Die revolutionäre Intelligenzija

Vorbemerkung: Die hier vorgetragenen Betrachtungen beziehen sich auf die USA, sind also nicht unbedingt in jedem Fall auf deutschsprachige Länder oder nur in Abstrichen anwendbar. Autoren wie Catherine Liu oder Vivek Chibber liegen in deutsch vor und werden breit rezipiert. Dies und auch die Tatsache, dass der Text wichtige allgemeine Aspekte einbringt, die bereits in der MagMa vorliegende Diskussionen beispielsweise zum Versagen der Linken oder der Arbeiteraristokratie ergänzen, haben uns zur Übersetzung bewogen.

Zusammenfassung

In jüngster Zeit haben Marxisten und andere Linke wie Adolph Reed, Vivek Chibber, Catherine Liu und andere argumentiert, dass die Linke ins Wanken gerate, weil sie größtenteils aus Intellektuellen der Professional Managerial Class (PMC) bestehe, deren Klasseninteressen eher mit neoliberaler Identitätspolitik als mit sozialistischer Politik der Arbeiterklasse verbunden sei, aus der sie sich nicht zusammensetze. Diesen Marxisten zufolge gibt es also eine wachsende Kluft zwischen der Linken und der Arbeiterklasse, weil die Linke von Intellektuellen der PMC dominiert werde, deren Klasseninteressen im Widerspruch zu denen der Arbeiterklasse stünden. Ich behaupte, dass es zwar eine Art Kluft zwischen der Linken und der Arbeiterklasse gibt, dass diese Kluft aber nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Linke von PMC‐​Intellektuellen dominiert wird, weil das Konzept der PMC vom Standpunkt der marxistischen Theorie aus gesehen zweifelhaft ist. Anstatt das Konzept der PMC, das in den 1970er Jahren von Barbara und John Ehrenreich entwickelt wurde, zur Erklärung der Kluft zwischen der Linken und der Arbeiterklasse heranzuziehen, behaupte ich, dass es sich um ein seit den Anfängen der sozialistischen Politik immer wiederkehrendes Problem handelt. Lenin führte dieses Problem auf Opportunismus und insgesamt auf ein politisches und theoretisches Versagen zurück, was die Verpflichtung gegenüber der revolutionären Theorie betrifft. Ich wende mich den Werken von Lenin und Gramsci zu, um die Rolle der revolutionären Intellektuellen und ihr Verhältnis zur Arbeiterklasse zu erklären. Ich behaupte, dass wir uns derzeit in einem Stellungskrieg befinden, in dem die revolutionären Intellektuellen lernen müssen, die revolutionäre Theorie anzupassen und zu aktualisieren, um die Zustimmung der proletarischen Massen zu gewinnen, bevor wir in der Lage sein werden, eine Revolution durchzuführen.

Einer der vorherrschenden Kritikpunkte an der Linken ist, dass sie von Intellektuellen der Mittelklasse oder der PMC (professional‐​managerial class) dominiert wird. Marxisten und andere Linke (die ich beide als selbstkritische Linke bezeichnen möchte) wie Vivek Chibber, Adolph Reed, Catherine Liu, Barbara Ehrenreich und andere scheinen alle eine ähnliche Kritik zu äußern, nämlich dass die Linke ins Wanken gerate, weil sie von Intellektuellen aus der Mittelschicht/​PMC dominiert werde, die mehr mit den gebildeten, küstennahen, städtischen und kosmopolitischen liberalen Eliten gemeinsam hätten als mit den proletarischen Massen. Diese selbstkritischen Linken argumentieren, dass nicht nur die Klassenzusammensetzung der Linken überwiegend aus der Mittelschicht bestehe, sondern auch ihr Klasseninteresse im Widerspruch zu dem der Arbeiterklasse stehe, was zu der wachsenden Kluft zwischen der Linken und der Arbeiterklasse beitrage. Adolph Reed argumentiert zum Beispiel so:

»Selbst wenn sich ihre Befürworter für Radikale halten, ist diese antirassistische Politik eine Politik der Professional Managerial Class. Ihren Anhängern geht es nicht um den Versuch, eine große, breite politische Basis zu schaffen, die für die Verfolgung einer transformativen Agenda erforderlich ist, weil sie sich grundsätzlich dem Streben nach Rassengleichheit innerhalb des Neoliberalismus verschrieben haben, nicht aber der sozialen Transformation.«1

Adolph Reed argumentiert in der obigen Passage, dass der Grund, warum viele selbsternannte Linke auf Ziele drängen, die die kapitalistische politische Ökonomie nicht direkt in Frage stellen, darin liege, dass ihre antirassistische Politik im Wesentlichen eine Politik der Professional Managerial Class sei. Mit anderen Worten: Es liegt im Klasseninteresse dieser antirassistischen »Linken« als professionelle Manager, den Kapitalismus im Rahmen des Neoliberalismus zu reformieren, um ihrer Klasse mehr Möglichkeiten zu eröffnen. Reed geht in seiner Argumentation davon aus, dass selbsternannte Linke unter dem Deckmantel einer antirassistischen Politik ihr eigenes Klasseninteresse verfolgen, während ihnen die Interessen der Arbeiterklasse gleichgültig seien. Jahrzehnte bevor Adolph Reed das Konzept der PMC zur Kritik der Linken verwendete, argumentierten Barbara und John Ehrenreich, dass die Beziehung der PMC zur Arbeiterklasse »objektiv antagonistisch« sei.2 Wie kamen sie zu diesem Schluss? Beginnen wir damit, wie die Ehrenreichs die PMC definieren. Die PMC besteht aus:

»[…] lohnabhängigen geistigen Arbeiter, die nicht Eigentümer der Produktionsmittel sind und deren Hauptfunktion in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung allgemein als Reproduktion der kapitalistischen Kultur und der kapitalistischen sozialen Beziehungen beschrieben werden kann.«3

