I und II ihre jeweiligen Waren produzieren und austauschen müssen, damit Kapital in Sachform akkumuliert werden kann, d.h. Produktionsmittel (konstantes Kapital I c und II c) und ausgebeutete Arbeitskraft bzw. die zu deren »Produktion« nötigen Dinge (variables Kapital I v und II v) von wachsendem Wert entstehen können.
Innerhalb der Abteilungen I und II gilt:
Damit Marxens zweigeteilter Schema‐Kapitalismus krisenfrei funktioniert, sind drei Bedingungen einzuhalten:
- Abteilung I muss so viel Produktionsmittel produzieren wie beide Abteilungen für die laufende Produktion und die Akkumulation benötigen.
Produziert Abteilung I mehr, so bleibt die Abteilung auf Produktionsmitteln sitzen. Produziert Abteilung I weniger, kann variables Kapital mangels Produktionsmitteln schlecht bis nicht verwertet werden. Als Formel lautet diese Bedingung:
I gesamt = I c + II c + I c‑akk + II c‑akk. - Abteilung II muss so viel Konsumtionsmittel produzieren wie beide Abteilungen für die laufende Produktion, die Akkumulation und den Konsum der Kapitalistinnen benötigen.
Produziert Abteilung II mehr, so bleibt die Abteilung auf Konsumtionsmitteln sitzen. Produziert Abteilung II weniger, kann konstantes Kapital aufgrund mangelnder Versorgung von Arbeitenden schlecht bis nicht verwertet werden.
Als Formel:
II gesamt = I v + I k + II v + II k + I v‑akk + II v‑akk.
Sind keine Kredite vorgesehen, muss noch folgende Bedingung eingehalten werden:
- Abteilung II kann Wert‐mäßig nur so viel Produktionsmittel erhalten wie sie an Abteilung I in Form von Konsumtionsmitteln abgibt. Abteilung I kann nur so viel Konsumtionsmittel erhalten, wie sie an Abteilung II in Form von Produktionsmitteln abgibt.
Bekäme eine Abteilung mehr als sie abgibt, entstünden Schulden bzw. wären Kredite nötig.
Als Formel:
I v + I k + I v‑akk = II c + II c‑akk.
Marx hält sich in seinen Beispielzahlen an alle drei Bedingungen. Er sagt damit: Im Schema‐Kapitalismus, dieser sehr vereinfachten kapitalistischen Modellwirtschaft, klappt die Kapitalakkumulation ohne Kredite. Er sagt damit nicht: Der reale Kapitalismus klappt ohne Kredite.
Allgemein besteht der Zweck von Modellen und auch von mathematischen Formeln darin, sich Zusammenhänge klarer zu machen oder allererst zu entdecken. Das, was in Modellen vereinfachend weggelassen wurde, kann auf diese Weise nachträglich gesondert überdacht werden. Danach lässt sich die anfängliche Modellvorstellung verfeinern. Eine zeitsparende Kritik an diesem Vorgehen besteht darin, von vornherein zu schreien: »Aber dies ist weggelassen und jenes ignoriert!« Eine eher zeitaufwändige Kritik an diesem Vorgehen zeigt auf, inwiefern durch die Vereinfachungen der Zweck der Modellvorstellung, sich bestimmte Zusammenhänge klarer zu machen oder allererst zu entdecken, verfehlt wird – zum Beispiel, weil die Zusammenhänge ohne die Vereinfachungen gar nicht bestünden oder so wesentlich anders wären, dass man die Modellvorstellung in die Tonne treten kann.
Zur Erfindung krisenfrei funktionierender Beispielzahlen für Marxens Schemata genügt es, die dritte Bedingung einzuhalten:
I v + I k + I v‑akk = II c + II c‑akk.
Die ersten beiden Bedingungen laufen nämlich auf die dritte hinaus:
- In der ersten Bedingung
I gesamt = I c + II c + I c‑akk + II c‑akk
lässt sich I gesamt gegen das ersetzen, wofür es steht:
I c + I v + I m = I c + II c + I c‑akk + II c‑akk.
Doppeltes Zeug darf rausgeschmissen werden:
I c + I v + I m = I c + II c + I c‑akk + II c‑akk
I v + I m = II c + I c‑akk + II c‑akk.
Mit I m = I k + I akk folgt:
I v + I k + I v‑akk = II c + II c‑akk. - In der zweiten Bedingung
II gesamt = I v + I k + II v + II k + I v‑akk + II v‑akk
lässt sich II gesamt gegen das ersetzen, wofür es steht:
II c + II v + II m = I v + I k + II v + II k + I v‑akk + II v‑akk.
Doppeltes Zeug darf rausgeschmissen werden:
II c + II v + II m = I v + I k + II v + II k + I v‑akk + II v‑akk
II c + II m = I v + I k + II k + I v‑akk + II v‑akk.
Mit II m = II k + II akk und II akk = II c‑akk + II v‑akk folgt:
II c + II k + II c‑akk + II v‑akk = I v + I k + II k + I v‑akk + II v‑akk.
Doppeltes Zeug darf rausgeschmissen werden:
II c + II k + II c‑akk + II v‑akk = I v + I k + II k + I v‑akk + II v‑akk
II c + II c‑akk = I v + I k + I v‑akk.
Auf ein spezielles Jahr bzw. irgendeinen Berechnungszeitraum J bezogen lautet die dritte Bedingung:
IJ v + IJ k + IJ v‑akk = IIJ c + IIJ c‑akk.
In Worten: Abteilung II kann in jedem Jahr nur soviel konstantes Kapital einsetzen und akkumulieren, wie Abteilung I an variablem Kapital einsetzt und akkumuliert und die Kapitalistinnen der Abteilung I verkonsumieren.
In Bezug auf das Vorjahr J‑1 gilt:
IJ c = IJ‑1 c + IJ‑1 c‑akk und IJ v = IJ‑1 v + IJ‑1 v‑akk
IIJ c = IIJ‑1 c + IIJ‑1 c‑akk und IIJ v = IIJ‑1 v + IIJ‑1 v‑akk.
