Über Lenins Verständnis von Kapitalismus, Imperialismus und Sozialismus

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Anlässlich des ukrainisch/​russischen Kriegs seit Anfang 2022 begann bei der Kommunistischen Organisation bzw. der Kommunistischen Organisation eine, wie ich fand, inhaltlich ergiebige Debatte über den Imperialismus. In der Debatte spielte – und spielt – Lenin eine wichtige Rolle. Das motivierte mich nachzuforschen, was Lenin aufgrund welchen Kapitalismusverständnisses zum Imperialismus zu sagen hatte und was für ein Sozialismusverständnis dabei herauskam.

Da Lenin ziemlich viel zu sagen hatte, musste ich als Leitfaden eine Textauswahl treffen. Eine Kritik Lenins von 1914/​15 an Rosa Luxemburgs Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus half:

»Sie hat Marx entstellt. Ich bin sehr froh darüber, dass Pannekoek und Eckstein und O. Bauer alle übereinstimmend sie verurteilen und gegen sie äußerten, was ich 1899 gegen die Narodniki sagte.«1

1899 erschien Lenins Abhandlung »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« (Lenin Werke Band 3, S. 7ff). In der Abhandlung geht es hauptsächlich um die Entstehung eines inneren Marktes in Russland. Hinsichtlich grundlegender Fragen des Kapitalismus und der Narodniki verweist Lenin dort auf seine Schrift von 1897: »Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik« (Lenin Werke Band 2, S. 121ff). Diese Schrift scheint eine gute Ausgangsbasis zum Verständnis des Kapitalismusverständnisses Lenins zu bieten. Auf seinem Kapitalismusverständnis baut Lenins Verständnis des Imperialismus auf, dem er eine eigenständige Broschüre widmete: »Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus (Populärer Abriss)« von 1916.2

Lenins Verständnis des Sozialismus beruht auf seinem Verständnis des Kapitalismus und Imperialismus und hat natürlich viel mit den konkreten Umständen seiner Zeit und seines Wirkens zu tun. Hierzu habe ich gewählt: Staat und Revolution vom September 1917 und »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht« vom April 1918 (Lenin Werke Band 27, S. 225ff).

Kapitalismus

Sismondi und innere Märkte

Lenins »Charakteristik der ökonomischen Romantik« beinhaltet hauptsächlich eine Kritik des Schweizer Ökonomen Jean Charles Léonard de Sismondi (1773 – 1842). Dessen Wirtschafslehre beeinflusste nach Meinung Lenins die Narodniki so sehr, dass er sie »Sismondisten« nennt.3 Lenin schreibt über Sismondi:

»Sismondi behauptete […], die Entwicklung des Großunternehmertums und der Lohnarbeit in Industrie und Landwirtschaft führe dazu, dass die Produktion notwendigerweise die Konsumtion überholt und vor die unlösbare Aufgabe gestellt wird, Konsumenten ausfindig zu machen; dass sie im Lande selbst keine Konsumenten finden kann, weil sie die Masse der Bevölkerung in Tagelöhner, in einfache Arbeiter verwandelt und eine unbeschäftigte Bevölkerung hervorbringt, während es mit dem Eintritt neuer kapitalistischer Länder in die internationale Arena immer schwieriger wird, einen äußeren Markt zu finden. Wie der Leser sieht, sind es ganz dieselben Fragen, die die volkstümlerischen Ökonomen […] beschäftigen.«4

Im Kapitalismus dürfen Arbeiterinnen nur lohnarbeiten, wenn sie mehr produzieren, als sie selbst von ihren Löhnen kaufen können. Zum Ausgleich dieser »Unterkonsumtion«5 benötigen laut Sismondi kapitalistische Systeme Exportüberschüsse. Da die Arbeitsproduktivität wachse, dadurch die Erwerbslosigkeit zunehme und entsprechend die Unterkonsumtion, brauche der Kapitalismus wachsende Exportüberschüsse.

Sismondi prophezeite:

»Aber endlich kommt die Zeit, da die ganze zivilisierte Welt nur einen einzigen Markt bildet und da man nicht mehr bei einer neuen Nation neue Käufer finden kann. Die Nachfrage auf dem Weltmarkt wird dann eine ganz bestimmte (präzise) Größe, die sich die verschiedenen Industrienationen gegenseitig streitig machen. Liefert eine Nation mehr Produkte, so geschieht dies zum Schaden einer anderen.«6

Heute gehören Sismondis Ideen über den äußeren Markt zu den tief verwurzelten Annahmen des Alltagsverständnisses. Die »internationale Konkurrenzfähigkeit« dient als Standardargument gegen so ziemlich alle Forderungen Lohnabhängiger nach höheren Löhnen und sozialen Verbesserungen. National orientierte klassenübergreifende Tendenzen wie MAGA (»Make America Great Again«) sind vom Gedanken getragen: Was China liefert, geschieht zum Schaden der »eigenen« Nation, einschließlich ihres Proletariats.

Etwas, das Sismondi prophezeite, trat nicht ein: eine Verarmung größerer Teile der Bevölkerung in den Industriestaaten. Die »Marxsche Theorie«, bemerkt Lenin dazu,

»anerkennt, dass sich, je rascher der Reichtum wächst, die Produktivkräfte der Arbeit und ihre Vergesellschaftung desto vollständiger entwickeln, die Lage des Arbeiters desto mehr verbessert, soweit sie sich in dem gegebenen System der Volkswirtschaft überhaupt verbessern kann.«7

Lenins Kritik an Sismondis Ideen basiert auf den Ansichten der damals im russisch‐​sprachigen Marxismus tonangebenden Strömung des »›legalen‹ Marxismus«.8 Zwei von deren Vertretern, Sergej Bulgakow und Michail Tugan‐​Baranowski, meinten mit Lenins Worten:

»Die Produktion schafft sich tatsächlich selber einen Markt: zur Produktion bedarf es der Produktionsmittel, und diese bilden eine besondere Sphäre der gesellschaftlichen Produktion, die einen bestimmten Teil der Arbeiter beschäftigt und ein bestimmtes Produkt liefert, das teilweise innerhalb dieser Sphäre selbst, teilweise im Austausch mit der anderen Sphäre – der Produktion von Konsumtionsmitteln – realisiert wird. Die Akkumulation bedeutet tatsächlich ein Überwiegen der Produktion über das Einkommen (über die Konsumtionsmittel).«9

Anstatt eine Verengung des inneren Marktes (des Marktes, den ein kapitalistisches System selber schafft), so Lenin, bringe die Entwicklung des Kapitalismus eine Erweiterung des inneren Marktes mit sich. Der relative Rückgang zahlungsfähiger Nachfrage nach Konsumtionsmitteln werde vom Anstieg der zahlungsfähigen Nachfrage nach Produktionsmitteln mehr als aufgewogen. Dadurch entstehen Arbeitsplätze. Insgesamt wächst der Markt und wird Kapital angehäuft (akkumuliert).

Äußere Märkte

Aus der Wachstumsmöglichkeit des inneren Marktes aus sich selbst heraus folgt Lenins Einschätzung der Bedeutung äußerer Märkte: zum Wert‐​entsprechenden Abverkauf aller produzierten Waren, zur »Realisation des Produkts«, sind sie im Prinzip nicht nötig. Auf Basis des inneren Marktes sind Kapitalakkumulation und Wohlstandssteigerung des Proletariats möglich.

»[D]ie Frage des äußeren Marktes [hat] absolut nichts mit der Frage der Realisation gemein, und der Versuch, diese beiden Fragen zu einem Ganzen zu verbinden, kennzeichnet lediglich den romantischen Wunsch, den Kapitalismus ›aufhalten‹ zu wollen, sowie die romantische Unfähigkeit, logisch zu denken.«10

Doch trotz der Erweiterung des inneren Marktes bekommt der Kapitalismus laut Lenin mit fortschreitender Entwicklung zunehmend Probleme. Insbesondere verschärfe sich die Problematik der »Realisation des Produkts«. Daher nehme die »Konkurrenz« zu, die wiederum

»jeden Unternehmer zwingt, nach schrankenloser Ausdehnung der Produktion zu streben, indem er die Grenzen des betreffenden Staates überschreitet und sich auf der Suche nach neuen Märkten Ländern zuwendet, die noch nicht in die kapitalistische Warenzirkulation einbezogen sind.«11

Einerseits erzwingt die Problematik der »Realisation des Produkts« eine Ausdehnung auf äußere Märkte; andererseits hat sie nichts mit äußeren Märkten zu tun?

Dazu erklärt Lenin: Im einen Fall ist die Frage gemeint, wie »Realisation« im Kapitalismus grundsätzlich möglich ist. Im anderen Fall ist ein durch Konkurrenzdruck geschaffener Zwang gemeint, möglichst viel zu produzieren und dementsprechend auch zu »realisieren«.

Um dem Kern der Realisationsfrage bezogen auf ein kapitalistisches Gesamtsystem auf die Spur zu kommen, ist es laut Lenin zweckmäßig, den Umstand zu ignorieren, dass das System aus geologischen oder klimatischen Gründen den Außenhandel brauchen könnte, damit es an bestimmte Waren herankommt. Setzt man einen diesbezüglich gut versorgten Kapitalismus voraus, werden lediglich Nebenbedingungen entfernt, die für den Kapitalismus als Wirtschaftsweise nicht wesentlich sind.

»Den Außenhandel, die Ausfuhr in die Frage der Realisation hineinziehen – heißt, der Frage aus dem Wege gehen, sie lediglich auf ein breiteres Feld verlegen, ohne sie aber im geringsten zu klären.«12

Kapitalakkumulation

Im weiteren Verlauf der »Charakteristik der ökonomischen Romantik« versucht Lenin, die »Realisation des Produkts« im wachsenden Kapitalismus zu erklären, ohne auf Geldangelegenheiten einzugehen.

»Wenn wir von der Realisation des gesellschaftlichen Produkts sprechen, so lassen wir damit bereits die Geldzirkulation beiseite und unterstellen bloßen Austausch von Produkten gegen Produkte, denn die Frage der Realisation besteht eben darin, den Ersatz aller Teile des gesellschaftlichen Produkts nach dem Wert und nach der stofflichen Form zu analysieren.«13

Zur Klärung der Frage beschreibt Lenin in eigenen Worten recht genau die »Schemata der erweiterten Reproduktion« im zweiten Band des Kapitals von Karl Marx.14 Darin teilte Marx die Wirtschaft in zwei Abteilungen ein: Abteilung I produziert Produktionsmittel und Abteilung II Konsumtionsmittel. Dann rechnete Marx vor, in welchen Wert‐​Proportionen die Abteilungen I und II ihre jeweiligen Waren produzieren und austauschen müssen, damit Kapital in Sachform akkumuliert werden kann, d.h. Produktionsmittel (konstantes Kapital) und ausgebeutete Arbeitskraft bzw. die zu ihrer »Produktion« nötigen Dinge (variables Kapital) von wachsendem Wert entstehen. Das konstante Kapital kann dabei durchaus stärker wachsen als das variable, ohne dass es dadurch zu wertmäßigen Überschüssen oder Defiziten in den Abteilungen I und II kommen muss.15

Da es in Marxens Schemata um Sachformen geht, lassen sie sich auf nichtkapitalistische Wirtschaftsweisen anwenden. Auch die einfache Warenwirtschaft und der Sozialismus (»Wert« als »Arbeitszeit« verstanden) können relativ zur lebendigen Arbeit Produktionsmittel anhäufen, ohne dass es zu Unausgewogenheiten kommen muss.