Mit anderen Worten: Im Unterschied zur Funktion des durchschnittlichen Lohnarbeiters, der nicht nur seine Arbeitskraft verkauft, sondern auch Mehrwert produziert und damit zur Verwertung des Kapitals beiträgt, besteht die Funktion der PMC in der Reproduktion der kapitalistischen Kultur und Ideologie durch Institutionen der Bildung, des Journalismus, der Unterhaltung, der Kunst, der Öffentlichkeitsarbeit, der Religion (einschließlich der Zivilreligion) und so weiter. Darüber hinaus liegt der Ursprung der PMC als Klasse laut Ehrenreichs in der historischen Enteignung von produktiven Fertigkeiten, die einst in einer Arbeiterkultur beheimatet waren.4 Beispielsweise wurden Fertigkeiten, die in den Haushalten der Arbeiterklasse weit verbreitet waren, selten oder sind gar nicht mehr vorhanden, weil diese häuslichen Fertigkeiten professionalisiert wurden und die Arbeitsteilung neu strukturiert wurde. So wurde beispielsweise die Hebammentätigkeit als häusliche Praxis vom Staat illegalisiert, um durch professionelle Gesundheitsarbeit ersetzt zu werden.5 Die Ehrenreichs führen auch Beispiele von »Kulturproduzenten« wie Ärzten, Journalisten, Lehrern, Werbefachleuten und so weiter an. Diese treten an die Stelle einer autonomen Arbeiterkultur, in der die Arbeiter Aufgaben ausführten, die mit den oben genannten »Kulturproduzenten« verbunden waren.6

Wenn Marxisten wie Adolph Reed argumentieren, dass ein großer Teil der linken Politik in Wirklichkeit PMC‐​Politik ist, dann meinen sie damit, dass die zeitgenössische linke Politik im Widerspruch zu den Interessen der Arbeiterklasse stehe. Ich stimme zwar zu, dass es Fälle gibt, in denen das, was als »linke« Politik durchgeht, im Widerspruch zu den Interessen der Arbeiterklasse stehen kann, aber ich glaube nicht, dass die Wurzel des Problems darin liegt, dass die Linke von PMC‐​Intellektuellen dominiert wird, denn das Konzept der Professional Managerial Class ist aus mehreren Gründen zweifelhaft.

Erstens besteht eines der Kriterien der Ehrenreichs zur Abgrenzung der Professional Managerial Class von der Arbeiterklasse darin, dass Fähigkeiten, die einst in der Arbeiterkultur beheimatet waren, der Arbeiterklasse durch Professionalisierung entzogen werden. Wenn wir diesem Kriterium konsequent folgen, müssten wir zu dem Schluss kommen, dass die Dienstleistungsangestellten in Friseursalons zur PMC gehören, da ihre Fähigkeiten einst in der Arbeiterkultur üblich und heimisch waren, aber durch die Professionalisierung unüblich wurden. Friseure benötigen eine Lizenz, um ihre Arbeit als Friseur zu verkaufen. Das allein verbietet zwar nicht, dass Menschen sich zu Hause selbst frisieren, aber die Professionalisierung des Friseurhandwerks hat das häusliche Friseurhandwerk, das in der Arbeiterklasse üblich ist, weitgehend ersetzt. Die meisten von uns würden jedoch zustimmen, dass solche Friseure uns nicht als »PMC« oder Angestellte vorkommen. Wenn die meisten von uns an »PMCs« denken, denken wir an Angestellte, die in Geschäftsbüros, in der Wissenschaft, in Regierungsbüros, im Journalismus und so weiter arbeiten, aber Angestellte von Friseursalons kommen uns nicht wie Angestellte vor.

Zweitens ist ein weiteres Kriterium, das die Ehrenreichs verwenden, um die Professional Managerial Class von der Arbeiterklasse abzugrenzen, dass erstere die kapitalistische Ideologie/​Kultur und die kapitalistischen sozialen Beziehungen reproduzieren. Dieses Kriterium ist jedoch unzulässig weit gefasst. So reproduziert beispielsweise der Verkauf von Arbeit selbst die kapitalistischen sozialen Beziehungen und damit auch die kapitalistische Kultur/​Ideologie. Macht dies Lohnarbeiter zu PMCs? Kapitalisten, die Arbeitskraft zur langfristigen Kapitalakkumulation kaufen, reproduzieren die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, aber sie sind keine PMCs. Es gibt viele Lohnarbeiter, die kapitalistische Kultur und Ideologie verbreiten, ohne formelle Stellvertreter oder Funktionäre dessen zu sein, was Althusser einen ideologischen Staatsapparat nennt.7 So gibt es beispielsweise einige Lohnarbeiter mit falschem Bewusstsein, die als Teilzeit‐​Onlinestreamer, TikToker oder Twitter‐​Nutzer kapitalistische Kultur/​Ideologie verbreiten, aber macht sie das zu PMCs?

Drittens geht das Konzept der PMC von einer sehr scharfen Trennung zwischen körperlicher Arbeit und geistiger Arbeit aus. Antonio Gramsci stellt jedoch die scharfe Unterscheidung zwischen körperlicher Arbeit und geistiger Arbeit in Frage. Gramsci schreibt:

»Es ist schwierig, ein einziges Kriterium zu finden, das gleichermaßen alle disparaten intellektuellen Tätigkeiten charakterisiert und sie gleichzeitig in grundsätzlicher Weise von den Tätigkeiten der anderen gesellschaftlichen Gruppierungen unterscheidet. Der verbreitetste methodische Irrtum scheint mir der, dieses Wesensmerkmal im Kern der intellektuellen Tätigkeit gesucht zu haben und nicht vielmehr im System der Verhältnisse, in dem sie (oder die Gruppierung, die sie verkörpert) sich im Gesamtkomplex der gesellschaftlichen Verhältnisse wiederfindet. Tätsächlich: 1. Der Arbeiter ist nicht spezifisch durch manuelle oder instrumentelle Arbeit gekennzeichnet (abgesehen davon, daß es rein körperliche Arbeit nicht gibt und das auch Taylers Ausdruck vom »dressierten Gorilla« eine Metapher ist, um eine Grenze in in einer bestimmten Richtung anzuzeigen: es gibt in jeglicher körperlicher Arbeit, auch in der mechanischsten und entwürdigendsten, ein Minimum an schöpferischer intellektueller Tätigkeit), sondern durch diese Arbeit unter bestimmten Bedingungen und unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen [meine Hervorhebung].«8