In Worten: Das im Jahr J eingesetzte konstante Kapital ist in jeder Abteilung gleich dem im Vorjahr eingesetzten konstanten Kapital plus dem im Vorjahr akkumulierten konstanten Kapital. Das im Jahr J eingesetzte variable Kapital ist gleich dem im Vorjahr eingesetzten variablen Kapital plus dem im Vorjahr akkumulierten variablen Kapital.
Auch hier wird vereinfacht. Abteilung I könnte zum Beispiel im Jahr J‑1 Kapital akkumuliert haben, das sie erst 5 Jahre später einsetzt – etwa den Bau eines Kernkraftwerks begonnen haben. Solche Komplexitäten lassen sich plätten, indem man sich vorstellt, dass die Beispielzahlen auf einheitliche Umschlagszeiten der Kapitale normalisiert sind, zum Beispiel die Kapitalumsätze des Kernkraftwerks rechnerisch über 5 Jahre verteilt wurden.
Wer Lust hat, möge die Einhaltung der drei Bedingungen an Marxens Beispielzahlen nachrechnen:
Man beachte, dass (bis auf Rundungsfehler) die Anschlussjahre passen: Im Jahr 1 hat Abteilung I zum Beispiel 5000 c im Einsatz und akkumuliert 417 c . Im Jahr 2 macht Abteilung I mit 5000 + 417 = 5417 c im Einsatz weiter.
Anders als Marx bekommt Luxemburg kein eigenes Zahlenbeispiel hin, das die drei Bedingungen, die eigentlich nur eine sind, einhält. Dadurch entsteht einiges Durcheinander in ihren Argumenten, auf das hier nicht eingegangen wird – nicht, um sie zu schonen, sondern weil das für uns heute nur als Algebra‐Unterrichtsmaterial nützlich wäre.
Luxemburgs Kritik an Marxens Schemata
Marx – vielleicht Friedrich Engels, der den Text redigierte – schrieb zur Bedeutung der Zahlen in den Schemata: »Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten.«[4] Bei den Zahlen kann es nicht um Produktions‐ oder Marktpreise gehen, wie sie nach Ausgleich der Profitraten bestehen, weil die Schemata keine ausgeglichenen Profitraten simulieren. Am ehesten könnten die Zahlen, wenn man sie als Geld verstehen möchte, dem entsprechen, was Marx »Wertpreise« nennt:
»Es sind prima facie zwei ganz verschiedne Dinge, ob Waren zu ihren Werten verkauft werden (d.h. ob sie im Verhältnis des in ihnen enthaltnen Werts, zu ihren Wertpreisen, miteinander ausgetauscht werden) oder ob sie zu solchen Preisen verkauft werden, dass ihr Verkauf gleich große Profite auf gleiche Massen der zu ihrer respektiven Produktion vorgeschoßnen Kapitale abwirft.«[5]
Zur Kapitalakkumulation werden Profite benötigt, realisierter Mehrwert, in Geld umgewandelte kostenlos angeeignete vergegenständlichte Arbeitskraft.
Stellt man sich die Zahlen in Marxens Schema im Sinn von »Wertpreisen« als Geldeinheiten vor, von denen jede eine Werteinheit repräsentiert, scheint es, als entwickelten sich die Profite nach Marxens Beispielzahlen zur vollen Zufriedenheit der Kapitalistinnen:
In jedem Jahr legen die Kapitalistinnen eine bestimmte Geldsumme aus (I c + I v + II c + II v) und erhalten dafür die ausgelegte Geldsumme zurück plus einen Profit. Einen Teil des Profits verbrauchen die Kapitalistinnen zur Konsumtion k, einen anderen Teil akkumulieren sie, so dass im nächsten Jahr bei höherem Kapitaleinsatz höhere Profite herausspringen.
Was findet Luxemburg daran zu meckern?
Die in der Spalte »Profite« ausgewiesenen Beträge stellen zugleich Ein‐ und Ausgaben der Kapitalistenklasse dar. Die Ausgaben bestehen jeweils im Kauf von Produkten im Wert von I akk + II akk und I k + II k. Beim Verkauf der diesen Beträgen entsprechenden Waren(teile) machen die verkaufenden Kapitalistinnen Profit und die kaufenden Kapitalistinnen geben ihren Profit aus – insofern gibt es schon Profit –, aber genau in der Sekunde seiner Entstehung verpufft auf das Gesamtkapital bezogen der Profit, weil sämtliche unbezahlte Arbeit durch die Kapitalistinnen bezahlt wird.
Luxemburg schreibt:
»Wenn die Kapitalisten als Klasse immer nur selbst Abnehmer ihrer gesamten Warenmasse sind – abgesehen von dem Teil, den sie jeweilig der Arbeiterklasse zu deren Erhaltung zuweisen müssen – wenn sie sich selbst mit eigenem Gelde stets die Waren abkaufen und den darin enthaltenen Mehrwert ›vergolden‹ müssen – dann kann Anhäufung des Profits, Akkumulation bei der Klasse der Kapitalisten im ganzen unmöglich stattfinden.«[6]
Weshalb können die Schema‐Kapitalistinnen im Folgejahr trotzdem mit höheren Kapitaleinsätzen durchstarten und höhere Profite erzielen?
Der zahlenmäßige Zuwachs von einem Jahr zum nächsten entsteht durch doppelte Anrechnung derselben Wertgrößen, einmal im Jahr ihrer Produktion als zukünftig einzusetzendes akkumuliertes Kapital und erneut im Folgejahr ihres Einsatzes als Kapital.