Lenin schließt seine Beschreibung der Schemata bezogen auf den »Mehrwert im besonderen« mit den Worten:

»Diese Analyse erklärt auch seine Realisation. Es gibt absolut keinen vernünftigen Grund dafür, den Mehrwert hinsichtlich seiner Realisation aus dem Gesamtprodukt auszuscheiden.«16

Der Ausschluss der Geldzirkulation führt Lenin dazu, in der Realisation des Mehrwerts keine eigenständige Schwierigkeit zu sehen, die nicht durch eine Erklärung, wie der »Ersatz aller Teile des gesellschaftlichen Produkts« in ihrer Sachgestalt möglich ist, mitabgedeckt wäre.

»[S]pricht man von den ›Schwierigkeiten‹ der Realisation, von den hieraus entstehenden Krisen u. dgl., dann muss man auch feststellen, dass diese ›Schwierigkeiten‹ hinsichtlich aller Teile des kapitalistischen Produkts und keineswegs hinsichtlich des Mehrwerts allein nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich sind. Schwierigkeiten dieser Art, die von der Disproportionalität der Verteilung der verschiedenen Produktionszweige abhängen, entstehen ständig nicht nur bei der Realisation des Mehrwerts, sondern auch bei der Realisation des variablen und konstanten Kapitals; nicht nur bei der Realisation des aus Konsumtionsmitteln, sondern auch des aus Produktionsmitteln bestehenden Teils des Produkts. Ohne diese Art von ›Schwierigkeiten‹ und Krisen kann die kapitalistische Produktion, die Produktion isolierter Produzenten für den ihnen unbekannten Weltmarkt, überhaupt nicht existieren.«17

Marx meinte zum Versuch einer geldlosen Erklärung der Kapitalakkumulation in einer Kritik an einen seiner Ökonomie‐​Vorfahren, David Ricardo:

»Er [Ricardo] verwandelt die bürgerliche Produktion in bloße Produktion für den Gebrauchswert […] Daher wird auch bei dem Produktionsprozess des Kapitals der Zirkulationsprozess, soweit er die Metamorphose der Waren, die Notwendigkeit der Verwandlung des Kapitals in Geld einschließt, bei ihm gar nicht berücksichtigt.«18

»[D]urch die Verwandlung der Ware in bloßen Gebrauchswert (Produkt) […] kann […] das Geld als eine wesentliche und im Prozess der Metamorphose gegen die ursprüngliche Form der Ware selbständige Gestalt derselben geleugnet werden oder muss vielmehr geleugnet werden. Hier werden also die Krisen dadurch wegräsoniert, dass die ersten Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion, das Dasein des Produkts als Ware, die Verdopplung der Ware in Ware und Geld, die daraus hervorgehenden Momente der Trennung im Warenaustausch, endlich die Beziehung zwischen Geld oder Ware zur Lohnarbeit vergessen oder geleugnet werden.«19

Im Akkumulationsprozess, wie ihn Lenin sieht, gibt es keine »Metamorphose der Waren«. Die Waren wechseln wie beim Tauschhandel lediglich ihre Eigentümerinnen. Geld fungiert dabei als Tauschmittel und hat ansonsten keine eigenständige Bedeutung. Da der Mehrwert sich auf diese Weise »realisieren« lässt, ohne dass ein Unterkonsumtionsproblem à la Sismondi zuschlägt, kommt Lenin zu dem Schluss:

Nicht, »weil das Produkt in der kapitalistischen Ordnung überhaupt nicht realisiert werden kann« ist der »äußere Markt für ein kapitalistisches Land notwendig«, sondern: »Der äußere Markt ist notwendig, weil der kapitalistischen Produktion das Streben nach schrankenloser Ausdehnung eigen ist«.20

Wie verträgt sich die Notwendigkeit eines äußeren Marktes mit Lenins Argument gegen Sismondi, dass mit der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion der innere Markt wächst?

Aus der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion für sich gesehen ergibt sich danach gerade keine Notwendigkeit eines äußeren Marktes (abgesehen vom ablenkenden Aspekt des Bedarfs an Waren, die inländisch aus geologischen oder klimatischen Gründen nicht produzierbar sind).

Laut Lenin entsteht der Bedarf nach äußeren Märkten aus folgendem Umstand:

»Die verschiedenen Industriezweige, die einander als ›Markt‹ dienen, entwickeln sich nicht gleichmäßig, sondern überflügeln einander, und die entwickeltere Industrie sucht sich einen äußeren Markt. Dies bedeutet keineswegs, dass ›es einer kapitalistischen Nation unmöglich ist, den Mehrwert zu realisieren‹, wie der Volkstümler [Narodniki] tiefgründig daraus schließen möchte. Es zeigt nur die Disproportionalität in der Entwicklung der einzelnen Produktionszweige. Bei einer anderen Verteilung des nationalen Kapitals könnte die gleiche Produktenmenge im Lande selbst realisiert werden.«21

Was, wenn die Suche nach äußeren Märkten nicht erfolgreich verläuft, wenn es an Weltmarktnachfrage fehlt? Kommt es dann eben zu »einer anderen Verteilung des nationalen Kapitals«?

Ein ähnlicher Gedanke, mit dem Lenin den Bedarf nach äußeren Märkten erklärt, bezieht sich auf den »Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion (die durch den Kapitalismus vergesellschaftet worden ist) und der privaten, individuellen Aneignungsweise«. Im Zusammenhang damit komme es zu wachsenden »Schwankungen« bei der »Realisation des Produkts«. Alle Produkte werden

»in gleicher Weise nur unter ›Schwierigkeiten‹, unter ständigen Schwankungen realisiert, die mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus immer stärker werden, in einer wütenden Konkurrenz, die jeden Unternehmer zwingt, nach schrankenloser Ausdehnung der Produktion zu streben, indem er die Grenzen des betreffenden Staates überschreitet und sich auf der Suche nach neuen Märkten Ländern zuwendet«.22

Wieso nehmen bei wachsendem inneren Markt die »›Schwierigkeiten‹« der »Realisation« und die allgemeine Konkurrenz zu und bleiben nicht relativ zum Produktionsumfang etwa gleich? Was bedeuten die Worte »Zwang« und »Notwendigkeit«, wenn »bei einer anderen Verteilung des nationalen Kapitals … die gleiche Produktenmenge im Lande selbst realisiert werden« könnte? Kann es notwendig bzw. zwingend nicht zu einer »anderen Verteilung des Kapitals« kommen?

Ob äußere Märkte notwendig sind oder nicht: Laut Marx – und Lenin (und mir) – muss sich im Kapitalismus hinsichtlich des Werts die Produktion ausdehnen, damit der Kapitalismus funktionieren kann.

Lenin sieht in der Ausdehnung der Produktion für sich schon einen Unterschied zu allen dem Kapitalismus vorangegangenen Wirtschaftssystemen.

»Während in allen alten Wirtschaftsordnungen die Produktion jeweils in der gleichen Form und in dem gleichen Ausmaß wie vorher fortgesetzt wurde, wird in der kapitalistischen Gesellschaft diese Fortführung in gleicher Form unmöglich, und die schrankenlose Ausdehnung und dauernde Vorwärtsbewegung wird zum Gesetz der Produktion.«23

»Gesetz der vorkapitalistischen Produktionsweisen ist die Wiederholung des Produktionsprozesses im früheren Umfange, auf früherer Grundlage: dies galt für die Fronwirtschaft der Gutsherren, für die Naturalwirtschaft der Bauern, für die Produktion des Handwerks. Gesetz der kapitalistischen Produktion dagegen ist die ständige Umgestaltung der Produktionsverfahren und die schrankenlose Erweiterung der Produktion.«24

Dem widmet Luxemburg in ihrer »Akkumulation« eine sarkastische Anmerkung:

»Iljin [Lenins Pseudonym] hat nicht bemerkt, dass wir mit der einfachen Reproduktion, die er als Gesetz für alle vorkapitalistischen Produktionsweisen annimmt, wahrscheinlich heute noch über den paläolithischen Schaber nicht hinaus wären.«25

Wenn allein der Kapitalismus wächst, kann eine kapitalismus‐​unspezifische Erklärung seiner Wachstumsmöglichkeit durch Aufzeigen der Möglichkeit des Tauschs geeigneter Produkte, wie sie Lenin anhand der Schemata von Marx bietet, zur Erklärung der Kapitalakkumulation als ausreichend gelten. Schwierigkeiten, die Akkumulation von Kapital zu erklären, wie sie Sismondi hat, erscheinen auf dieser Verständnisebene als »höchst kurios«, als »Unfähigkeit zu einer konsequenten Analyse« usw.26

Lenin, Ricardo, die »›legalen‹ Marxisten«, Otto Bauer und viele viele Linke und Kommunistinnen und Rechte und Mittlere heute glauben, dass es zur Kapitalakkumulation genügt, wenn Einzelkapitale einander den Mehrwert durch Produktionsmittelkäufe oder indirekt durch Lohnzahlungen oder Steuern und dadurch ermöglichte Konsumtionsmittelkäufe gegenseitig realisieren. Eine konkrete Ausgestaltung hat dieser Annahme zum Beispiel Friedrich August Hayek mit seinen Produktionsstufen gegeben.

Aus ihr folgt: Die zahlungsfähige Nachfrage äußerer Märkte kann das kapitalistische Wachstum fördern, bildet aber keine wesentliche Bedingung für das Funktionieren kapitalistischer Systeme – von Notwendigkeiten eines im Prinzip fair verlaufen könnenden Außenhandels zum Ausgleich geologischer oder klimatischer Defizite oder auch Notwendigkeiten des Zuwachses der lohnabhängigen Bevölkerung durch Einwanderung abgesehen.

Hieraus folgt die ökonomische Möglichkeit eines nach Außen hin friedfertigen Kapitalismus. Oder anders herum: Imperialismus von Nationen mit kapitalistischen Wirtschaftssystemen ist auf Gründe zurückzuführen, deren Beseitigung oder Regulation den Kapitalismus nicht funktionsunfähig machen würde. Grundsätzliche Kritik des imperialistischen Charakters des Kapitalismus und daraus abgeleitete Argumentation für den Sozialismus sind entsprechend darauf verwiesen zu behaupten, die Beseitigung oder Regulation imperialistischer Aktivitäten und Tendenzen sei auf politischer Ebene unmöglich, etwa weil sich aufgrund der großen Macht von Kapitalistinnen der Konkurrenzzwang nicht in völkerrechtlich und gesetzlich geordnete Formen bringen lässt.

Krisenursachen

Im Marx‐​Zitat oben heißt es, durch Absehen von der Geldfrage bezüglich der Kapitalakkumulation würden Krisen wegräsoniert. Aber Lenin räsoniert Krisen nicht weg.