Gramsci argumentiert in dieser Passage, dass man die Arbeitstätigkeiten nicht nach ihrer eigentlichen Natur gruppieren, sondern sie im Kontext eines Ensembles von sozialen Beziehungen analysieren sollte. Dieser Argumentation folgend argumentiert Gramsci, dass ein Arbeiter oder Proletarier nicht durch seine manuelle oder instrumentelle Arbeit als solche charakterisiert wird, sondern vielmehr durch die spezifischen Bedingungen und die spezifischen sozialen Beziehungen, in denen die Arbeit stattfindet. Im Lichte der Argumentation von Gramsci erscheint das Konzept der Professional Managerial Class zweifelhaft. Der Begriff »PMC«, der als eine Klasse von bezahlten geistigen Arbeitern definiert ist, wird verwendet, um die Arbeiter nach der intrinsischen Natur ihrer Arbeit zu charakterisieren: geistige Arbeit. Diese Art der Charakterisierung von Arbeitern setzt jedoch voraus, dass es rein (oder hauptsächlich) intellektuelle Tätigkeiten gibt, die von Angestellten verrichtet werden, während es rein (oder hauptsächlich) manuelle Arbeit gibt, die von Arbeitern verrichtet wird. Gramsci weist zu Recht darauf hin, dass sich ein Proletariat nicht durch die Eigenart seiner manuellen oder instrumentellen Arbeit auszeichnet, sondern dass seine Arbeit dadurch gekennzeichnet ist, dass sie unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten sozialen Beziehungen verrichtet wird. Karl Marx macht einen ähnlichen Punkt im Anhang des Kapital. Marx argumentiert, dass ein Autor wie John Milton, der sein Werk produziert, es aber selbst verkauft, ein unproduktiver Kaufmann ist (unproduktiv vom Standpunkt des Kapitals aus), aber ein »Leipziger Literaturproletarier«, der von einem privaten Verlag angestellt ist, ein produktiver Arbeiter sei.9 Ein Literaturproletarier, der für einen Verlag schreibt, verrichtet Arbeit, die geistige und körperliche Fähigkeiten erfordert, aber er ist ein »Literaturproletarier« aufgrund der Tatsache, dass er seine Arbeit unter »bestimmten Bedingungen und in bestimmten sozialen Beziehungen« verrichtet.

Insgesamt steht das Konzept der Professional Managerial Class als eine vom Proletariat getrennte Klasse im Widerspruch zur marxistischen Konzeption der Arbeiterklasse. Diese basiert auf der Analyse der Arbeit nicht im Hinblick auf ihre intrinsische Natur, sondern auf der Analyse der Arbeit unter spezifischen sozialen Bedingungen und spezifischen sozialen Beziehungen. Abgesehen von der theoretischen Fundiertheit des Konzepts der PMC ist es nicht notwendig, sich darauf zu berufen, um die Linke zu kritisieren. In der Geschichte der (sozialistischen) Linken gab es immer wieder das Problem einer Kluft zwischen den Intellektuellen und der Arbeiterklasse, die zeitweise auftrat oder wiederkehrte. Lenin hat dieses wiederkehrende Problem vom späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert beobachtet, lange bevor das Konzept der PMC entwickelt wurde:

»Das getrennte Bestehen von Arbeiterbewegung und Sozialismus hatte zur Folge, daß beide schwach und unentwickelt waren: die nicht mit dem Kamp der Arbeiter verschmolzenen Lehrer der Sozialisten blieben bloße Utopien, fromme Wünsche, die auf das wirkliche Leben keinen Einfluß hatten, die Arbeiterbewegung blieb im Kleinkram befangen, zersplittert, sie erlangte keine politische Bedeutung, sie wurde nicht durch die fortschrittliche Wissenschaft ihrer Zeit erleuchtet.«10

Die Kluft zwischen der Arbeiterklasse und den revolutionären Intellektuellen ist also kein zeitgenössisches Problem, das erst in der Zeit des späten Kalten Krieges entstanden wäre, sondern ein immer wiederkehrendes (wenn auch keineswegs eine geschichtliche Konstante) Problem der Linken. Lenin führte diese Kluft zwischen den revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse auf Opportunismus und Sozialchauvinismus vor und während des Ersten Weltkriegs zurück. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es viele Sozialisten wie etwa Eduard Bernstein, die den Marxismus radikal revidierten, um den Reformismus zu rechtfertigen. Während des 1. Weltkriegs gab es selbsternannte Marxisten, die den Marxismus missbrauchten, um ihren Sozialchauvinismus zu rechtfertigen. Im Falle der letzteren führte Lenin dieses Problem des Opportunismus und des Sozialchauvinismus auf die wachsende Arbeiteraristokratie zurück, aber diese Zuschreibung kann auch für die ersteren gelten.

Gegenwärtig gibt es zweifellos eine Art Kluft zwischen der Arbeiterklasse und den Intellektuellen. Wie kam es zu dieser Kluft? Bevor ich eine Antwort versuche, gilt es, die Rolle des revolutionären Intellektuellen aus einer lenninistischen Perspektive zu verstehen. Die Kritik der Linken als von PMC‐​Intellektuellen dominiert scheint die Rolle der revolutionären Intellektuellen herunterzuspielen oder zu ignorieren. Eine Erläuterung der Rolle des revolutionären Intellektuellen würde helfen, diesen Fehler zu korrigieren.