Im Jahr 1 sehen die Einnahmen und Ausgaben der Abteilung I zum Beispiel wie folgt aus:
Im Jahr 2 betragen die Einnahmen und Ausgaben von Abteilung I:
Im Jahr 2 verkauft Abteilung I für 1583 Geldeinheiten Produktionsmittel zum unmittelbaren Einsatz als Kapital. Die verkauften Produktionsmittel im Wert von 1583 enthalten Produktionsmittel im Wert von ~83, die Abteilung I bereits im Jahr 1 verkauft hat.
Analog bei den Käufen: Abteilung I sorgt über Lohnzahlungen dafür, dass ihre Arbeiterinnen im Jahr 2 Konsumtionsmittel im Wert von 1083 kaufen können, die dem Wert des unmittelbar eingesetzten variablen Kapitals von Abteilung I entsprechen. Die 1083 Konsumtionsmittel enthalten 83 Werteinheiten, die Abteilung I von Abteilung II bereits im Jahr 1 »kaufte«.
Allgemein führt das Schema den Wert des akkumulierten Kapitals doppelt auf: einmal im Jahr seiner Bildung, und erneut im Folgejahr seines Einsatzes.
Bezogen auf Sachgegenstände und Werte stellt dies kein Problem dar: die im Vorjahr nicht verbrauchten, »virtuellen« Kapitale, wie Marx sie nennt [7] , vom Wert II c‑akk bzw. I v‑akk werden im nächsten Jahr zu Kapital und tauchen als dessen Komponente also erneut auf. Hätte Marx sie im Vorjahr ihres Zustandekommens als Mehrwert weggelassen, würde der Wert der Gesamtproduktion im Vorjahr nicht stimmen. Hätte Marx sie im nächsten Jahr weggelassen, wo diese Werte in neue Waren übertragen werden, würde dort der Wert der Gesamtproduktion nicht stimmen.
Bezogen auf Geld jedoch stellt es ein Problem dar, wenn durch wiederholten Kauf und Verkauf derselben Sache, der im Gesamtsystem auf ± Null zusätzliche Einnahmen hinausläuft, der falsche Eindruck einer Einnahmen‐ und Ausgabensteigerung entsteht.
Mit diesem Problem könnte man wie folgt umgehen: Da der Gesamtwert der Produktion steigt, stellen wir uns einfach vor, dass entsprechend mehr Geldeinheiten gedruckt werden oder das bestehende Geld aufgewertet wird. Begnügt man sich damit, lassen sich anhand der Marxschen Schemata allgemeine Betrachtungen anstellen, die auf Warenwirtschaften zutreffen. Aber das Spezifikum des Kapitalismus ist: Der Produktionszuwachs entsteht – anders als in der einfachen Warenwirtschaft – aus Werten, die sich Kapitalistinnen ohne Wert‐Gegenleistung aneignen.
Daher zeigen die Marxschen Schemata der erweiterten Reproduktion zwar Wirtschaftsform‐übergreifend hinsichtlich der Sachgestalten und Werte auf, wie Produktionswachstum möglich ist. Aber sie zeigen nicht auf, wie Kapitalakkumulation möglich ist.
Luxemburg:
»Eins von beiden. Entweder betrachtet man das gesellschaftliche Gesamtprodukt (der kapitalistischen Wirtschaft) einfach als eine Warenmasse von bestimmtem Wert […] und sieht, bei Bedingungen der Akkumulation, nur ein Anwachsen dieses unterschiedslosen Warenbreis und dessen Wertmasse. Dann wird nur zu konstatieren sein, dass zur Zirkulation dieser Wertmasse eine entsprechende Geldmenge notwendig ist, dass diese Geldmenge wachsen muss, wenn die Wertmasse wächst – falls die Beschleunigung des Verkehrs und seine Ökonomisierung den Wertzuwachs nicht aufwiegen. Und etwa auf eine letzte Frage, woher denn schließlich alles Geld komme, kann man mit Marx die Antwort geben: aus den Goldgruben. Das ist auch ein Standpunkt, nämlich der Standpunkt der einfachen Warenzirkulation. Aber dann braucht man nicht Begriffe wie konstantes und variables Kapital und Mehrwert hineinzubringen«.[8]
Bauers Beispielzahlen
Eine der Kritiken Luxemburgs an Marxens Beispielzahlen lautet: Die organische Zusammensetzung des Kapitals c/v bleibt gleich. Das sei unrealistisch. Lässt man aber c/v steigen, so würden die Rechnungen nicht mehr aufgehen und »Reste« übrig bleiben.
Otto Bauer entgegnet: Das stimmt nicht! Er versucht, mit eigenen Beispielzahlen zu zeigen, dass nach den Marxschen Schemata der Kapitalismus aus sich selbst heraus Kapital akkumulieren und zugleich die organische Zusammensetzung des Kapitals erhöhen kann.
Bauers Beispielzahlen:[9]
Abgesehen davon, dass auch bei Bauer die »Kapitalakkumulation« durch Doppeltanrechnungen von akkumulierten Kapitalen entsteht, weil Marxens Schemata eben so funktionieren, akkumulieren Bauers Abteilungen I und II jeweils nicht das, was sie im nächsten Jahr einsetzen.
Im Jahr 1 hat Abteilung I zum Beispiel 120 000 c im Einsatz und akkumuliert 10 000 c. Im Jahr 2 macht Abteilung I aber nicht mit 120 000 + 10 000 = 130 000 c weiter, sondern mit 134 666 c.
Nur in der Summe stimmen Otto Bauers Berechnungen.
Im Jahr 2 etwa arbeiten die beiden Abteilungen mit einem konstantem Kapital von
134 666 c + 85 334 c = 220 000 c.
Im Vorjahr wurde insgesamt tatsächlich entsprechend akkumuliert:
120 000 c + 10 000 c + 80 000 c + 10 000 c = 220 000 c.
Die Kapitalistinnen der Abteilung II sind demnach so nett, für Abteilung I konstantes Kapital zu akkumulieren, das sie selbst nicht brauchen. Auch sind sie so nett, für Abteilung I variables Kapital zu akkumulieren, das sie selbst nicht brauchen.