Damit der Kapitalismus Krisen hervorbringen kann, muss es hin und wieder unmöglich sein, genügend Mehrwert (wenn nicht gar »das Produkt« im Ganzen) zu realisieren. Diese Unmöglichkeit entsteht laut Lenin aus der »Disproportionalität in der Entwicklung der einzelnen Produktionszweige« im Zusammenhang mit dem »Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion […] und der privaten, individuellen Aneignungsweise«.

In seinen Bemerkungen von 1902 zum ersten Programmentwurf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands fasst Lenin diesen Gedanken knapp zusammen:

»Ist es notwendig, im Programm die Ursachen der Krisen aufzuzeigen? Wenn ja, so ist der Mangel [des Entwurfs von Plechanow] der, dass zwei Ursachen genannt werden: 1. die Zunahme der sozialen Ungleichheit […] + 2. die wachsende Rivalität. Nicht genannt ist die Hauptursache der Krisen = die Planlosigkeit, die private Aneignung bei gesellschaftlicher Produktion.«27

Auch zum Beispiel 1914/​15 erklärt Lenin Krisen vor allem aus Disproportionalitäten:

»Die Landwirtschaft bleibt in ihrer Entwicklung hinter der Industrie zurück – eine Erscheinung, die allen kapitalistischen Ländern eigen ist und die eine der tiefsten Ursachen dafür ist, dass die Proportionalität zwischen den einzelnen Zweigen der Volkswirtschaft gestört wird, dass Krisen und Teuerung auftreten.«28

Die Disproportionalitätserklärung steht nicht in jeder Leninschen Krisenerklärung im Mittelpunkt. In seinem »Entwurf des Programms der SDAPR« von 1902 und im »Entwurf des Programms der KPR(B)« von 191929 beispielsweise erklärt Lenin Krisen »sismondistisch« mit Warenabsatzproblemen und Überproduktion. Diese leitet er aus einem Mangel an zahlungsfähiger Nachfrage der Lohnabhängigen ab, der durch Produktivkrafterhöhungen und damit einhergehender Erwerbslosigkeit entstehe.

Zu Disproportionalitäten in kapitalistischen Produktionen bemerkt Marx:

»Es soll nicht geleugnet werden, dass in einzelnen Sphären überproduziert und darum in andren zu wenig produziert [werden] kann; partielle Krisen also aus disproportionate production (die proportionate production ist aber immer nur das Resultat der disproportionate production auf Grundlage der Konkurrenz) entspringen können und eine allgemeine Form dieser disproportionate production mag Überproduktion von fixem oder andrerseits Überproduktion von zirkulierendem Kapital sein. […] Diese Art Krise gibt aber Ric[ardo] etc. zu.«30

»Überproduktion« auf ein kapitalistisches Gesamtsystem bezogen bedeutet zunächst: Es wird mehr produziert als sich Wert‐​entsprechend verkaufen lässt. Soweit scheint »Überproduktion« die Kehrseite von Sismondis »Unterkonsumtion« zu sein. Die folgenden Zitate können den Eindruck erwecken, Marx wäre mit Sismondi einig:

»Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft [d.h. die Verbrauchsmöglichkeiten in der Produktion und der individuellen Konsumtion] ihre Grenze bilde.«31

»Die Überproduktion geht grade daraus hervor, dass die […] Konsumtion [der Masse des Volks …] nicht entsprechend wächst mit der Produktivität der Arbeit.«32

Ricardo übersieht, »dass die kapitalistische Produktion […] von einer beständigen Erweiterung des Weltmarkts abhängt. […]. Die demand [zahlungsfähige Nachfrage] der Arbeiter genügt nicht, da der Profit ja grade dadurch herkommt, dass die demand der Arbeiter kleiner als der Wert ihres Produkts, und um so größer ist, je relativ kleiner diese demand. Die demand der capitalists untereinander genügt ebensowenig.«33

Bei einer Realisierung, d.h. Wert‐​entsprechender in‐​Geld‐​Umwandlung, sämtlichen Mehrwerts lediglich durch die Einzelkapitale – direkt durch Produktionsmittelkäufe oder indirekt durch Lohnzahlungen für Konsumtionsmittelkäufe oder auch durch Steuern, die Kapitalistinnen und Lohnabhängige zahlen – bliebe auf das Gesamtkapital bezogen keine Arbeit unbezahlt. Einzelkapitale könnten zwar Profit machen, der ihnen Kapitalakkumulation ermöglicht, doch letztlich würde aller Mehrwert von den Kapitalistinnen realisiert und entsprechend würde das Gesamtkapital keinen Profit zur Kapitalakkumulation machen. Eine Möglichkeit, so einen Umstand eine Weile zu verdecken, besteht in der Erzeugung von »Geld aus dem Nichts« bzw. von »Kreditgeld«, wie Marx es nennt.34 Das kapitalistische Funktionsprinzip »Geld – Ware – mehr Geld« kann auf Kreditbasis funktionieren und durch Kredite sogar neue Wertproduktionen ermöglichen, die »Geld aus dem Nichts« nachträglich mit Wert unterfüttern. Dies hat aber Grenzen, wie an der aktuellen Inflation spürbar wird.

Die Vertreter des »›legalen‹ Marxismus« und mit ihnen Lenin und fast der ganze Rest der ökonomischen Fachwelt erklären, dass die »Konsumtionsbeschränkung der Massen« durch Produktionsmittelkäufe der Kapitalistinnen mindestens aufgewogen wird. Die Frage nach der Entstehung kapitalistischer Krisen lautet von daher: Unter welchen Umständen kaufen Kapitalistinnen nicht genügend Produktionsmittel, so dass die »Konsumtionsbeschränkung der Massen« nicht mindestens aufgewogen wird?

Hierauf antwortet Marx nicht wie Sismondi: unter den im Kapitalismus üblichen Umständen, dass Arbeiterinnen nur lohnarbeiten dürfen, wenn sie mehr produzieren, als sie selbst von ihren Löhnen kaufen können. Marx nennt diese Erklärung eine »Tautologie« und bereitet bei der Gelegenheit denen eine Freude, die für Austeritätspolitiken eintreten:35

»Will man aber dieser Tautologie [dass die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion … hervorgehn] einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, dass man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, dass die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müsste – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und ›einfachen‹ (!) Menschenverstand – umgekehrt die Krise entfernen.«36

Marx antwortet auf die Frage nach dem Nichtausgleich der »Konsumtionsbeschränkung der Massen« durch Produktionsmittelkäufe: Kapitalistinnen kaufen dann nicht genügend Produktionsmittel, wenn es zur »Überproduktion von Kapital« kommt. Diese bilde bei aller Vielfalt der möglichen Krisenauslöser das »Grundphänomen der Krisen«.37

»Überproduktion von Kapital, nicht von einzelnen Waren – obgleich die Überproduktion von Kapital stets Überproduktion von Waren einschließt –, heißt […] Überakkumulation von Kapital. Um zu verstehn, was diese Überakkumulation ist […], hat man sie nur absolut zu setzen. Wann wäre die Überproduktion des Kapitals absolut? Und zwar eine Überproduktion, die sich nicht auf dieses oder jenes oder auf ein paar bedeutende Gebiete der Produktion erstreckt, sondern in ihrem Umfang selbst absolut wäre, also sämtliche Produktionsgebiete einschlösse?«
Antwort: »Sobald […] das gewachsene Kapital nur ebensoviel oder selbst weniger Mehrwertsmasse produziert als vor seinem Wachstum, so fände eine absolute Überproduktion von Kapital statt.«38

Wie diese »absolute Überproduktion« genauer aussieht, steht im »Instant‐​Marx« in der MagMa.

»Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?«, fragen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest und antworten:

»Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.«39

Bei einer »Vernichtung … von Produktivkräften«, d.h. Entlassung von Arbeitskraft und Stilllegung von Produktionsmitteln, sinkt die Wertmasse der Gesamtproduktion. Damit die Wertmasse nach einer Krise wieder steigen und Kapital akkumuliert werden kann, sind neue Märkte bzw. gründlicher ausgebeutete alte Märkte entscheidend, denn:

»Die demand der Arbeiter genügt nicht […]. Die demand der capitalists untereinander genügt ebensowenig.«40

Imperialismus

Unterschiedliche Imperialismusbegriffe

Sollte zur Kapitalakkumulation die »demand der Arbeiter« und der »capitalists untereinander« nicht genügen, wäre einem kapitalistischen System ein spezifisch kapitalistischer Imperialismus, verstanden als »Ausbeutung außersystemisch geleisteter Wert‐​produzierender Arbeit zur Ermöglichung von Kapitalakkumulation«, von Beginn an in die Wiege gelegt. Erfolgreicher Imperialismus wäre eine notwendige Bedingung des kapitalistischen Normalbetriebs.

Je nach dem Zustand eines kapitalistischen Systems, seiner nichtkapitalistischen und/​oder kapitalistischen Umwelt und den konkreten politischen Umständen würde der Imperialismus, verstanden als »Ausbeutung außersystemisch geleisteter Wert‐​produzierender Arbeit zur Ermöglichung von Kapitalakkumulation«, verschiedene Formen annehmen, etwa:

  • hohe Steuern für Familien‐​Landwirtschaften (die für die Kapitalakkumulation ein »Außen« darstellen, auch wenn sie innerhalb derselben Nation wirtschaften)
  • Sklavenhandel
  • militärische Erzwingung von Opium‐Importen
  • Annektion des Staatswesens nebenan
  • überseeische Handelsniederlassungen mit militärischer Durchsetzung günstiger Geschäftsbedingungen
  • Landenteignungen und Zwangsarbeit in Kolonien
  • Krieg gegen hochindustrialisierte Nachbarstaaten
  • »Entwicklungshilfe« genannte Verschuldungspolitik
  • Ermordung antikolonialistischer Regierungsmitglieder
  • Bombardierungen, Farbrevolutionen, Energiewendepolitik .…

Noch am harmlosesten wäre wohl die Variante, die Sismondi vor allem im Auge hatte: der notorische Waren‐​Exportüberschuss, der andere Wirtschaftssysteme durch notorische Waren‐​Importüberschüsse in die Pleite treibt, ihnen aber immerhin zunächst wert‐​volle Güter bringt.

Kapitalistische Systeme, die aus militärischer Schwäche oder aufgrund einer unergiebigen inländischen Familien‐​Landwirtschaft oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten haben, eine Außenwelt auszubeuten, würden bei systemisch eingebauter Imperialismusnotwendigkeit zerfallen oder Lösungen entwickeln, um ihren Bestand zu sichern. Als Lösungen kommen im Prinzip in Frage:

  • das Proletariat stärker ausbeuten als die imperialistisch erfolgreicheren Systeme und/​oder
  • Teile der Wert‐​Produktionen nichtkapitalistisch organisieren.