Was ist die Rolle der Intellektuellen bei der Befreiung des Proletariats und der unterdrückten Völker? Wladimir Lenin, dessen Auffassung zu dieser Frage von Karl Kautsky inspiriert ist, schreibt in Was tun:

»Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden [meine Hervorhebung]. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft. nur ein trade‐​unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeitet notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.«11

Lenin will damit sagen, dass die Arbeiterklasse, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, bestenfalls ein gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln wird, aber nicht unbedingt ein »sozialdemokratisches« Bewusstsein ohne die Hilfe von Intellektuellen. Was Lenin mit »gewerkschaftlichem Bewusstsein« meint, ist, dass die Arbeiter im Rahmen des Klassenkampfes organisch und spontan Gewerkschaften entwickeln werden, die sie gegen die Kapitalisten einsetzen, um für einen existenzsichernden Lohn, sichere Arbeitsbedingungen, weniger Arbeitsstunden und andere Arbeitsrechte zu kämpfen. Gewerkschaftliches Bewusstsein ist jedoch ein spontan entwickeltes Bewusstsein, das die Arbeiterklasse zum Kampf gegen die Kapitalisten motiviert, allerdings im begrenzten Rahmen der Lohnarbeit. Was das gewerkschaftliche Bewusstsein impliziert, ist die Akzeptanz der Lohnarbeit als eine legitime und »naturgegebene« Form der Arbeit, die die Lohnarbeiter nur reformieren, aber nicht überwinden können.

Diese Form des Bewusstseins entwickelt sich spontan, da sie in erster Linie auf den unmittelbaren Erfahrungen der Arbeiterklasse in Bezug auf die Lohnarbeit beruht. Langfristig, wenn sie die Symptome der Ausbeutung durch das Kapital über einen ausreichenden Zeitraum erleben, werden die Lohnarbeiter wahrscheinlich gegen die Ausbeutung reagieren, indem sie Gewerkschaften gründen und so ihre neu gewonnene kollektive Verhandlungsmacht nutzen, um für bessere Arbeits‐ und Lebensbedingungen zu kämpfen. Die Ausbeutungserfahrung, aus der gewerkschaftliches Bewusstsein erwächst, beschränkt sich jedoch auf das, was der Fall ist, nämlich die Lohnarbeit. Im Gegensatz dazu ist das, was jenseits der beobachteten Realität möglich ist, der Kommunismus. Mit anderen Worten: Das gewerkschaftliche Bewusstsein ist durch die unmittelbare Erfahrung der Arbeiterklasse in Bezug auf die bestehende Realität bedingt, aber es blickt nicht über die unmittelbare und oberflächliche Erfahrung hinaus. Dies ist die Einschränkung der Spontaneität des gewerkschaftlichen Bewusstseins. Nichtsdestotrotz ist die Entwicklung des gewerkschaftlichen Bewusstseins ein notwendiger Schritt hin zu dem, was Lenin »sozialdemokratisches« Bewusstsein nennt.

Das »sozialdemokratische« Bewusstsein ist ein Ergebnis des Prozesses der Negation der Negation. Das gewerkschaftliche Bewusstsein negiert die frühere besondere Form des Untertanenbewusstseins der Arbeiter, die sich angesichts verschiedener sozioökonomischer Kräfte, die mit dem Kapital verbunden sind, ohnmächtig fühlen (beispielsweise die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die Fluktuation des Preises der Arbeitskraft, die Preise der für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Waren, der Preis der Miete, die Inflation und so weiter). Das mit dem Untertanenbewusstsein verbundene Gefühl der Ohnmacht erzeugt das Verlangen, sozioökonomische Handlungsfähigkeit zu entwickeln, um die scheinbar unpersönlichen sozioökonomischen Kräfte des Kapitals zu überwinden. Wenn dieses Verlangen unter den Arbeitern im Verhältnis zu den sich verschlechternden Arbeitsbedingungen stark wird, werden die Arbeiter motiviert, ihrem Verlangen nachzukommen und entwickeln dadurch spontan ein gewerkschaftliches Bewusstsein. Die Aktivität der Arbeiter zur Veränderung der Realität der Lohnarbeit, die nicht zu einer vollständigen Transformation führt, negiert ihr Untertanenbewusstsein, aber das Verlangen nach sozioökonomischer Handlungsfähigkeit wird zu einem höheren Bewusstsein erhoben: dem gewerkschaftlichen Bewusstsein.

Das gewerkschaftliche Bewusstsein beruht jedoch auf der Akzeptanz der »Realität« der Lohnarbeit. Was im gewerkschaftlichen Bewusstsein implizit enthalten ist, ist die anhaltende Naturalisierung oder Verdinglichung der Lohnarbeit durch die Arbeiter. Die Lohnarbeit setzt die Welt der Waren voraus, die als eine feste und natürliche Realität erscheint, die uns beherrscht. Da das gewerkschaftliche Bewusstsein letztlich durch die Erscheinung der naturalisierten, verdinglichten und unveränderlichen Welt der Waren bedingt ist, können die Arbeiter das Kapital nicht überwinden, ohne sich der Möglichkeit jenseits der Welt des Kapitals bewusst zu sein. Mit anderen Worten: Damit die Arbeiter über die oberflächliche Erscheinung der Welt des Kapitals hinausgehen können, müssen sie eine höhere Form des Bewusstseins entwickeln, die das gewerkschaftliche Bewusstsein negiert. Dies ist das »sozialdemokratische« oder sozialistische Bewusstsein.