Im Jahr 1 hat Abteilung II zum Beispiel 50 000 v im Einsatz und akkumuliert 2 500 v. Im Jahr 2 macht Abteilung II aber nicht mit 50 000 + 2 500 = 52 500 v weiter, sondern nur mit 51 333 v.
Otto Bauer erklärt dazu:
»[D]er Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung erheischt Verschiebung des Kapitals aus den Konsumgüterindustrien in die Produktionsmittelerzeugung.«[10]
Konkret stellt sich Bauer die Verschiebung so vor:
»Die Kapitalisten der Konsumgüterindustrien übertragen einen Teil des […] akkumulierten Mehrwertes in die Produktionsmittelindustrien: sei es, dass sie selbst Fabriken gründen, in denen Produktionsmittel erzeugt werden; sei es, dass sie einen Teil des von ihnen akkumulierten Mehrwertes durch Vermittlung der Banken den Kapitalisten der Konsumtionsgüterindustrien [gemeint: Produktionsmittelindustrien] zur Verwendung übertragen; sei es, dass sie Aktien von Gesellschaften kaufen, die Produktionsmittel erzeugen.«[11]
Mit seinen »Kapitalübertragungen« unterläuft Bauer, wie Luxemburg in der »Antikritik« findet, den Clou der Marxschen Schemata: die Gliederung der Wirtschaft in eine Produktions‐ und eine Konsumtionsmittelabteilung.
»Die Marxschen ›Abteilungen‹ bedeuten nicht Personenregister der Unternehmer, sondern objektive ökonomische Kategorien. Wenn ein Kapitalist aus der Abteilung II mit einem Teil seines Geldkapitals auch in der Abteilung I ›gründen‹ und akkumulieren will, so bedeutet das nicht, dass die Abteilung der Konsumgüter in der Abteilung der Produktionsmittel mitproduziert […], sondern nur dass eine und dieselbe Person gleichzeitig als Unternehmer in jeder der beiden Abteilungen fungiert. Wir haben dann ökonomisch doch mit zwei Kapitalen zu tun, von denen das eine Produktionsmittel, das andere Konsumgüter herstellt. Dass diese beiden Kapitale einer und derselben Person gehören mögen, dass sich der Mehrwert aus beiden in einer Tasche vermischt, ist objektiv, für die Analyse der gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen, vollkommen schnuppe. Deshalb bleibt doch der Austausch die einzige Verbindungsbrücke zwischen den beiden Abteilungen oder aber bricht, wenn man aus beiden, wie Bauer, einen formlosen Brei durcheinanderrührt, die strenge Konstruktion von Marx […] zusammen und die Analyse des Reproduktionsprozesses löst sich wieder in das Chaos auf, in dem ein Say und ähnliche Geister kühn mit der Stange herumrühren.«[12]
Trotzdem: Ist es vielleicht übermäßig streng zu verlangen, dass die Abteilungen jede für sich das zur Akkumulation bestimmte Kapital anschaffen sollen? Weshalb sollten die Abteilungen nicht einander irrtümlich zur Produktionserweiterung angeschaffte Waren übergeben oder zu viel ausgebildete Arbeitskraft entlassen und in der anderen Abteilung einstellen dürfen?
Luxemburg meint: Produktionsmittel, die Abteilung II von Abteilung I erhalten hat und dann doch nicht benötigt, kann sie nur dann an Abteilung I zurückreichen, wenn die Produktionsmittel eine passende Sachgestalt haben und Abteilung I an ihnen interessiert ist. Doch hätten die Produktionsmittel für Abteilung I eine passende Sachgestalt und wäre Abteilung I an ihnen interessiert: Weshalb sollte Abteilung I sie dann an Abteilung II überhaupt erst übergeben haben?
Ließe sich Bauers Ziel der Illustration einer Kapital akkumulierenden Wirtschaft mit steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals nicht auch ohne dubiose »Kapitalverschiebungen« erreichen?
Wenn für ein krisenfreies Wachstum lediglich die dritte Bedingung
I v + I k + I v‑akk = II c + II c‑akk
einzuhalten ist, bedeutet das, folgende Variablen sind frei wählbar: vier der fünf in der dritten Bedingung aufgeführten und zusätzlich alle nicht in der Gleichung vorkommenden Variablen, d.h. II v, II v‑akk, II k, I c und I c‑akk. Einschränkungen entstehen, wenn in Folgejahren I v, II v, I c und II c zur Akkumulation im Vorjahr passen sollen:
IJ c = IJ‑1 c + IJ-1 c‑akk und IJ v = IJ-1 v + IJ‑1 v‑akk
IIJ c = IIJ‑1 c + IIJ‑1 c‑akk und IIJ v = IIJ‑1 v + IIJ‑1 v‑akk.
Schränkt die zusätzliche Forderung nach einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals die Wahlfreiheit der Variablen so weit ein, dass ohne »Kapitalverschiebungen« nichts mehr aufgeht, wie Luxemburg behauptet?
Nö.
Hier sind Beispielzahlen (auf ganze Zahlen gerundet) mit einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals c/v und ohne »Kapitalverschiebungen«:
Die Spalte »I/II« ganz rechts zeigt das Verhältnis der Produktionen der beiden Abteilungen I gesamt / II gesamt. Dass die Zahlen dort schrumpfen, bedeutet: Abteilung II verliert in der Gesamtproduktion zunehmend an Bedeutung. Den Schema‐Kapitalismus stört das nicht (speziell weil man I k und II k und damit die Mehrwerthöhen frei erfinden darf).