Ersteres heißt: Unterdrückung von Gewerkschaften, Diktatur. Letzteres heißt: nicht nach dem Prinzip »Geld – Ware – mehr Geld« wirtschaften, sondern einfach‐​warenwirtschaftlich nach dem Prinzip »Ware – Geld – andere Ware« oder kollektivwirtschaftlich oder staatswirtschaftlich nach Gebrauchswertprinzipien. Gebrauchswertprinzipien können alles Mögliche umfassen: möglichst großen Luxus für »Eliten«, möglichst viel Devisen durch Außenhandel, möglichst viele Waffen, möglichst hoher Wohlstand für Arbeiterinnen, möglichst große Unterstützung des kapitalistischen Teils der Wirtschaft …

Rainer Shea beschreibt in »Eine kategorische Entlarvung der Idee, dass China imperialistisch ist«, wie in China das Problem fehlender imperialistischer Erfolgsaussichten bei gleichzeitigem durch die kapitalistische Umwelt gegebenem Zwang zu kapitalistischen Wirtschaftsweisen behandelt wurde. Hector Maravillo von der Kommunistischen Jugendfront Mexikos FJC beschreibt den staatswirtschaftlichen Entwicklungsweg am Beispiel Mexikos. Seine Beschreibung macht verständlich, wie sich bei dieser Gelegenheit eine Oligarchie herausbilden kann, die den staatswirtschaftlichen Sektor in Privateigentum überführt, sobald sie sich davon ein Wirtschaften nach dem Prinzip »Geld – Ware – mehr Geld« mit ausreichender Profitabilität zur Kapitalakkumulation verspricht (was dann nicht unbedingt so eintreten muss). Spectrum of Communism beschreibt in der MagMa unterschiedliche Lösungswege zum Problem der Notwendigkeit außersystemischer Ausbeutung bei kapitalistischer Produktionsweise als »Akkumulationsregime«, wobei Kapitalakkumulation und Produktionsmittelanhäufung zu unterscheiden wäre und »binnennachfragegeleitete Akkumulation« nicht dasselbe wäre wie »binnennachfragebasierte Akkumulation«. Im entwickelten Kapitalismus wäre bei systemischer Notwendigkeit außersystemischer Ausbeutung zur Kapitalakkumulation ohne traditionelle oder neu geschaffene nichtkapitalistische Produktionen eine »binnennachfragebasierte« Kapitalakkumulation unmöglich, wohl aber eine »binnennachfragegeleitete«, die kreditbedingte Geldwertverluste durch imperialistisch beschaffte Wertzufuhren ausgleicht.

Sollte zur Kapitalakkumulation der vollständige Austausch der Waren unter den Einzelkapitalen, einschließlich der Lohn/​Konsumtionsmittelverkauf‐ und Steuer‐​Schleife, genügen, d.h. sollte zur Kapitalakkumulation ein wachsender system‐​innerer Markt ausreichen, wird ein Verständnis des Imperialismus als systemische Notwendigkeit schwierig bis unmöglich.

Eine Ausbeutung außersystemischer Wertproduktionen läge zwar im Interesse der Kapitale und könnte die Kapitalakkumulation beschleunigen, aber sie wäre keine Bedingung zum Systemerhalt. Ökonomisch gesehen ließe sich der Imperialismus in diesem Fall eingrenzen, ohne den Kapitalismus als Hauptwirtschaftsweise in Frage zu stellen, ähnlich wie es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Systemen mit Kinderarbeit oder allzu großer Umweltverschmutzung oder allzu auffällig schädlichen Arzneimitteln möglich war.

Lenin erklärt den Imperialismus nicht im Sinn von »Ausbeutung außersystemisch geleisteter Wert‐​produzierender Arbeit zur Ermöglichung von Kapitalakkumulation«, sondern im – zu seiner Zeit allgemein vorherrschenden – Sinn einer Entwicklungsepoche des Kapitalismus.41

Die Epoche des Imperialismus setzte laut Lenin ein, nachdem Nationalstaaten mit fortgeschrittenen kapitalistischen Systemen den Kolonialismus bereits so weit ausgedehnt hatten, dass sie sich um die Kolonialgebiete zu streiten begannen. Der klassische europäische Kolonialismus ist für Lenin keine Variante des Imperialismus, sondern begann in einer vor‐​imperialistischen Epoche.

Zur vor‐​imperialistischen Epoche schreibt Lenin 1915:

»Es gab eine Epoche des verhältnismäßig ›friedlichen‹ Kapitalismus, als er in den fortgeschrittenen Ländern Europas den Feudalismus vollständig besiegt hatte und sich – relativ – ruhig und gleichmäßig entwickeln konnte, indem er sich »friedlich« über riesige Gebiete noch unbesetzter und in den kapitalistischen Strudel noch nicht endgültig hineingerissener Länder ausbreitete. Auch in dieser Epoche, die ungefähr in die Jahre 1871 – 1914 fällt, schuf der ›friedliche‹ Kapitalismus natürlich Lebensbedingungen, die von einem wirklichen ›Frieden‹, sowohl im militärischen Sinne als auch im allgemeinen Klassensinn, recht weit entfernt waren. […]. Diese Epoche ist nun unwiderruflich vorüber […] Der ›friedliche‹ Kapitalismus ist abgelöst durch den nichtfriedlichen, kriegslüsternen, katastrophenreichen Imperialismus.«42

Falls die Merkmale nichtfriedlich, kriegslüstern und katastrophenreich zur Unterscheidung des Imperialismus von der vorangegangenen Epoche des Kapitalismus nützen sollen, müsste die vorangegangene Epoche des Kapitalismus friedlich, kriegsabgeneigt und katastrophenarm gewesen sein. Aber was könnte eine Gegenüberstellung von nichtfriedlich und »friedlich« in Anführungszeichen bedeuten?

In »Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus« nennt Lenin zur Unterscheidung der imperialistischen von der vor‐​imperialistischen Epoche folgende Merkmale:

»Definition des Imperialismus […]:

1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen;

2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ›Finanzkapitals‹;

3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung;

4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und

5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.

Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.«43

Um von dieser Definition ausgehend zu einer Erklärung des Imperialismus im Sinn von »Ausbeutung außersystemisch geleisteter Wert‐​produzierender Arbeit zur Ermöglichung von Kapitalakkumulation« zu kommen, falls das gewünscht wird, wären mindestens zwei Dinge zu tun:

(a) nachweisen, dass die in der Definition beschriebene monopolistisch‐​finanzkapitalistische Organisationsform des Kapitalismus im Kapitalismus unvermeidlich entsteht

(b) nachweisen, dass diese Organisationsform auf Ausbeutung außersystemischer Wertproduktionen angewiesen ist, um sich zu erhalten.

Punkt (a) wird zu einem guten Teil in T. Mohrs Aufsatz »Imperialismus heute ist Verschwörungspraxis« erledigt. Ein dort auftauchendes zentrales Marx‐​Zitat lautet stark gekürzt:

Das Aktienkapital »ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst« und verwandelt die »Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. […] Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. […] Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs […]

Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. […] Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapitalistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige; und der Kredit gibt diesen wenigen immer mehr den Charakter reiner Glücksritter. Da das Eigentum hier in der Form der Aktie existiert, wird seine Bewegung und Übertragung reines Resultat des Börsenspiels, wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden. In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken […]

Die dem Kreditsystem immanenten doppelseitigen Charaktere [bestehen in Folgendem]: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel‐ und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden«.44

Lenin geht es vor allem darum, mit Hilfe der Organisationsform des »Kapitalismus im Stadium des Imperialismus« die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung zu setzen.45

Durch die definitionsmäßige Bindung des Imperialismusbegriffs an eine spezielle Organisationsform des Kapitalismus, die dieser ab einer gewissen Entwicklungsstufe einnimmt, wird – passend zu Lenins Kapitalismusverständnis – bestimmt (nicht erklärt), dass auf der Basis der grundlegenden Mechanismen des Kapitalismus eine nicht‐​imperialistische Kapitalakkumulation möglich war.

Geht man demgegenüber davon aus, dass der Imperialismus – verstanden als Ausbeutung außersystemischer Bereiche – im Wesen des Kapitalismus liegt (egal, wie das erklärt würde), wäre die Bindung des Imperialismusbegriffs an eine spezielle, an die monopolistisch‐​finanzkapitalistische Organisationsform des Kapitalismus, hinsichtlich des Verständnisses des Imperialismus kontraproduktiv und besser gegen eine Verbindung zu ersetzen nach einem Muster wie: Durch die monopolistisch‐​finanzkapitalistische Organisationsformen des Kapitalismus nahm der spezifisch kapitalistische Imperialismus eine neue Qualität an.

Hilferding

Die vielleicht bis heute ausgereifteste Untersuchung zum Zusammenhang zwischen monopolistisch‐​finanzkapitalistischer Organisationsform des Kapitalismus und Imperialismus legte der Sozialdemokrat und spätere Finanzminister der Weimarer Republik, Rudolf Hilferding, vor.

Hilferding, auf den Lenin in »Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus« positiven Bezug als (ab etwa 1917 plötzlich nicht mehr) »Marxisten« nimmt46, kommt in seinem Buch Das Finanzkapital von 1910 zu folgendem, nach zwei Weltkriegen gesehen reichlich optimistischen Schluss, der zugleich aktueller kaum sein könnte:

»Die Kapitalistenklasse ergreift [im Stadium des Imperialismus] unmittelbar, unverhüllt, handgreiflich Besitz von der staatlichen Organisation und macht sie zum Werkzeug ihrer Exploitationsinteressen in einer Weise, die auch dem letzten Proletarier fühlbar wird, der nun erkennen muss, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sein nächstes, persönliches Interesse ist. Die offenkundige Besitznahme des Staates durch die Kapitalistenklasse zwingt unmittelbar jedem Proletarier das Streben nach Eroberung der politischen Macht auf, als dem einzigen Mittel, seiner Exploitation ein Ende zu setzen.«47

Zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat liefert das Finanzkapital laut Hilferding gute Ausgangsbedingungen:

»Das Finanzkapital bedeutet seiner Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Es ist aber Vergesellschaftung in antagonistischer Form; die Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion bleibt in den Händen einer Oligarchie. Der Kampf um die Depossedierung [Enteignung] dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Die vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch […] den vom Proletariat eroberten Staat […] sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten. […] Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten und in der Übergangszeit, solange kapitalistische Verrechnung sich noch als opportun erweist, die Politik des Sozialismus in ihren Anfängen außerordentlich erleichtern.«48

Unter »Finanzkapital« versteht Hilferding »Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen«, wie es im Wesentlichen mit den Aktiengesellschaften entstand.49

»Ich nenne das […] Kapital in Geldform, das […] in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital. Den Eigentümern gegenüber behält es stets Geldform, ist von ihnen in Form von Geldkapital, zinstragendem Kapital, angelegt und kann von ihnen stets in Geldform zurückgezogen werden. In Wirklichkeit aber ist der größte Teil des so bei den Banken angelegten Kapitals in industrielles, produktives Kapital (Produktionsmittel und Arbeitskraft) verwandelt und im Produktionsprozess fixiert.«50

Mit der Entwicklung zum Finanzkapital wuchs laut Hilferding der Drang zum Kapitalexport.