Die sich selbst überlassenen Arbeiter können organisch und spontan ein gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln, aber sie werden nicht organisch und spontan eine revolutionäre Theorie entwickeln, die eine umfassende und radikale Kritik des Kapitalismus bietet. Lenin stellt in Anlehnung an Karl Kautsky fest, dass die revolutionäre Theorie von der revolutionären Intelligenz entwickelt wird, von der viele aus der bürgerlichen Intelligenz stammen. Karl Marx und Friedrich Engels stammten aus der bürgerlichen Intelligenz. Sie synthetisieren bürgerliche intellektuelle Theorien aus der deutschen Philosophie (zum Beispiel Hegels Methode der Dialektik), der englischen politischen Ökonomie (beispielsweise Adam Smiths und David Richardos politische Wirtschaftstheorien) und dem französischen Sozialismus, um eine systematische und radikale Kritik des Kapitalismus zu entwickeln, die dessen Potenzial zur Umwandlung in den Kommunismus aufzeigt.12 Im Wesentlichen ist das, was Marx und Engels entwickelten, das, was die meisten von uns Marxismus nennen. Diese revolutionäre Theorie stammt von bürgerlichen Intellektuellen, wird aber von revolutionären Intellektuellen an das Proletariat herangetragen. Um es klar zu sagen: Revolutionäre Intellektuelle sind heterogen, was ihre Klassenzusammensetzung angeht. Revolutionäre Intellektuelle können aus Arbeitern, Kleinbürgern, Bourgeoisie, Bauern und so weiter bestehen, aber was sie alle gemeinsam haben, ist ihr Engagement für die revolutionäre Theorie und ihre Aufgabe, sie der Arbeiterklasse nahezubringen. In einem anderen Aufsatz vertritt Lenin die Ansicht, dass es zu einer Verschmelzung zwischen revolutionären Intellektuellen und dem Proletariat kommen muss:

»In allen europäischen Ländern haben Sozialismus und Arbeiterbewegung anfänglich getrennt voneinander bestanden. Die Arbeiter führten den Kampf gegen die Kapitalisten, sie organisierten Streiks und Gewerkschaften, die Sozialisten aber standen abseits von der Arbeiterbewegung, sie schufen Lehren, die die bestehende kapitalistische, bürgerliche Gesellschaftsordnung kritisierten und die Ersetzung dieser Ordnung durch eine andere, höhere, durch die sozialistische Ordnung verlangten. Das getrennte Bestehen von Arbeiterbewegung und Sozialismus hatte zur Folge, daß beide schwach und unentwickelt waren: die nicht mit dem Kamp der Arbeiter verschmolzenen Lehrer der Sozialisten blieben bloße Utopien, fromme Wünsche, die auf das wirkliche Leben keinen Einfluß hatten, die Arbeiterbewegung blieb im Kleinkram befangen, zersplittert, sie erlangte keine politische Bedeutung, sie wurde nicht durch die fortschrittliche Wissenschaft ihrer Zeit erleuchtet. Deshalb sehen wir in allen europäischen Ländern, daß sich immer stärker das Bestreben geltend macht, Sozialismus und Arbeiterbewegung zu einer einheitlichen sozialdemokratischen Bewegung zu verschmelzen. Der Klassenkampf der Arbeiter verwandelt sich bei einer solchen Verschmelzung in den bewußten Kampf des Proletariats für seine Befreiung von der Ausbeutung durch die besitzenden Klassen, es entwickelt sich die höchste Form der sozialistischen Arbeiterbewegung: die selbstständige sozialdemokratische Arbeiterpartei. Auf die Verschmelzung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung hingewirkt zu haben ist das Hauptverdienst von K. Marx und Fr. Engels: sie schufen eine revolutionäre Theorie, die die Notwendigkeit dieser Verschmelzung erklärte und den Sozialisten die Aufgabe stellte, den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren [meine Hervorhebung].«13

Lenin zufolge führt die Trennung von revolutionären Intellektuellen und Arbeitern zu einer Unterentwicklung von beiden. Einerseits degenerieren die revolutionären Intellektuellen zu kleinbürgerlichen Akademikern, die den Marxismus als eine rein diskursive Tätigkeit behandeln. Andererseits bleibt die Arbeiterklasse, der es an dem notwendigen sozialen Zusammenhalt als revolutionäre Klasse mangelt, politisch zersplittert und im gewerkschaftlichen Bewusstsein verhaftet. Es muss eine Fusion zwischen revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse in Form einer kommunistischen Partei geben. Eine kommunistische Partei ist die Einheit der Gegensätze zwischen revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse, die das revolutionäre Bewusstsein ausmacht. Die Verschmelzung zwischen revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse ist die Einheit von Theorie und Praxis. Die Verschmelzung zwischen revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse entwickelt beide Gruppen zu sich gegenseitig durchdringenden Kräften, die das revolutionäre Bewusstsein als Ganzes mitkonstituieren. Die gemeinsame Konstituierung von revolutionären Intellektuellen und der Arbeiterklasse wird in einer Partei der Arbeiterklasse verwirklicht, die mit einem revolutionären politischen Programm ausgestattet ist, das auf revolutionärer Theorie basiert.

In Anlehnung an Lenins Argumentation über die Bedeutung der revolutionären Intellektuellen betont Antonio Gramsci die Rolle der revolutionären Intellektuellen. Er entwickelt dabei eine Theorie der Intellektuellen im Allgemeinen, insbesondere der organischen Intellektuellen, als einer Gruppe, die eine Klassenperspektive für eine bestimmte soziale Klasse artikuliert, die entweder danach strebt, die herrschende Klasse zu werden oder ihren Status als herrschende Klasse aufrechtzuerhalten.14 Im Namen einer aufstrebenden herrschenden Klasse artikulieren die Intellektuellen eine Klassenperspektive als universelle, alle Klassen repräsentierende, Perspektive, um von ihnen Zustimmung zu erhalten. So haben beispielsweise (ein nicht unbedingt von Gramsci verwendetes Beispiel) bürgerliche Intellektuelle (zum Beispiel John Locke, Jean Jacques Rousseau, Denis Diderot und andere) vor und während der Französischen Revolution philosophische Komponenten des Liberalismus formuliert und entwickelt und dann den Liberalismus, eine bürgerliche Weltanschauung, als universelle Weltanschauung präsentiert, um der Bourgeoisie zu helfen, die Zustimmung der Volksschichten (zum Beispiel der Bauern, des Proletariats, des Kleinbürgertums, der Handwerker, der kleinen Kaufleute und so weiter) zu erhalten. Mit Hilfe ihrer Intellektuellen verschaffte sich die Bourgeoisie die Zustimmung der Volksschichten, um das Ancien Régime zu stürzen und als neue herrschende Klasse unter dem Deckmantel der Freiheit und Gleichheit über sie zu herrschen.