Zusammengefasst kann laut Luxemburg der Kapitalismus nicht aus sich selbst heraus Kapital akkumulieren, weil er aus sich selbst heraus den dazu nötigen Mehrwert nicht realisieren kann. Er kann aber durchaus – wie die einfache Warenwirtschaft – Mehrprodukt hervorbringen, das die materielle Voraussetzung der Mehrwertrealisierung ist. Dabei kann das Verhältnis von Produktionsmitteln zu Konsumtionsmitteln wachsen und auch die Konsumtionsmittelbranche relativ zur Gesamtwirtschaft schrumpfen, ohne dass es zu Problemen kommt. Dies illustrieren Marxens Schemata der erweiterten Reproduktion.
Luxemburgs angebliches Verständnisproblem
Otto Bauer gibt sich – das zeichnet ihn vor anderen Kritikerinnen Luxemburgs aus – echte Mühe nachzuvollziehen, wie Luxemburg auf ihre angeblich falsche Behauptung der Nichtakkumulierbarkeit von Kapital im »reinen Kapitalismus« verfallen konnte. Er vermutet bei ihr folgendes Verständnisproblem, das – wie oben gezeigt – eigentlich sein eigenes ist:
Die Marxschen Schemata der erweiterten Reproduktion unterstellen, dass die Mehrwertrealisationen innerhalb bestimmter Zeiträume stattfinden, an deren jeweiligen Schlusspunkten Käufe und Verkaufe über die Bühne gegangen sind. Insbesondere werden die Waren, die dem zu akkumulierenden Kapital I akk und II akk entsprechen, noch im Jahr ihrer Produktion verkauft. Nimmt man einen Verkauf erst im Folgejahr an, sieht es aus, als würde im jeweiligen Vorjahr ein unabsetzbarer Rest bestehen bleiben. Laut Bauer ist die Unterstellung der Schemata, nach der im selben Jahr alles verkauft wird, eine Vereinfachung, die an der Akkumulierbarkeit von Kapital aus dem Kapitalismus selbst heraus nichts ändert. Wann genau die dem zu akkumulierenden Kapital I akk und II akk entsprechenden Waren ver‐ bzw. gekauft werden, sei unwesentlich. Da diese Waren der Erweiterung der Produktion dienten, würden sie irgendwann schließlich ver‐ bzw. gekauft und damit der in ihnen enthaltene Mehrwert realisiert.
»Die ganze Schwierigkeit entsteht nur, wenn man annimmt, die Verkaufszeit der Waren, in denen der akkumulierte Mehrwertteil verkörpert ist, sei länger als die Verkaufszeit der anderen Waren. In Wirklichkeit ist natürlich die Umschlagszeit der einzelnen Kapitalien und ihre Gliederung in Einkaufs‑, Produktions‐ und Verkaufszeit sehr verschieden. Marx musste von diesen Verschiedenheiten absehen und annehmen, dass das Jahresprodukt innerhalb des Jahres abgesetzt werde, um die Reproduktion des Kapitals an einem einfachen Schema darstellen zu können.«
Luxemburg entgegnet Bauer etwas, aus dem ich unmittelbar keine Widerlegung erkennen kann:
»Otto Bauer glaubt also wirklich, dass die Marxschen Formeln etwas mit ›Jahren‹ zu tun haben, und der Gute plagt sich auf zwei Druckseiten, um mir dies mit Hilfe dreistöckiger Formeln und lateinischer und griechischer Buchstaben zu popularisieren. Aber die Marxschen Schemata der Kapitalakkumulation haben mit Kalenderjahren gar nichts zu tun. Worauf es bei Marx ankommt, sind ökonomische Metamorphosen der Produkte und deren kapitalistische Verkettung, ist dies, dass in der kapitalistischen Welt die Reihe der ökonomischen Vorgänge ist: Produktion – Austausch – Konsumtion und so in unendlicher Kette. Da der Austausch die unumgängliche Durchgangsphase aller Produkte und das einzige Bindeglied zwischen den Produzenten ist, so kommt es für die Profitmacherei und Akkumulation zwar in erster Linie nicht darauf an, in welcher Zeit die Waren realisiert werden, wohl aber auf folgende faustdicke Tatsachen:
1. dass der Gesamtkapitalist, wie jeder einzelne Kapitalist, keine Vergrößerung der Produktion vornehmen kann, ehe er seine Warenmasse zum Austausch gebracht hat, und
2. dass der Gesamtkapitalist, wie jeder einzelne Kapitalist, keine Vergrößerung der Produktion vornimmt, wenn ihm nicht ein vergrößerter Absatzmarkt winkt.«[13]
Anders als Otto Bauer verwendet Luxemburg nicht das Wort »Verkauf«, sondern »Austausch«. Darin drückt sich ein unterschiedliches Verständnis der Zahlen der Schemata aus, dem wiederum ein unterschiedliches Verständnis des Verhältnisses von Wert und Geld zugrunde liegt (das herauszupulen vielleicht lohnen könnte, aber hier nicht gemacht wird).
Kapitalistinnen haben ihre Warenmasse dann zum Austausch gebracht, wenn sie dafür etwas erhalten, das ihnen Zugriff auf andere Waren im selben Wert ermöglicht. Geldgeschäfte bewegen sich auf einer davon zu unterscheidenden Ebene mit anderen Bedingungen.
Bauers Verständnis der Austauschbeziehungen der Schemata als Käufe und Verkäufe verleitet ihn zur Annahme, das Gesamtkapital könne die zur Kapitalakkumulation erforderlichen Profite machen. Doch bezogen auf den Kapitalismus klappt die Logik des Schemas nur solange, wie man den geschaffenen Werten keinen neben den Sachgestalten stehenden, aber nicht angemessen von der Wertebene unterschiedenen, Geldausdruck zuschreibt. Sobald man das tut, öffnet sich eine Verständnisfalle: die Illusion, im Kapitalismus könnten Profite entstehen, wenn das Gesamtkapital den Mehrwert selbst »vergoldet«. Dann beginnen auch Probleme der Einkaufs‑, Produktions‐ und Verkaufszeit eine Rolle zu spielen, von denen sich unter Umständen nicht so leicht absehen lässt.