»Kartelle [bedeuten] eine Verlangsamung der Kapitalsanlage. In den kartellierten Industrien, weil die erste Maßregel des Kartells die Einschränkung der Produktion ist [um hohe Preise durchsetzen zu können], in den nichtkartellierten, weil die Senkung der Profitrate [, wodurch die höheren Monopolprofite allererst möglich werden,] zunächst von weiteren Kapitalsanlagen zurückschreckt. So wächst einerseits rapid die Masse des zur Akkumulation bestimmten Kapitals, während sich anderseits seine Anlagemöglichkeit kontrahiert. Dieser Widerspruch verlangt seine Lösung und findet sie im Kapitalexport. Der Kapitalexport selbst ist nicht eine Folge der Kartellierung. Er ist eine Erscheinung, die von der kapitalistischen Entwicklung unzertrennlich ist. Aber die Kartellierung steigert plötzlich den Widerspruch und schafft den akuten Charakter des Kapitalexports.«51

Mit dem Kapitalexport, so Hilferding weiter, wuchs das Interesse an einer Kontrolle der Empfangsländer der Kapitalexporte und an Enteignungen der Produktionsmittel und ‑möglichkeiten der dortigen Bevölkerungen zur Schaffung »freier« Lohnabhängiger.

»Der bloße Handel, soweit er nicht mit Raub und Plünderung verbundener Kolonialhandel war, […] ließ die sozialen und politischen Verhältnisse dieser Länder in ihrer Grundlage lange unberührt und beschränkte sich nur auf die ökonomischen Beziehungen. Solange eine Staatsmacht vorhanden und halbwegs für Ordnung sorgen kann, ist die unmittelbare Beherrschung weniger wichtig. Das ändert sich mit dem Überhandnehmen des Kapitalexports. Es handelt sich dann um viel größere Interessen. Das Risiko ist viel größer, wenn in fremdem Lande Eisenbahnen gebaut, Land erworben, Hafenanlagen angelegt, Bergwerke gegründet und betrieben werden, als wenn bloß Waren gekauft und verkauft werden.

Die Rückständigkeit der Rechtsverhältnisse wird so zu einer Schranke, deren Überwindung auch mit gewaltsamen Mitteln das Finanzkapital immer stürmischer fordert. Dies führt zu immer schärfer werdenden Konflikten zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten und der Staatsgewalt der rückständigen Gebiete, zu immer dringender werdenden Versuchen, diesen Gebieten die dem Kapitalismus entsprechenden Rechtsverhältnisse aufzuzwingen, sei es mit Schonung oder aber mit Vernichtung der bisherigen Gewalten. Zugleich bringt die Konkurrenz um die so neu eröffneten Anlagesphären neue Gegensätze und Konflikte zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten selbst mit sich. In den neu erschlossenen Ländern selbst aber steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewusstsein erwachenden Völker […]. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren.

Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten. Daher der Ruf aller in fremden Ländern interessierten Kapitalisten nach der starken Staatsmacht, deren Autorität ihre Interessen auch in den fernsten Winkeln der Welt beschützt.«52

Hilferding zufolge steht den Interessens­übereinstimmungen von Monopolkapital und nicht‐​monopolisierten Kapitalen eine anti‐​imperialistische Grundausrichtung des Proletariats gegenüber:

»Der Kampf der Lohnarbeit gegen das Kapital ist zunächst ein Kampf um den Anteil an dem von der Arbeiterklasse (einschließlich der produktiven Angestellten und Produktionsleiter) geschaffenen Neuwert [Mehrwert + variables Kapital] des jährlichen Produkts. […] Je größer der Arbeitslohn, desto größer der Teil des Neuwerts, der unmittelbar Nachfrage nach Ware bildet, und zwar nach Konsumtionsmitteln. […]

Umgekehrt ist das Interesse der Unternehmer. Die Erweiterung des inneren Marktes durch Lohnerhöhung bedeutet für sie eine Senkung der Profitrate […]. Ihr Interesse ist es zwar, den Markt zu erweitern, aber nicht auf Kosten der Profitrate; dies wird erreicht, wenn sie bei gleichbleibendem inneren Markt den äußeren Markt ausdehnen. Ein Teil des Neuprodukts wird nicht Einkommen der Arbeiter und vermehrt nicht die Nachfrage nach inländischen Produkten; aber es wird als Kapital angelegt, das zur Produktion für den ausländischen Markt dient. In diesem Falle ist also die Profitrate höher und die Akkumulation rascher. […]

Wir haben gesehen, dass der Kapitalexport die Bedingung der raschen Expansion des Kapitalismus ist. Diese Expansion ist sozial die Lebensbedingung der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, zugleich ökonomisch die Bedingung der Aufrechterhaltung und zeitweisen Steigerung der Profitrate. Diese Expansionspolitik vereinigt sämtliche Schichten der Besitzenden in den Dienst des Finanzkapitals.«53

In seiner Imperialismus‐​Schrift kritisiert Lenin Hilferdings »Finanzkapital« an zwei Punkten: Der »Parasitismus und die Fäulnis des Kapitalismus« 54 bleibe unberücksichtigt und Hilferdings Definition des Finanzkapitals enthalte nicht die Bestimmung der »Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grade, dass die Konzentration zum Monopol führt«.55 Der zweite Punkt ist eher eine Nebelkerze, denn Hilferding ist mit seinem wirtschaftswissenschaftlichen Anspruch daran interessiert, seine Begriffe möglichst scharf zu fassen, und hebt laut Lenin selber die »Rolle der kapitalistischen Monopole« hervor. Der erste Punkt dagegen ist für Lenins Argumentation wesentlich, wie weiter unten noch deutlich wird.

Hobson und Kautsky

Neben oder vielleicht besser: vor Hilferding bezieht sich Lenin in seiner Darstellung der Organisationsform des Kapitalismus im Stadium des Imperialismus positiv auf den britischen liberalen Wirtschafswissenschaftler John Atkinson Hobson. Dieser gibt, findet Lenin, »eine sehr gute und ausführliche Beschreibung der grundlegenden ökonomischen und politischen Besonderheiten des Imperialismus«.56 Hobsons Aussagen widersprechen denen Hilferdings bezüglich der Einschätzung von »Parasitismus« und »Fäulnis« und in der Frage der vom Imperialismus profitierenden Kapitalfraktionen.

In seinem 1902 erschienenen Buch Imperialism, A Study betrachtet Hobson den Imperialismus als Gegensatz zwischen einem kapitalistischen Wirtschaftsystem als Ganzem einerseits und Sonderinteressen »bevorzugter Klassen von Investoren und Händlern«, insbesondere denen von »Börsenspekulanten«, andererseits:

»Angesichts dessen, dass der Imperialismus der letzten drei Jahrzehnte als Geschäftspolitik klar versagt hat, indem er zu enormen Kosten eine kleine, schlechte, unsichere Ausdehnung der Märkte zustande brachte […], dürfen wir fragen: Wie wird die britische Nation veranlasst, bei einem solch schlechtem Geschäft mitzuspielen? Die einzig mögliche Antwort ist, dass die Geschäftsinteressen der Nation als Ganzes gewissen Sonderinteressen untergeordnet werden, die sich die Kontrolle der nationalen Mittel angeeignet haben und für ihre privaten Gewinne einsetzen.«57

Ein staatlich finanzierter Verlust‐​Kolonialismus entzieht demnach Einzelkapitalen eines kapitalistischen Systems Mehrwert zu Gunsten anderer Einzelkapitale. Hobson folgert aus seinen Untersuchungen, dass ein nicht‐​imperialistischer Kapitalismus möglich und funktionstüchtig ist, sofern der Einfluss der imperialistischen »Sonderinteressen« auf den Staat zurückgedrängt werden kann.

Einer von Lenins Lieblingsprügelknaben, der damals führende sozialdemokratische Theoretiker Karl Kautsky, deutet den Imperialismus ähnlich wie Hobson:

Im Zuge der Konzentration des Kapitals und der Zentralisierung der »Leitung und Beherrschung« des Kapitals »erwächst in den Staaten fortgeschrittener kapitalistischer Industrie das Regime der großen Monopole und die Beherrschung der Staatsgewalt durch sie. […D]ie großen Kapitalisten [versuchen,] eine monopolistisch begünstigte Stellung auf dem Markt zu gewinnen mit Hilfe der Staatsgewalt: einerseits durch Schutzzölle, die die äußere Konkurrenz auf dem inneren Markt schwächen, die Unternehmerorganisationen erleichtern und diesen die Kraft geben, auf dem Weltmarkt Schleuderkonkurrenz zu üben. Andererseits durch Kolonialpolitik, die Angliederung agrarischer Gebiete als direkte Kolonien oder als Vasallenstaaten an den Industriestaat und Monopolisierung dieser Länder als Absatzgebiete, Rohstoffquellen und Anlagestätten für exportiertes Kapital.

Diese Politik bezeichnet man als die des Imperialismus. […] Sie ist nicht eine Notwendigkeit für den Fortgang der industriellen Produktion unter der Herrschaft des Kapitalismus, sondern nur eine der Methoden zur Gewinnung von Extraprofit. Durch ihre Bekämpfung und Einschränkung wird die Industrie ebensowenig gehemmt wie durch einen Normalarbeitstag [gesetztliche Arbeitszeitbeschränkung].«58

Die Erklärung des Imperialismus als Streben nach Extraprofiten beinhaltet, den Imperialismus als nicht systemnotwendig zu erklären. Denn solange durchschnittlich Durchschnittsprofite erzielt werden, kann es den Kapitalismus nicht umhauen, wenn Einzelkapitale mangels Schutzzöllen oder Kolonien oder anderer Vorteile geringere Extraprofite erzielen als sie gerne möchten. Damit kann Kautsky wie Hobson den Imperialismus als politisches Problem betrachten, das sich im Rahmen des Kapitalismus lösen lässt:

»In Wirklichkeit ist die Frage des Imperialismus […] eine bloße Machtfrage. Ob und wie sich die Politik des Imperialismus im Staate durchsetzt, das ist eine Frage der Kraft der Klassen, die nicht direkt am Imperialismus interessiert sind, und noch mehr jener Klassen, die durch ihn geschädigt werden, endlich aber auch eine Frage der ökonomischen Einsicht jener Klassen.«59

Bei Hilferding ist das Finanz‐ und Monopolkapital stärker in den Kapitalismus eingebettet als bei Hobson und Kautsky. Es entsteht im Rahmen und in Folge der kapitalistischen Entwicklung und bleibt in das Wertgesetz eingebunden, wiewohl es mit zunehmender Ausbreitung die Marktmechanismen des Ausgleichs der Profitraten zunehmend unterminiert.60

Bezüglich des Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus kommt Lenin zu gleichen Schlüssen wie Hilferding, doch zeichnet Lenin ein Bild des Imperialismus und Finanzkapitals, das dem von Hobson und Kautsky ähnlicher ist als dem von Hilferding. Auf einem Parteitag der Bolschewiki 1919 meint Lenin sogar:

»Imperialismus und Finanzkapitalismus [sind] ein Überbau über dem alten Kapitalismus. Zerstört man seine Spitze, so tritt der alte Kapitalismus zutage.«61

Zu den Geschädigten des Imperialismus in den imperialistischen Ländern gehören laut Lenin alle, die keine erhöhten Profite aus Monopolen bzw. finanzkapitalistischen Beteiligungen beziehen – einschließlich kleiner und mittlerer Einzelkapitale.