So wie die bürgerlichen Intellektuellen der Bourgeoisie helfen, die Zustimmung der Volksklassen zur Schaffung und Reproduktion der bürgerlichen kulturellen Hegemonie zu erhalten, können die revolutionären Intellektuellen dem Proletariat helfen, seine eigene Hegemonie zu schaffen und zu reproduzieren. Wie die bürgerlichen Intellektuellen, die die politische Theorie des Liberalismus in vertrauten Begriffen artikulieren, die bei der Bourgeoisie Anklang finden, müssen die revolutionären Intellektuellen die revolutionäre Theorie in vertrauten Begriffen artikulieren, die beim Proletariat Anklang finden. In dieser Phase des Klassenkampfes führen die revolutionären Intellektuellen das, was Gramsci den Stellungskrieg nennt. Mit anderen Worten: Im Stellungskrieg führen die revolutionären Intellektuellen einen ideologischen und »geistigen« Kampf gegen die hegemoniale Klasse, die Bourgeoisie, um die Köpfe und Herzen des Proletariats zu gewinnen. Dieser Stellungskrieg erfordert jedoch, dass sich die Intellektuellen mit der kollektiven Erfahrung und Kultur der Arbeiter vertraut machen, um eine revolutionäre Theorie zu formulieren, die bei ihnen auf Resonanz stoßen würde. Dazu gehört auch, die revolutionäre Theorie in ihrer rein abstrakten und universellen Form in eine konkrete Universalität zu verwandeln: ein revolutionäres politisches Programm. Wenn es den revolutionären Intellektuellen gelingt, eine revolutionäre Theorie zu formulieren, die das Proletariat lehrt, gehen sie vom Stellungskrieg zum Manöverkrieg über. Das Proletariat wird zu einer sozial kohäsiven revolutionären Klasse, einer Klasse für sich, die als revolutionärer Akteur gegen das Kapital agiert.

Insgesamt erkennen sowohl Lenin als auch Gramsci die Bedeutung der revolutionären Intellektuellen an. Trotz der Bedeutung der revolutionären Intellektuellen ist es jedoch wichtig, daran zu denken, dass revolutionäre Intellektuelle nicht vor Problemen gefeit sind. Eine der drohenden und heimtückischen Gefahren besteht darin, dass sich die Intellektuellen vom Proletariat abgrenzen und dadurch zu isolierten, den Marxismus auf eine rein diskursive Tätigkeit reduzierenden, Akademikern werden. Ein umfassenderes und allgemeineres Problem besteht jedoch darin, dass aufstrebende revolutionäre Intellektuelle unter dem heimtückischen, allgegenwärtigen und systemischen Einfluss der kulturellen Hegemonie zu Intellektuellen der Bourgeoisie werden. In welchem Sinne ist ein Intellektueller ein Intellektueller der Bourgeoisie? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich kurz darauf eingehen, was Gramsci unter »Intellektuellen« versteht.

Gramsci schreibt, dass »alle Menschen Intellektuelle« seien, insofern sie ihre intellektuellen Fähigkeiten in Bezug auf ihre Arbeit oder unabhängig davon besitzen und ausüben. Angesichts dieses weit gefassten Begriffs des Intellektuellen meinte Gramsci, dass es streng genommen keinen Nicht‐​Intellektuellen gebe. Während jedoch jeder Mensch ein Intellektueller sei, handele es sich bei dem, was man umgangssprachlich als »Intellektuelle« bezeichne, in Wirklichkeit um Stellvertreter oder Funktionäre der Bourgeoisie, die Positionen in der (bürgerlichen) Zivilgesellschaft einnehmen. Diese Stellvertreter der bürgerlichen Zivilgesellschaft spielen eine entscheidende Rolle bei der Artikulation und Propagierung einer bürgerlichen Weltanschauung als universelle Weltanschauung, um die Zustimmung der Volksschichten zur Herrschaft der herrschenden Klasse zu erlangen (oder zu erhalten). Konkret: Universitäten, Nichtregierungsorganisationen/​nicht gewinnorientierte Organisationen, Mainstream‐​Medien, Think Tanks, Kirchen und andere Institutionen artikulieren die bürgerliche Weltanschauung als universelle Weltanschauung für alle sozialen Klassen, insbesondere für die am stärksten unterdrückten und marginalisierten Subalternen, um Zustimmung zu erzeugen und so die Hegemonie der Bourgeoisie aufrechtzuerhalten.

Es gibt viele verschiedene und konkurrierende bürgerliche Anschauungen, die von verschiedenen Intellektuellen artikuliert werden, um die Zustimmung der Volksschichten zu gewinnen und zu erhalten. Die erfolgreichste bürgerliche Perspektive wird zur hegemonialen Perspektive der Bourgeoisie. Die herrschende Klasse muss sich ständig an den sich wandelnden Kapitalismus anpassen, so dass sie ihre Klassenvorstellungen anpassen muss, um die Herrschaft durch die Zustimmung der Volksschichten aufrechtzuerhalten. Seit der Covid‐​19‐​Pandemie, dem George‐​Floyd‐​Protest, der MeToo‐​Bewegung, der Klimabewegung, den Bewegungen der Ureinwohner und so weiter ist die herrschende Klasse gezwungen, ihre Sichtweise grundlegend zu ändern, um sich die Zustimmung der Volksschichten zu sichern, insbesondere der am stärksten Marginalisierten und Unterdrückten, die unter der weißen Vorherrschaft, dem Siedlerkolonialismus, dem heteronormativen Patriarchat und so weiter leiden. Das bedeutet, dass die herrschende Klasse die Konzepte und die Sprache radikal klingender Theorien aus den Universitäten und dem professionellen Aktivismus übernehmen muss, um die am stärksten Unterdrückten und Ausgegrenzten zu beschwichtigen. So wird die herrschende Klasse beispielsweise die identitätsorientierte Sprache der Intersektionalität, des Feminismus, der Queer‐​Theorie und dergleichen übernehmen, um ihre erneuerte bürgerliche Weltanschauung als eine universelle Weltanschauung der »sozialen Gerechtigkeit« darzustellen, die den am stärksten unterdrückten und marginalisierten Subalternen Anerkennung (wenn auch nur in begrenztem und formalem Umfang) verleiht. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist die herrschende Klasse jedoch auf die neuen Intellektuellen angewiesen, die ihre bürgerliche Weltanschauung erneuern, indem sie radikal klingende Theorien in den Liberalismus aufnehmen. Diese neuen Intellektuellen sind Karrieristen. Ihr Ziel ist es, die bürgerliche Weltanschauung in eine Weltanschauung umzuwandeln, die soziale Gerechtigkeit verdinglicht und von der materiellen Realität des Kapitalismus abstrahiert, um sie in eine abstrakte und verdinglichte universelle »soziale Gerechtigkeit« umzuwandeln. Dieses neu gefundene Ziel schafft mehr Karrieren in Universitäten, Nichtregierungsorganisationen/​nicht gewinnorientierte Organisationen, Mainstream‐​Medien, populären Publikationen und so weiter.