Wie weiter oben angedeutet, lassen sich im Umgang mit den Marxschen Schemata Probleme der Einkaufs‑, Produktions‐ und Verkaufszeit wegwischen, indem man sich vorstellt, es diesbezüglich mit rechnerisch normalisierten Wertausdrücken zu tun zu haben. Luxemburg geht nicht konstruktiv auf diese Aspekte ein, aber auf der Wertebene kommen interessante Dinge dabei heraus.
Auswirkungen zeitlicher Aspekte
Wenn überhaupt, kann sich die Anschaffung von Produktionsmitteln für das Gesamtkapital eines ausschließlich kapitalistisch und für sich selbst wirtschaftenden Systems nur lohnen, wenn am Ende der Produktionsketten der Wert der Produktionsmittel früher oder später vollständig in Konsumtionsmittel übertragen wird und wenn diese Konsumtionsmittel (mindestens) entsprechend ihrer Werte verkäuflich sind. – Oder weniger streng: wenn der über Konsumtionsmittelverkäufe nicht realisierbare Wert der Produktionsmittel zumindestens kleiner bleibt als die (angeblich) realisierten Mehrwertsummen, so dass durch die Herstellung der kapitalistisch »zu viel« angeschafften Produktionsmittel die Akkumulationsrate des Gesamtkapitals sinkt.[14]
In den bisher verwendeten Gleichungen zu den Marxschen Schemata der erweiterten Reproduktion taucht der vollständige Wert der Produktionsmittel nicht auf. Die Variablen I c und II c beziehen sich nur auf einen Teil des vollständigen Werts der Produktionsmittel – und zwar auf den Teil, den die Arbeiterinnen im jeweiligen Berechnungsjahr in neue Produkte übertragen. Dieser Teil entspricht dem Material‐ und Rohstoffverbrauch (zirkulierendes konstantes Kapital) sowie dem Produktionsmittelverschleiß (Anteilen des fixen Kapitals).
Um mit den bisher verwendeten Gleichungen einem Ausdruck des vollständigen Werts der Produktionsmittel nahe zu kommen, wären mehrere Berechnungsjahre aufzusummieren – je nach durchschnittlicher Lebensdauer des fixen Kapitals unterschiedlich viele Jahre. Das könnte zunächst etwa so aussehen:
In GESAMT = In C + In V + In M
mit In GESAMT = In gesamt + In‑1 gesamt + In‑1 gesamt + … + I0 gesamt
als Wertsumme einer Periode von n Jahren.
IIm GESAMT = IIm C + IIm V + IIm M
mit IIm GESAMT = IIm gesamt + IIm‑1 gesamt + IIm‑1 gesamt + … + II0 gesamt
als Wertsumme eines Zeitraums von m Jahren.
Obige Formeln enthalten noch die Doppeltzählungen des akkumulierten Kapitals. Werden sie entfernt, sehen die Gleichungen so aus:
In GESAMT = In C + In V + In M – In akk = In C + In V + In K
IIm GESAMT = IIm C + IIm V + IIm M – IIm akk = IIm C + IIm V + IIm K
Vereinfacht [15] besagt die Forderung, dass der Wert von Produktionsmitteln früher oder später in den von Konsumtionsmitteln übergehen muss, damit sich ihre Anschaffung lohnt, in der strengeren Variante:
{A} In GESAMT ≤ IIm GESAMT bzw.
In C + In V + In K ≤ IIm C + IIm V + IIm K
Gegen {A} verstoßen sämtliche bisherigen Zahlenbeispiele, auch Luxemburgs Beispiele und die weiteren Beispiele von Marx. In allen von ihnen gilt in jedem Jahr: I gesamt > II gesamt. Wenn dies in jedem Jahr der Fall ist, dann entsteht im Großen und Ganzen keine Gelegenheit, mit einem relativ zu n groß gewählten Zeitraum m gegen die hohen Produktionsmittelwerte anzukommen.
Bei wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals wächst unvermeidlich die Wertmasse, die in Produktionsmitteln steckt und für die eine Übertragung in Konsumtionsmittel noch aussteht. Auf reale kapitalistische Wirtschaften übertragen: Kredite werden zunehmend wichtiger und ihre Bedienung zunehmend prekärer. Der Einfluss der Finanzbranche und ihrer speziellen Interessen auf die Produktion wächst.
Bereinigt werden kann die Situation wachsender Produktionsmittelwerte, die auf Übertragung in Konsumtionsmittel »warten«, durch Wirtschaftskrisen, die dann und wann für einen Wertverfall von Produktionsmiteln sorgen. Entschärft werden kann die Situation durch technologische Fortschritte, die den Wert von Produktionsmitteln senken. Überhaupt wachsende Produktionsmittelwerte, die auf Übertragung in Konsumtionsmittel »warten«, entstehen durch Kredite.
Wäre es möglich, den Schema‐Kapitalismus mit passenden Anschlussjahren wachsen zu lassen, so dass die organische Zusammensetzung des Kapitals wächst und zugleich sichergestellt ist, dass der Wert von Produktionsmitteln früher oder später in den von Konsumtionsmitteln übergeht?
Insgesamt fallen im System pro Berechnungsjahr folgende Werte an:
I c + II c + I c‑akk + II c‑akk für Produktionsmittel und
I v + I k + II v + II k + I v‑akk + II v‑akk für Konsumtionsmittel.
Nach der dritten Bedingung für einen krisenfreien Schema‐Kapitalismus gilt:
{B} I v + I k + I v‑akk = II c + II c‑akk
Mit {B} ist gewährleistet, dass der Anteil II c + II c‑akk der Produktionsmittelwerte in jedem Fall in Konsumtionsmittel I v + I k + I v‑akk übertragen wird. Ohne dem würde die erweiterte Produktion von vornherein nicht klappen und eine der Abteilungen über‐ bzw. unterproduzieren.