»[D]ie gigantischen Ausmaße des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein außergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, [unterwirft …] sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer«.62

»Der allgemeine Rahmen der formal anerkannten freien Konkurrenz bleibt bestehen, und der Druck der wenigen Monopolinhaber auf die übrige Bevölkerung wird hundertfach schwerer, fühlbarer, unerträglicher.«63

Diese Anschauungen scheinen im Zusammenhang mit Lenins Kapitalismusvorstellung reformorientierte politische Folgerungen nahezulegen: Klassenübergreifende Bündnisse der benachteiligten Gruppen in den imperialistischen und in den imperialistisch ausgebeuteten Nationen sowie untereinander könnten einem akkumulationsfähigen nicht‐​imperialistischen Kapitalismus den Weg bahnen, etwa durch antimonopolistische Gesetze und internationale Organisationen, die für die Einhaltung bürgerlicher Geschäftsregeln sorgen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dies in etwa das offizielle Anliegen kapitalistischer Staaten in der UNO. Heute wird es oft als ein Anliegen der »multipolaren Weltordnung« verstanden.

Wie gelingt es Lenin, Hobsons und Kautskys Imperialismusverständnis zu teilen, ohne daraus deren politische Folgerungen zu ziehen?

Bei Lenin finden sich im Wesentlichen zwei Erklärungsstränge, die reformorientierte Folgerungen zunichte machen sollen. Der eine Erklärungsstrang bezieht sich auf inner‐ und internationale Beziehungen von Kapitalen. Der andere dreht sich um eine »Fäulnis« des Kapitalismus, die gewissermaßen keine Verjüngungskur zum alten Konkurrenzkapitalismus erlaubt.

Beide Erklärungsstränge sind nicht darauf aus nachzuweisen, dass die Organisationsform des Imperialismus systemisch/​funktionell auf Ausbeutung außersystemischer Wertproduktionen angewiesen sein könnte.

Inner‐ und internationale Kapitalbeziehungen

Lenins Imperialismuserklärung geht davon aus, dass auf nationaler Ebene die Entwicklung des Kapitals zu einer Verfestigung der politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse führt. Gegensätze der national basierten mittleren und kleinen Kapitale zum national basiert vorgestellten Finanzkapital wiegen weniger schwer als diese Verfestigung, so dass die betreffenden nationalen Gesamtkapitale zu Kriegen gegen »Konkurrenznationen« befähigt und bei Siegesaussichten an Kriegen gegen sie interessiert sind.

Auf internationaler Ebene kann es laut Lenin nicht zu einer Verfestigung der politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse kommen, im Gegenteil: die Gegensätze zwischen großen Kapitalen verstärken sich.

Denkt man demgegenüber die Entwicklung der Zentralisation und Konzentration des Kapitals, die – nach anfänglichen bewaffneten Kämpfen in Europa und Amerika zur Errichtung souveräner Nationalstaaten – innerhalb dieser Nationalstaaten weitgehend »›friedlich‹« ablief, über nationale Grenzen hinaus weiter, kommt etwas heraus, das heute als »Neue Weltordnung« bezeichnet wird. Kautsky nennt es »Ultraimperialismus«. Es bestehe die Möglichkeit, schreibt er 1915,

»dass die jetzige imperialistische Politik durch eine neue […] verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte.«64

Sollte es zu einer Phase des Ultraimperialismus kommen, vermutet Kautsky, würde sie Frieden und Abrüstung mit sich bringen, eine »Ära neuer Hoffnungen und Erwartungen innerhalb des Kapitalismus« – bevor es erneut zu Missständen komme, die laut Kautsky der Kapitalismus unvermeidlich hervorbringt.

Zur Zeit der ersten beiden Weltkriege war die transnationale Verflechtung des Kapitals nicht so weit gediehen, dass Staatspolitiken transnationale Kapitale in einem Ausmaß hätten repräsentieren können, das die Gegensätze zwischen den nationalstaatlich basierten Großkapitalen der kriegführenden Nationen, vor allem der Schwerindustrie und chemischen Industrie, neutralisierte. Andererseits genügte die Verflechtung zur Bildung kriegsfähiger Staatenbündnisse und zur Organisation von Finanztransaktionen über Feindlinien hinweg, insbesondere durch Schweizer Banken.

Lenin hält dem Gedanken des Ultraimperialismus entgegen:

»Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, alle Unternehmungen und alle Staaten ausnahmslos umfassenden Welttrust verläuft. Doch tut sie dies unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen – beileibe nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer, nationaler Natur usw. usw. – dass unbedingt, noch ehe es zu einem einzigen Welttrust, zu einer ›ultraimperialistischen‹ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unvermeidlich zusammenbrechen, der Kapitalismus sich in sein Gegenteil verwandeln wird.«65

Zur Entstehung eines Interesses des gesamten nationalen Kapitals am Imperialismus erklärt Lenin:

»Einerseits die gigantischen Ausmaße des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein außergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, durch das es sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer unterwirft; anderseits der verschärfte Kampf mit den anderen nationalstaatlichen Finanzgruppen um die Aufteilung der Welt und um die Herrschaft über andere Länder – all dies führt zum geschlossenen Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus.«66

Weshalb sollten besitzende Klassen, wenn sie beim Imperialismus draufzahlen, auf »die Seite des Imperialismus« übergehen? Und weshalb sollten Finanzgruppen »nationalstaatlich« sein und bleiben?

Zur Beantwortung der ersten Frage könnte man vielleicht annehmen: Lenin meint eben nicht, dass nicht‐​monopolisierte, der Konkurrenz unterliegende Kapitale zu Gunsten des Finanzkapitals draufzahlen, sondern, dass das Finzanzkapital ihnen mit seinem Imperialismus mindestens so viel einbringt wie es sie kostet. Diese Annahme, die sich bei Hilferding findet, passt schlecht zu Lenins Darstellungen der Funktionsweise des Imperialismus als Organisationsform, wie zum Beispiel:

»[D]as ›Beteiligungssystem‹ [Aktienbesitz] dient nicht nur dazu, die Macht der Monopolisten riesenhaft zu vermehren, es ermöglicht außerdem, jede Art von dunklen und schmutzigen Geschäften straflos zu betreiben und das Publikum zu schröpfen.«67

»Die moderne Bilanztechnik macht es ihnen nicht nur leicht, das eingegangene Risiko dem Auge des Durchschnitts‐​Aktionärs zu verhüllen, sondern sie gestattet den Hauptinteressenten auch, sich den Folgen eines verfehlten Experiments durch rechtzeitige Fortgabe ihres Aktienbesitzes zu entziehen, während der Privatunternehmer bei allem, was er tut, seine eigene Haut zu Markte trägt.«68

Eine andere Möglichkeit zur Beantwortung der Frage nach einem gemeinsamen imperialistischen Interesse auf nationalstaatlicher Ebene ergibt sich aus der wirtschaftlichen Unterwerfung der nicht‐​monopolisierten Kapitale unter das Finanzkapital. Damit könnte ein Interesse am Erfolg derjenigen verbunden sein, denen die nicht‐​monopolisierten Kapitale unterworfen sind. Auch in diesem Fall müssten zur Entstehung eines nationalen Gesamtinteresses des Kapitals am Imperialismus Nutzen und Schaden für nicht‐​monopolisierte Kapitale so ausfallen, dass ihr wirtschaftlicher Gegensatz zum nationalen Finanzkapital weniger wiegt als ihre gemeinsamen Interessen mit ihm.

Ein gemeinsames Interesse von nicht‐​monopolisiertem Kapital und Finanzkapital folgt aus dem Gegensatz allen Kapitals zum Proletariat. Doch dieses gemeinsame Interesse des Kapitals besteht über nationale Grenzen hinweg und begründet daher nicht notwendig Gegensätze zwischen Kapitalen entlang nationaler Grenzen.

Zum Proletariat erklärt Lenin:

»Der Imperialismus, […] der monopolistisch hohe Profite für eine Handvoll der reichsten Länder bedeutet, schafft die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus.«69

Die Figur der »Bestechung« hingenommen: Weshalb sollte das Subjekt, das Bestechungen durchführen muss, damit sich diese nicht in moralisch weniger verwerfliche, »durch die Verhältnisse bedingte« wirtschaftliche Vorteile verwandeln, nicht die proletarische Oberschicht etwas weniger bestechen und dafür die mittleren und unteren proletarischen Schichten auch ein bißchen bestechen, so dass Mehrheiten der jeweiligen nationalen Proletariate dem Opportunismus frönen?70

Bei Hilferding fallen die Interessengegensätze zwischen Monopolkapital und nicht‐​monopolisierten Kapitalen weniger harsch aus als bei Lenin. Das Monopol‐ und Finanzkapital frisst kleinere Kapitale nur, wenn dadurch höhere Profite herausspringen. Auch ist die Großproduktion der Kleinproduktion nicht in jedem Fall überlegen. Es entwickelt sich eine Arbeitsteilung, die beiden Seiten nützt. Als Zuliefer‐ und Hilfsunternehmen der Großindustrie wie auch als Handels‐ und Dienstleistungsunternehmen für Arbeiterinnen verfügen nicht‐​monopolisierte Kapitale mit der monopolisierten Großindustrie und den Löhnen der dort Arbeitenden über sicherere Einnahmequellen als ohne sie. Daher sind sie am Gedeihen der Großindustrie und des national basierten Finanzkapitals und an deren Erfolg gegen ausländische Konkurrenz interessiert. Diese ökonomische Lage passt zu den inner‐​nationalen politischen Konstellationen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Die Lage ändert sich mit zunehmender transnationaler Verflechtung der Großindustrie oder Verlagerung industrieller Produktionen ins Ausland (die transnationale Verflechtungen von Finanzkapitalen erfordert und fördert). Dadurch geraten nicht‐​monopolisierte Kapitale – Zuliefer‐ und Hilfsunternehmen der Großindustrie – in zusätzliche Konkurrenz zu nicht‐​monopolisierten Kapitalen anderer Nationen und in wachsende Gegensätze zum Monopol‐ und Finanzkapital. Dessen transnationale Erweiterung schadet national basierten nicht‐​monopolisierten Kapitalen mehr als sie nützt, wenn durch sie die Inlandsnachfrage eingeschränkt wird und/​oder allzu viele ausländische nicht‐​monopolisierte Kapitale Konkurrenzkämpfe in Zulieferer‐ und Hilfsbranchen gewinnen. Diese ökonomische Lage passt zu den anti‐​globalistischen, defensiv‐​nationalistischen klassenbündnerischen Vorstellungen der heutigen Rechten wie MAGA, der AfD oder Fratelli d’Italia.