Karrieren, die natürlich mit Prestige, Fördermitteln, Titeln, Veröffentlichungen und anderen Formen der Bestechung einhergehen, ziehen aufstrebende und naive revolutionäre Intellektuelle an und machen sie zu Stellvertretern oder Funktionären der Bourgeoisie. Viele dieser aufstrebenden revolutionären Intellektuellen geben den Marxismus entweder ganz auf zugunsten pseudoradikaler Alternativen, oder sie berauben die »revolutionäre Lehre des Inhalts […], [brechen] ihre revolutionäre Spitze [ab], vulgarisier[en]« sie.15 Letztlich machen diese neuen pseudoradikalen Intellektuellen, die sowohl aus selbsternannten Marxisten als auch aus Nicht‐​Marxisten bestehen, im Namen der »sozialen Gerechtigkeit« falsche Befreiungsversprechen, aber ihre Version der »sozialen Gerechtigkeit« ist im Wesentlichen Reformismus mit radikaler Rhetorik.

Die von mir beschriebenen Intellektuellen sind in der Tat die erfolgreichsten und wünschenswertesten Intellektuellen für die herrschende Klasse. Denn sie sind in der Lage, die Sichtweise der herrschenden Klasse neu zu artikulieren, so dass sie selbst bei den am stärksten unterdrückten und marginalisierten Subalternen auf Resonanz stößt, um deren Zustimmung zum Regieren zu erreichen. Es gibt jedoch auch andere Intellektuelle, die objektiv Intellektuelle der Bourgeoisie sind, da sie eine Ideologie artikulieren, die mit dem Kapitalismus kongruent ist. Sie scheitern jedoch an der Aufgabe, eine Ideologie für die Bourgeoisie zu artikulieren, die die Zustimmung der Volksschichten zur Herrschaft erhalten kann. Ich denke dabei an Neofaschisten, Libertäre, christliche Nationalisten, Neokonservative und andere, die eine rechtsextreme Ideologie artikulieren, die formal mit dem Kapitalismus übereinstimmt, aber nicht mit dem Liberalismus. Ihre Ideologie wird von der herrschenden Klasse nicht befürwortet, weil diese davon überzeugt ist, dass sie im Rahmen des Liberalismus weiterhin hauptsächlich durch Zustimmung herrschen kann.

Im Allgemeinen ist jeder Mensch ein Intellektueller. Im Kontext einer Klassengesellschaft haben Intellektuelle jedoch zwangsläufig einen Klassencharakter. In einer Klassengesellschaft ist ein Intellektueller nicht nur jemand, dessen Beruf ein regelmäßiges Nachdenken über Ideen erfordert, sondern jemand, der seine intellektuellen Fähigkeiten einsetzt, um eine Klassenperspektive entweder für die herrschende Klasse oder die subalterne Klasse zu artikulieren, um die Klassenmacht zu konsolidieren. Der Klassencharakter eines Intellektuellen hängt nicht von seiner Klassenherkunft ab, sondern davon, welche Art von Klassenanschauung er artikuliert. Friedrich Engels zum Beispiel stammt aus der Bourgeoisie, aber sein Klassencharakter als Intellektueller ist proletarisch, weil er Karl Marx geholfen hat, eine revolutionäre Theorie für die Subalternen zu formulieren: das Proletariat. Im Gegensatz dazu haben die Intellektuellen, die als Stellvertreter des Kapitals in der bürgerlichen Gesellschaft fungieren, den Klassencharakter der Bourgeoisie, obwohl viele Intellektuelle proletarischen Ursprungs sind. Intellektuelle, die aus den subalternen Schichten stammen, werden zu Stellvertretern der Bourgeoisie aufgrund ihrer Position, die darin besteht, eine hegemoniale Sichtweise zu artikulieren und zu propagieren, um die Zustimmung der Volksschichten für die herrschende Klasse zu erhalten. Dies unterscheidet sich nicht allzu sehr von den Vertretern des staatlichen Zwangsapparats, der Polizei, von denen viele proletarischen Ursprungs sind, aber einen Klassencharakter der Bourgeoisie haben. Es gibt also keinen Intellektuellen, der unabhängig von der subalternen Klasse und der herrschenden Klasse ein eigenes Klasseninteresse sui generis hat. Intellektuelle gehören entweder der herrschenden Klasse oder der subalternen Klasse an, je nachdem, welche Klassenperspektive sie artikulieren und vertreten.

Da die herrschende Klasse selbst die am stärksten unterdrückten und marginalisierten Subalternen weiterhin in erster Linie durch hergestellte Zustimmung und nicht durch offenen Terror beherrschen muss (obwohl diese Form der Herrschaft durch hergestellte Zustimmung kritisch durch versteckten Terror ergänzt wird), muss die herrschende Klasse Konzepte und Vokabeln übernehmen, die bei den unterdrückten Subalternen Anklang finden. Die herrschende Klasse ist jedoch nicht in der Lage, diese Aufgabe allein ohne die Hilfe von Intellektuellen zu bewältigen. Daher rekrutiert die herrschende Klasse Intellektuelle, die sich in den radikalen und progressiven intellektuellen Traditionen relativ gut auskennen. Diese Intellektuellen sind keine revolutionären Intellektuellen, sondern Reformisten, die versuchen, die liberale Demokratie im Namen der »sozialen Gerechtigkeit« zu bewahren.