Aus {B} folgt für die Wertsumme der Produktionsmittel eines Zeitraums von n Jahren ohne Doppeltanrechnung von I v‑akk und II c‑akk:
{C} IIn C = In V + In K
Von den Produktionsmittelwerten verbleibt (ohne Doppeltanrechnungen von II v‑akk und I c‑akk) ein Wert von In C, der im idealen Schema‐Kapitalismus über einen Zeitraum von m Jahren in Konsumtionsmittel IIm V + IIm K übertragen werden müsste:
{D} In C = IIm V + IIm K.
Gleichung {D} drückt eine Beschränkung des Wachstums des konstanten Kapitals der Abteilung I aus, die nur von der durch Abteilung II generierten Wertsumme für Konsumtionsmittel abhängt und unabhängig von den Möglichkeiten der Abteilung II wirkt, die organische Zusammensetzung ihres Kapitals zu erhöhen. Ähnlich drückt Gleichung {C} eine Beschränkung des Wachstums des konstanten Kapitals der Abteilung II aus, die nur von der durch Abteilung I generierten Wertsumme für Konsumtionsmittel abhängt.
Aufgrund dessen, was {C} und {D} aussagen, bewertet Luxemburg die »Ansicht, als sei die Produktion von Produktionsmitteln von der Konsumtion unabhängig« als »vulgärökonomische Luftspiegelung«. Sie schreibt:
»Die Akkumulation kann nur in beiden Abteilungen zugleich, und zwar nur unter der Bedingung stattfinden, daß die Abteilung der Lebensmittel jeweilig genau um soviel ihr konstantes Kapital erweitert, wie die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung ihr variables Kapital und ihren persönlichen Konsumtionsfonds erweitern. Diese Proportion […] ist die mathematische Grundlage des Akkumulationsschemas von Marx, in welchen Zahlenproportionen wir es auch exemplifizieren mögen.«[16]
Luxemburg versuchte, diese Sache anhand der Schemata der erweiterten Reproduktion vorzuführen. Rechnerisch musste das scheitern, weil man sich nach diesen Schemata einfach zu viele Variablen frei ausdenken darf. Die Anforderung, dass Produktionsmittelwerte letztlich in Konsumtionsmittel übergehen sollen, damit sich ihre Anschaffung für das Gesamtkapital lohnt, kommt in ihnen nicht vor.
Deutlicher wird das Problem vielleicht, wenn man die Gleichungen {C} und {D} kombiniert:
{D} In C = IIm V + IIm K
{C*} In V = IIn C – In K
Bei Division der Gleichungen, {D} /{C*}, kommt die organische Zusammensetzung des Kapitals von Abteilung I heraus:
{E} In C /In V = (IIm V + IIm K) /(IIn C – In K).
Damit In C /In V möglichst groß werden kann, müssen widersprüchlicherweise die konsumbezogenen Werte (IIm V + IIm K) und In K möglichst groß werden, während das konstante Kapital IIn C möglichst klein werden sollte.
Gleichung {E} verdeutlicht, inwiefern eine niedrige organische Zusammensetzung des Kapitals von Abteilung II, die in landwirtschaftlich orientierten Ländern dominiert (rechte Seite der Gleichung) die Entwicklung der kapitalistischen Kernstaaten (linke Seite der Gleichung) fördert.
Die geschilderten Zusammenhänge ergeben sich aus der Überlegung, dass der Wert von Produktionsmitteln früher oder später in den von Konsumtionsmitteln übergehen muss, damit sich ihre Anschaffung lohnt. Damit dies der Fall sein kann, müssen im Großen und Ganzen die beiden Gleichungen {D} und {C} eingehalten werden.
Im Kern handelt es sich um ein Akkumulationsproblem, das aus der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals folgt – oder auch aus einem übermäßigen Wachstum von Abteilung I im Vergleich zu Abteilung II, ohne dass sich unbedingt die organische Zusammensetzung der Einzelkapitale erhöhen muss.
Im Unterschied dazu handelt es sich beim oben behandelten Problem der Nichtakkumulierbarkeit von Kapital im »reinen Kapitalismus«, das an den Doppeltanrechnungen der zu akkumulierenden Werte ablesbar ist, um ein Akkumulationsproblem, das die Mehrwertproduktion für sich schon mit sich bringt und das auch bei nicht steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals besteht.
Luxemburgs stückkostenbezogene Bauer‐Kritik
Otto Bauer, findet Luxemburg, scheitert mit seinem Vorhaben, die Möglichkeit der Kapitalakkumulation bei steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals zu illustrieren, aus drei Gründen:
- Die Logik der Marxschen Schemata eignet sich für den angestrebten Zweck nicht.
- Bauers »Kapitalverschiebungen« sind unzulässig.
- In Bauers Zahlenbeispiel wächst die organische Zusammensetzung des Kapitals ohne Auswirkungen auf die Mehrwertrate.
Der dritte Punkt, meint Luxemburg, stelle nicht lediglich eine Vereinfachung dar, sondern einen Verstoß gegen wissenschaftliche Grundprinzipien.
»Bauer […] nimmt mit Marx eine feste Mehrwertrate, zugleich aber im Gegensatz zu Marx einen starken und unaufhörlichen technischen Fortschritt an! Er zieht technischen Fortschritt in Rechnung, der aber die Ausbeutung gar nicht steigert, – also zwei Bedingungen zugleich, die einander ins Gesicht schlagen, einander aufheben.«[17]
Genausogut könne ein »Mathematiker […] die eine Hälfte seiner Gleichung mit 2 multiplizieren und die andere unverändert lassen«.