Zur nationalstaatlichen Bestimmung des Finanzkapitals schreibt Lenin im Kontrast zum Zitat oben an anderen Stellen, die Finanzgruppen seien nicht unbedingt nationalstaatlich bestimmt:

»[I]n dem Maße, wie der Kapitalexport wuchs und die ausländischen und kolonialen Verbindungen und ›Einflusssphären‹ der riesigen Monopolverbände sich in jeder Weise erweiterten, kam es ›natürlicherweise‹ unter ihnen zu Abmachungen im Weltmaßstab, zur Bildung von internationalen Kartellen.«71

»[E]s bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen«.72

Dass sich »internationale monopolistische Kapitalistenverbände« zu transnationalen entwickeln und damit eine Basis für Kautskys Ultraimperialismus bilden könnten, schließt Lenin mit einem Argument der »Ungleichmäßigkeit« aus:

»Angenommen, sämtliche imperialistischen Mächte schlössen ein Bündnis zur ›friedlichen‹ Aufteilung der genannten asiatischen Länder – das wäre ein ›international verbündetes Finanzkapital‹. […] Es fragt sich nun, ist die Annahme ›denkbar‹, dass beim Fortbestehen des Kapitalismus (und diese Bedingung setzt Kautsky gerade voraus) solche Bündnisse nicht kurzlebig wären, dass sie Reibungen, Konflikte und Kampf in jedweden und allen möglichen Formen ausschließen würden?

Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen‐ und Einflusssphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Russland. Ist die Annahme ›denkbar‹, dass das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar.«73

Auch auf die nationale Ebene bezogen ließe sich behaupten: »für die Aufteilung der Interessen‐ und Einflusssphären … usw. [ist] eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar.«

Den militärischen Aspekt, der im europäischen Kontext abwegig erscheint, beschreibt Lenins Parteigenosse Nikolai Bucharin 1915 in seinem Buch Imperialismus und Weltwirtschaft, zu dem Lenin das Vorwort verfasste:

»Wir meinen hier den Kampf unter den amerikanischen Trusts. Hier wird auch der Rahmen des im ›Rechtsstaate‹ Erlaubten überschritten; Räuberbanden werden angeworben, die Eisenbahnen zerstören und Petroleum‐​Röhrenleitungen beschädigen und sprengen; Brandstiftungen und Morde kommen vor; Regierungsbeamte, darunter ganze gerichtliche Körperschaften werden direkt und in weitestem Umfange bestochen; Abteilungen eigener Spione im Lager der Konkurrenten werden unterhalten usw. usw.; alles das ist in der Geschichte der Entstehung der modernen Riesenunternehmen Amerikas in Hülle und Fülle zu finden.«74

Aus einer Ungleichmäßigkeit von Entwicklungen folgt Kampf zwischen Nationen und nicht zum Beispiel Vereinnahmung zurückgebliebener durch fortgeschrittene Kapitale oder eine stabilisierte Rückstufung nicht‐​monopolisierter Kapitale auf Zuliefer‐ und Hilfsfunktionen in transnationalen Großsystemen wie sie analog im nationalen Rahmen geschah, wenn von vornherein vorausgesetzt ist, dass die maßgeblichen Kapitale ihre historisch bedingte nationalstaatliche Bestimmung nicht überschreiten.

Bucharin hält 1915 die Herausbildung transnationaler Kapitale und die Auflösung von Nationalstaaten in größere Einheiten für möglich, schließt daraus aber nicht wie Kautsky auf eine »Ära neuer Hoffnungen und Erwartungen innerhalb des Kapitalismus«:

»Wenn sich […] ganz Europa vereinigt, so wird das keineswegs eine ›Abrüstung‹ bedeuten; es wird nur einen ungeahnten Aufschwung des Militarismus bedeuten, denn dann steht der Riesenkampf gegen Amerika und Asien auf der Tagesordnung. Der Kampf der kleinen (kleinen!) staatskapitalistischen Trusts wird durch den Kampf von noch gewaltigeren Trusts abgelöst werden.«75

Hilferding beschreibt ausgehend von einer ursprünglichen nationalstaatlichen Bestimmung des Finanzkapitals am Beispiel Deutschlands und Englands Tendenzen, die einer »gewaltsamen Lösung« von deren Gegensätzen entgegenwirken:

»Denn der Kapitalexport schafft selbst Tendenzen, die einer solchen gewaltsamen Lösung widerstreben. Die Ungleichheit der industriellen Entwicklung bewirkt eine gewisse Differenzierung in den Formen des Kapitalexports. Die direkte Anteilnahme an der Erschließung der industriell rückständigen oder langsamer sich entwickelnden Länder fällt jenen zu, in denen die industrielle Entwicklung, sowohl was die technische als auch was die organisatorische Seite anlangt, die höchste Form erreicht hat. Dazu gehören vor allem Deutschland und die Vereinigten Staaten, in zweiter Linie England und Belgien. Die anderen Länder mit alter kapitalistischer Entwicklung nehmen am Kapitalexport mehr in der Form von Leihkapital Anteil als in der Form der Errichtung von Fabriken. Das führt dazu, dass zum Beispiel französisches, holländisches, im hohen Maße aber auch englisches Kapital zum Leihkapital wird für Industrien unter deutscher und amerikanischer Leitung. So entstehen Tendenzen zu einer Solidarität internationaler Kapitalsinteressen. Französisches Kapital wird als Leihkapital interessiert an den Fortschritten deutscher Industrien in Südamerika usw. […]

Welche von diesen Tendenzen überwiegt, ist in den konkreten Fällen verschieden und hängt vor allem ab von den Gewinnaussichten, die durch die Ausfechtung des Kampfes eröffnet werden. Es spielen hier ähnliche Verhältnisse eine Rolle auf internationalem und interstaatlichem Maßstab, wie diejenigen es sind, welche darüber entscheiden, ob innerhalb einer Industriesphäre der Konkurrenzkampf weiterdauert oder durch ein Kartell oder einen Trust für kürzere oder längere Zeit beendet wird.«76

Der heute leider weitgehend unbekannte parteiunabhängige Kommunist Fritz Sternberg schreibt in seinem Buch »Der Imperialismus« von 1926, in dem er die Auswirkungen des Imperialismus auf die Proletariate der imperialistisch erfolgreichen Nationen untersucht und ansagt, von Deutschland werde ein zweiter Weltkrieg ausgehen: Nationale Kartelle und Monopole können sowohl begünstigend als auch »verringernd auf den imperialistischen Vorstoß« ihrer Nationen wirken. Letzteres sei insbesondere dann der Fall, wenn die Kartelle und Monopole denen anderer Nationen technisch überlegen sind. Dies verringere den Anreiz, der Weltmarktüberlegenheit kriegerisch nachzuhelfen.77 Sternberg kommt nach Deutung empirischer Daten zu dem Schluss:

»Wir vermögen im Übergang des Hochkapitalismus zur neuen Industrieorganisation, zum Kartell und Trust usw. nicht das entscheidende Merkmal des Imperialismus zu erblicken. […] Gewiss ist, dass der Träger des imperialistischen Gedankens in manchen kapitalistischen Ländern vor allem die in Kartellen und Trusts zusammengeschweißte Schwerindustrie ist. Aber: zwischen imperialistischem Vorstoß und Übergang des Kapitalismus zu Monopolorganisationen besteht keine eindeutige parallele Beziehung in den entscheidenden imperialistischen Staaten […]

Das Land, das bis zum [Ersten Welt-]Kriege das typische Land des Imperialismus war, England, war gleichzeitig das Land, dessen Kartellentwicklung hinter Deutschland stark zurückgeblieben war. Das Land mit der stärksten Konzentration, die der Kapitalismus bis heute erreicht hat, die Vereinigten Staaten, war vor dem Kriege infolge seines eigenen kolonialen Charakters [seines Charakters als Kolonie] erst in den Beginn der imperialistischen Phase eingetreten. Frankreich, dessen imperialistischer Vorstoß vor dem Kriege nur durch den englischen übertroffen wurde, war ein Land, das in der Industrieentwicklung und in der Monopolorganisation weit hinter den Vereinigten Staaten, hinter Deutschland, hinter England zurückgeblieben war. Und nur in Deutschland war eine gewisse Gleichzeitigkeit in der imperialistischen Expansion und im Übergang des Kapitalismus aus der Phase der ›freien‹ Konkurrenz zu einer der latenten Konkurrenz, der Kartelle, zu konstatieren.«78

Kapitalismus im Endstadium

Das Verständnis des Imperialismus als »höchstes Stadium des Kapitalismus« beruht auf einer teleologischen Vorstellung, nach der die Wiederherstellung eines Konkurrenzkapitalismus als unmögliche Rückkehr auf eine niedrigere Entwicklungsstufe erscheint. Lenin argumentiert auf Basis dieser Vorstellung, die auch Hilferding hat, in seiner Kritik an Kausky:

»Angenommen, es wäre richtig, dass sich Kapitalismus und Handel bei freier Konkurrenz, ohne irgendwelche Monopole, schneller entwickeln würden. Aber je schneller die Entwicklung des Handels und des Kapitalismus vor sich geht, um so stärker ist doch die Konzentration der Produktion und des Kapitals, die das Monopol erzeugt. Und die Monopole sind ja schon entstanden, gerade aus der freien Konkurrenz! Selbst wenn die Monopole jetzt die Entwicklung zu verlangsamen begonnen haben, so ist das dennoch kein Argument zugunsten der freien Konkurrenz, die unmöglich geworden ist, nachdem sie die Monopole erzeugt hat.«79

Eine alternative Teleologie, nahegelegt durch Hobson und heute verbreitet, könnte zum Beispiel den Konkurrenzkapitalismus als »höchstes Stadium der Menschheitsentwicklung« betrachten und Monopole, Kriege usw. als korrekturfähige, durch unangemessene Staatsinterventionen und »unkapitalistischen« Lobbyismus hervorgerufene Abweichungen vom Hauptstamm der Menschheitsentwicklung deuten.

Die seiner Meinung nach bestehende Unmöglichkeit einer Rückkehr zu »freier Konkurrenz« drückt Lenin mit einer biologischen Metapher aus, der er zugleich widerspricht: einer »Fäulnis«, die zu Wachstum befähigt ist:

»Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus [im Stadium des Imperialismus] bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmäßiger, sondern die Ungleichmäßigkeit äußert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England).«80

Mit Aussagen wie »Die Ungleichmäßigkeit äußert sich in Fäulnis« lässt sich wohl nicht so viel anfangen, aber ein »wachsender Kapitalismus« bedeutet konkret, dass ausreichend Mehrwert produziert und realisiert werden kann, um Kapital zu akkumulieren.

Dass die kapitalkräftigsten Länder in die Phase der »Fäulnis« eingetreten sind, untermauert Lenin mit Wirtschaftsdaten, nach denen in Großbritannien die Einnahmen aus Kapitalexporten um ein Vielfaches höher liegen als die Einnahmen aus Warenexporten.

»Der Begriff ›Rentnerstaat‹ oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich. Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten.«81

Um die Exportfrage einschätzen zu können, wären Kapital‐ und Warenimporte gegenzurechnen. Doch abgesehen davon: Nehmen in einer Nation Einkünfte aus Mehrwert, der im Ausland entsteht, im Vergleich zu Einkünften aus Mehrwert, der im Inland entsteht, stärker zu, lässt das auf ein stärkeres Wachstum von Mehrwertproduktionen im Ausland als im Inland schließen. Inwiefern deutet dieser Wachstumsunterschied auf »Fäulnis« und nicht lediglich auf »Ungleichmäßigkeit« hin?