Revolutionäre Intellektuelle müssen diese abstrakte Universalität der »sozialen Gerechtigkeit« kritisieren, die nur Reformen, aber keine wirkliche Emanzipation bietet. Die Vorstellung der herrschenden Klasse von »sozialer Gerechtigkeit« scheint sich auf die Subalternen zu konzentrieren. In dieser bürgerlicher Auffassung werden die Subalternen jedoch nicht als Subjekte oder Autoren der Geschichte betrachtet, sondern als Objekte des Mitleids. Die Subalternen werden von der herrschenden Klasse als passive Opfer der Geschichte betrachtet, die von der herrschenden Klasse berichtigt und entschädigt werden. Die revolutionären Intellektuellen müssen sich jedoch darum bemühen, eine revolutionäre Theorie zu formulieren, die die Subalternen als selbsttätige Subjekte darstellt, die Geschichte machen. Emanzipation kann niemals von oben, von der herrschenden Klasse kommen, sondern muss immer eine Aktivität revolutionärer Subjekte sein, die die entfremdete Welt des Kapitals nach ihrer eigenen authentischen Vorstellung umgestalten, einer Vorstellung, die von der herrschenden Klasse durch opportunistische Intellektuelle effektiv zensiert wird.

Fußnoten

1 Adolph Reed, »Antiracism: a neoliberal alternative to a left«, in: Dialectical Anthropology 42 (2018)

2 Barabra and John Ehrenreich, »The Professional‐​Managerial Class«, in: Radical America 11 (1977), S. 17.

3 Ebenda, S. 13.

4 Ebenda, S. 18.

5 Ebenda, S. 17.

6 Ebenda, S. 17.

7 Louis Althusser, »Ideology and Ideological State Apparatus”, in: Lenin and Philosophy and Other Essays (New York City: Monthly Review, 1971).

8 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 3, Heft 4 § 49, S. 514 – 515.

9 Karl Marx, »Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses«, Archiv sozialistischer Literatur 17, Neue Kritik, Frankfurt a.M. 1968 (marxists​.org), S 70.

10 Lenin, »Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie« (1899), in Werke Bd. 4, S. 250.

11 Lenin, Was tun? (1902), in: Werke, Bd.5, S.355 – 549.

12 Lenin, »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« (1913), in: Werke, Bd.19, S.3 – 9.

13 Lenin, »Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie« (1899), in Werke Bd. 4, S. 250.

14 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 3, Heft 4 § 49.

15 Lenin, »Staat und Revolution« (1917), in: Werke, Band 25, Berlin/​DDR, 1972, S. 393 – 507.

Das englische Original erschien auf der Website des Eugene V. Debs Institute unter einer Creative Commons‐​Lizenz (CC BY 4.0)

Bild: Mexiko‐​Stadt – Palacio Nacional. Wandgemälde von Diego Rivera, das die Geschichte Mexikos zeigt: Detail mit Karl Marx (Wolfgang Sauber Creative Commons Attribution‐​Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic)

One thought on “Die revolutionäre Intelligenzija

  1. Es ist ziemlich absurd, wenn pseudo‐​linke, woke, degenerierte Bobos und Lohas mit »oranischen« oder »revolutionären« Intellektuellen im Verständnis von Gramsci oder Lenin in Verbindung gesetzt werden. Die sind definitiv KEINE revolutionären, intellektuellen, anti‐​kapitalistischen Subjekte! Ob es sich nun um eine neue professionelle Managerklasse oder einfach nur um eine neue Arbeiterarisokratie (»der bestbezahlte Teil der Arbeiterklasse«, Marx) handelt, ist nicht so wesentlich (wobei ersteres Konzept entbehrlich scheint). Wichtig ist, dass sich ihre Lebensinteressen fundamental von denen der Arbeiterklasse (d.h. der breiten Masse der Arbeiter und Angestellten) unterscheiden und aufgrund ihrer privilegierten Position auch nicht im Traum daran denken, den Kapitalismus, der vielen von ihnen Wohlstand beschert, in Frage zu stellen. Wobei selbstverständlich auch viele Bobos irgend wann aus ihren gemütlichen Nestern rausfallen können (z.B. im fortgeschrittenen Alter arbeitslos werden).

    Natürlich erfüllt diese neue Arbeiteraristokratie wichtige ideologische bzw. propagandistische Aufgaben im Interesse des Kapitals. Dass sie aber der herrschenden Klasse »die Zustimmung der Volksschichten« sichert, weil das Kapital gezwungen ist, radikal klingende Theorien aus den Universitäten und dem professionellen Aktivismus zu übernehmen, »um die am stärksten Unterdrückten und Ausgegrenzten zu beschwichtigen«, ist an Realitätsferne kaum zu überbieten. Klima‐​Wahn etc. gibt es nicht um die Arbeiterklasse zu beschwichtigen, sondern um für das Kapital neue Profitmöglichkeiten mit ansonsten weitgehend unbrauchbaren und daher unverkäuflichen Schrottprodukten (Windräder, Solarpanele, E‑Autos) zu eröffnen. Und das zulasten der breiten Massen, die die Kosten für den Schwachsinn aufbringen und ihre Lebensqualität einschränken müssen, und vielleicht sogar ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn die Industrie zusperrt. Daher wird man davon ausgehen können, dass Klima‐​Voodoo die Arbeiterklasse nicht »beschwichtigt«, sondern ganz im Gegenteil, sie gegen das Kapital und ihre woken Propagandisten aufbringt (und z.B. in der BRD die AFD wählt). Aber vielleich wird das Großkapital ja bald die Arbeiterklasse durch Beenden der Klima‐​Idiotie beschwichtigen. Blackrock & Co. ziehen sich ja gerade aus Klima‐​Initiativen zurück.…

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