Anhand einer in Luxemburgs Buch Die Akkumulation des Kapitals genannten Bedingung technischen Fortschritts im Kapitalismus wird ihr Einwand klarer:
»Die unterste Grenze der Anwendbarkeit der Maschine in der kapitalistischen Produktion ist mit den Kosten der durch sie verdrängten Arbeitskraft gegeben. Das heißt, für den Kapitalisten kommt eine Maschine erst dann in Betracht, wenn ihre Produktionskosten – bei gleicher Leistungsfähigkeit – weniger betragen als die Löhne der durch sie verdrängten Arbeiter.«[18]
Damit sich der Einsatz von zusätzlichen oder neueren Maschinen lohnt, darf die Anschaffung der Maschinen nicht zur Erhöhung der Produktionskosten pro Ware (Stückkosten) führen, qualitative Gleichheit der Waren vor und nach der Modernisierung vorausgesetzt. Als Formel ausgedrückt und »Wertpreise« unterstellt, muss, wenn das konstante Kapital relativ zum variablen gegenüber dem Vorjahr wachsen können soll, für die Stückkosten gelten:
{F} (csJ – csJ – 1) + (vsJ – vsJ‑1) ≤ msJ – msJ – 1
In Worten: Stückkostenbezogene Mehrausgaben für das konstante und variable Kapital müssen durch Zugewinne beim Mehrwert gerechtfertigt sein oder dürfen zumindestens keinen Mehrwertverlust bringen.
Die Formel umgestellt ergibt:
{F*} vsJ – vsJ‑1 ≤ (msJ – msJ – 1) – (csJ – csJ – 1)
Stückkostenbezogene Mehrausgaben für das variable Kapital (vsJ – vsJ‑1) dürfen die Summe möglicher Ersparnisse beim konstanten Kapital (csJ – csJ – 1) und möglicher Zugewinne beim Mehrwert (msJ – msJ – 1) nicht übersteigen. Praktisch können Mehrausgaben für das variable Kapital etwa entstehen, wenn in Fabriken einfach zu wartende, teure Maschinen aus Stahl durch kompliziert zu handhabende billigere Plastikapparate mit Standardchips ersetzt werden, deren Betrieb besser zu bezahlende Arbeitskräfte erfordert.
Da Stückkosten – abhängig u.a. von den produzierten Mengen – auch bei gleicher Technik beträchtlich schwanken können und Mehrwert sowieso nicht einzelbetrieblich interpretiert werden kann, sind obige Formeln eine grobe Vereinfachung. Im Zusammenhang mit den ebenfalls grob vereinfachenden Marxschen Reproduktionsschemata spielt Bedingung {F} keine Rolle, solange man in Beispielrechnungen wie Marx die organische Kapitalzusammensetzung konstant hält, da die Stückkosten bzw. stückbezogenen Werte dann leicht als gleich bleibend unterstellt werden können.
In Bauers und anderen Zahlenbeispielen mit steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals spielt Bedingung {F} jedoch eine Rolle:
Werden die Stückkosten beim variablen Kapital gesenkt, damit sich Mehrkosten beim konstanten Kapital zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals lohnen können, kann die »stückkostenbezogene Mehrwertrate« ms/vs nur dann gleich bleiben, wenn der stückkostenbezogene Mehrwert ms sinkt. In diesem Fall hätten sich die Kapitalistinnen durch den technischen Fortschritt auch im Schema‐Kapitalismus selbst »ins Gesicht geschlagen«.
Fußnoten
[1] Eduard Bernstein in »Vorwärts«, 26. März 1899. Zit. n. Kautsky: Bernstein und das Sozialdemokratische Programm (1899)
[2] Luxemburg: Akkumulation, S. 276
[3] Damit dieser Beitrag für sich selbst funktioniert, wiederhole ich vieles, das Maike Neunert aufzeigte.
[4] Das Kapital II, S. 396
[5] Marx: Das Kapital III, 10. Kapitel, S. 184
[6] Luxemburg: Antikritik, Original S. 17
[7] Marx: Das Kapital II, S. 493
[8] Luxemburg: Akkumulation, S. 135
[9] Bis auf das 4. Jahr gilt nach Bauers Artikel, S. 837, in jedem Jahr: IJ c + IIJ c = IJ‑1 gesamt. Im 4. Jahr aber ist I4c+ II4c= 266 000, während I3 gesamt = 266 200. Dass es sich dabei um einen Rechen‐ oder Druckfehler handelt, wird in Bauers Artikel auf Seite 835 deutlich.
[10] Bauer: Die Akkumulation des Kapitals Teil 1, S. 836
[11] Die Akkumulation des Kapitals Teil 2, S. 863
[12] Luxemburg: Antikritik, Original S. 60
[13] Luxemburg: Antikritik, Original S. 65
[14] Bei einem kapitalistischen System mit einer kauffähigen Außenwelt, wäre »Konsumtionsmittel« durch »Endprodukte« zu ersetzen: alle Waren, die nicht wieder in die Produktion des Systems eingehen.
Dieser Abschnitt verdankt vieles einem Artikel von G. Bulginski, der 1944 in einer Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz erschien: Rosa Luxemburg und der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. In: Rote Revue – Sozialistische Monatszeitschrift, 23. Jahrgang Heft 6, Februar 1944, S. 196 – 205. Über G. Bulginski, vielleicht ein Pseudonym, konnte ich leider nichts herausfinden, außer dass er:sie zwei Artikel in der Roten Revue veröffentlichte.
[15] Abgesehen von allen möglichen anderen krassen Vereinfachungen kommt es in den Grenzbereichen der Zeiträume n und m zu Vermischungen: Teile des Kapitals beziehen sich nicht auf die Wertübertragung der im Zeitraum n geschaffenenen Produktionsmittel, sondern auf zuvor geschaffene bzw. neue Produktionsmittel. Davon wird hier abgesehen – was wohl nicht so schlimm ist, weil die betroffenen Beträge bei größeren Zeiträumen relativ klein sind.
[16] Luxemburg: Akkumulation, S. 99
[17] Luxemburg: Antikritik, Original S. 62
[18] Luxemburg: Akkumulation, S. 274
Bild: Otto Bauer 1919 (Wikimedia Commons | IISG, ID 10459096_MARC) und Rosa Luxemburg 1910 (Wikimedia Commons) vor Bauers Artikel.