Bei der »Fäulnis«-Vorstellung könnte eine zu Lenins Zeiten verbreitete Vorstellung zugeschlagen haben: Nationen außerhalb Europas und Nordamerikas traute man nicht zu, einen fortgeschrittenen Kapitalismus auf die Beine zu stellen. Aus einem Niedergang des europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus (dessen Vorliegen man einige Jahrzehnte später in Frage stellen konnte) wird daher ein Niedergang des Kapitalismus überhaupt.

Imperialismus als personifiziertes Böses

Oben, im langen Marx‐​Zitat wird ein Aspekt angedeutet, der sich vielleicht als »Fäulnis« werten lässt: die Verwandlung der »Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten« und die Entstehung »eine[r] neue[n] Finanzaristokratie, eine[r] neue[n] Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren«.

Die genannten faulen(den) Schichten der Bourgeoisie entstehen durch Geldabgreifmöglichkeiten, die sich an den Übergangsstellen zwischen privaten Investitionen und Profiten einerseits und vergesellschafteten Produktionen andererseits bilden.

Auf den ersten Blick scheint sich nach Lenins Schilderungen der Kapitalismus mit den faulen(den) Schichten äußerst produktiv zu entwickeln.

»Wenn aus einem Großbetrieb ein Mammutbetrieb wird, der planmäßig, auf Grund genau errechneter Massendaten, die Lieferung des ursprünglichen Rohmaterials im Umfang von zwei Dritteln oder drei Vierteln des gesamten Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung organisiert; wenn die Beförderung dieses Rohstoffs nach den geeignetsten Produktionsstätten, die mitunter Hunderte und Tausende Meilen voneinander entfernt sind, systematisch organisiert wird; wenn von einer Zentralstelle aus alle aufeinanderfolgenden Stadien der Verarbeitung des Materials bis zur Herstellung der verschiedenartigsten Fertigprodukte geregelt werden; wenn die Verteilung dieser Produkte auf Dutzende und Hunderte von Millionen Konsumenten nach einem einzigen Plan geschieht (Petroleumabsatz in Amerika wie in Deutschland durch den amerikanischen ›Petroleumtrust‹) – dann« …

deutet das doch auf eine prima funktionierende Wirtschaft hin? Lenin sagt »Nein«, indem er fortfährt:

… »dann wird es offensichtlich, dass wir es mit einer Vergesellschaftung der Produktion zu tun haben und durchaus nicht mit einer bloßen ›Verflechtung‹; dass privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muss, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.«82

Weshalb müssen »privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse … unvermeidlich in Fäulnis übergehen«, wenn der Kapitalismus wachstumsfähig ist und der Produktionsprozess zur Erfüllung des »Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung … systematisch organisiert wird«? Vielleicht, weil es durch Planlosigkeit und Disproportionalitäten immer wieder zu Krisen kommen muss? Könnten die »Monopolisten« diese Probleme nicht in den Griff bekommen, da durch sie die Bedarfserfüllung doch »systematisch organisiert wird«?

Hier besteht eine Erklärungslücke, in die faschistische Tendenzen springen, zur Zeit insbesondere dominante Strömungen der Klimakatastrophen‐​Szene, einschließlich Pseudolinke. Diese propagieren eine Wirtschafts‐ und Gesellschaftsordnung, die sich ökonomisch von der alt‐​faschistischen monopolistisch‐​korporatistischen »Volksgemeinschaft« nur durch ihre außenpolitische Friedfertigkeit unterscheidet. Der internationalen Kooperation steht bei einem aus sich selbst heraus wachstumsfähigen Kapitalismus kein systembedingter Sachzwang, sondern nur wissenschaftsfeindliche Unvernunft entgegen.

»Im [Klima-]Notfallmodus arbeiten die Mitglieder von Gruppen – wie Organisationen oder sogar ganze Länder – produktiv und koordiniert zusammen, um eine Krise zu bewältigen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen trägt ihr Bestes und ihre verfügbaren Ressourcen bei. Die Menschen besetzen unterschiedliche Rollen und übernehmen komplementäre Projekte, um die Krise zu meistern. Auch wenn das Gewinnstreben und eigennütziges Verhalten in einer lang andauernden Notsituation nicht ausgeschaltet werden können, wird es zur Norm, für das Gemeinwohl zu arbeiten und Lösungen zu schaffen, anstatt sich auf den eigenen Komfort oder Vorteil zu konzentrieren. Die Menschen gewinnen Befriedigung und Stolz, wenn sie der Gruppe oder dem größeren Notfallprojekt helfen, und sie fühlen sich motiviert, ja sogar getrieben, dies zu tun. […] Es geht um nichts Geringeres als eine von der Regierung koordinierte soziale und industrielle Revolution. Mobilisierung ist das, was passiert, wenn eine ganze Nation in den Notfallmodus geht«.83

Vor dem Hintergrund von Lenins Kapitalismusverständnis mit seinen wachsenden inneren Märkten und einem auf die Tauschfunktion reduzierten Geld bleibt zur Erklärung der »Fäulnis« wie auch des systemisch nicht notwendigen Imperialismus kaum anderes übrig als ein moralisches Versagen der – im Übrigen sehr intelligenten und zu allen möglichen »Schwindelmanövern« und Wirtschaftsplanungen befähigten – »Monopolisten« anzunehmen.

Beim moralischen Versagen setzen heutige, der oft als »sozialistisch« verstandenen Klimakatastrophen‐​Szene feindlich gesonnene, anti‐​monopolistische national orientierte Strömungen an. Ihnen geht es darum, einen durch verwerfliche Eigeninteressen motivierten Versuch globalistisch‐​monopolistischer Cliquen zur Errichtung einer »Neuen Weltordnung« abzuwehren und einen national basierten Konkurrenzkapitalismus (wieder-)herzustellen, der aufgrund seiner Wachstumsfähigkeit aus sich selbst heraus letztlich der gesamten Menschheit zu Gute kommen wird. Anhängerinnen dieser Strömungen können bei Lenins Charakterisierung der »Monopolisten«, die darum nicht falsch sein muss, mitziehen – was Pseudolinke dazu motiviert, antisemitische Querfront‐​Entwicklungen zu behaupten.

Da die »Monopolisten« den Hals nicht voll bekommen können, liegen ihnen nach Lenins Charakterisierung nicht nur träge Kapitalakkumulationen auf Basis wachsender innerer Märkte ferner als Kriege gegen die imperialistische Konkurrenz mit der Gefahr von Kapitalvernichtungen. Ihnen liegen auch Erhöhungen der »Bestechungsgelder« für das Proletariat ferner als das Provozieren sozialistischer Revolutionen:

»Der freie Markt rückt immer mehr in die Vergangenheit, monopolistische Syndikate und Trusts engen ihn von Tag zu Tag mehr ein, die ›einfache‹ Hebung der Landwirtschaft aber läuft auf eine Hebung der Lage der Massen, auf eine Erhöhung der Löhne und eine Verminderung des Profits hinaus. Wo existieren jedoch, außer in der Phantasie süßlicher Reformer, Trusts, die fähig wären, sich um die Lage der Massen zu kümmern, anstatt Kolonien zu erobern?«84

»Freilich, wäre der Kapitalismus imstande, die Landwirtschaft zu entwickeln, die jetzt überall weit hinter der Industrie zurückgeblieben ist, könnte er die Lebenshaltung der Massen der Bevölkerung heben, die trotz des schwindelerregenden technischen Fortschritts überall ein Hunger‐ und Bettlerdasein fristet – dann könnte von einem Kapitalüberschuss [der in die Kolonien exportiert wird] nicht die Rede sein. Und das ist auch das ›Argument‹, das allgemein von kleinbürgerlichen Kritikern des Kapitalismus vorgebracht wird. Aber dann wäre der Kapitalismus nicht Kapitalismus […]. Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuss nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet – denn das würde eine Verminderung der Profite der Kapitalisten bedeuten […]

Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, dass in einigen Ländern der Kapitalismus ›überreif‹ geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für ›rentable‹ Betätigung fehlt.«85

Wieso es zum moralischen Versagen kommt, erklärt Lenin 1920 auf einer Konferenz der Vorsitzenden der Exekutivkomitees einiger Sowjets anhand des Sieges Sowjetrusslands über die alliierte Intervention:

»Das tritt deshalb zutage, weil wir es hier mit Räubern zu tun haben, die gegenseitig übereinander herfallen und sich im Ergebnis letzten Endes nicht gegen uns vereinigen können, weil Eigentum trennt und die Menschen zu Bestien macht, Arbeit aber eint.«86

Um eine hauptsächlich moralische Erklärung der kapitalistischen »Fäulnis« abzuwenden, kämen unter der Voraussetzung, dass zur Kapitalakkumulation ein wachsender system‐​innerer Markt ausreicht, Argumentationen mit einer sinkenden Profitrate und wachsenden Automatisierung in Frage. Dass Lenin in »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« diesen Argumentationsweg nicht geht, könnte an seinem Anspruch liegen, die Schrift »populär« zu halten. Andererseits passt die Problematik der sinkenden Profitrate schlecht zu Lenins tauschorientiertem Kapitalismusbegriff. Danach kann dem Kapital daraus, dass sich mit weniger Arbeiterinnen immer mehr »Produkte« erzeugen lassen, eher kein systemgefährdender Nachteil entstehen.

Sozialismus

In materiell‐​organisatorischer Beziehung sieht Lenin – gemeinsam mit heutigen pro‐​kapitalistischen Kritikerinnen der »Neuen Weltordnung« – den Sozialismus so weit vorbereitet, dass fast schon keine Warenproduktion mehr stattfindet:

»Der Kapitalismus ist so weit entwickelt, dass die Warenproduktion, obwohl sie nach wie vor ›herrscht‹ und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofite den ›Genies‹ der Finanzmachenschaften zufallen. Diesen Machenschaften und Schwindeleien liegt die Vergesellschaftung der Produktion zugrunde, aber der gewaltige Fortschritt der Menschheit, die sich bis zu dieser Vergesellschaftung emporgearbeitet hat, kommt den Spekulanten zugute.« 87

Eine faulende »Hülle« aus »Spekulanten« und »Bestien« um eine eigentlich gut funktionierende Produktion herum wird naheliegenderweise durch Beseitigung der »Spekulanten« und »Bestien« abgestreift. Die »Spekulanten« und »Bestien« gilt es dann ebenso naheliegenderweise, durch Menschen zu ersetzen, die dafür sorgen, dass der »Fortschritt der Menschheit« den Arbeiterinnen zu Gute kommt.

Postamt und Diktatorschaft

Details zur Lage nach Abstreifen der »Hülle« schildert Lenin in zwei Varianten: als »Postamt«, geschrieben August bis September 1917, und als »Diktatorschaft«, geschrieben ein rundes halbes Jahr später.

Zuerst das »Postamt«:

»Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirtschaft. Das ist durchaus richtig.

Gegenwärtig ist die Post ein Betrieb, der nach dem Typ des staatskapitalistischen Monopols organisiert ist. Der Imperialismus verwandelt nach und nach alle Trusts in Organisationen ähnlicher Art. Über den ›einfachen‹ Werktätigen, die schuften und darben, steht hier die gleiche bürgerliche Bürokratie.

Doch der Mechanismus der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung ist hier bereits fertig vorhanden. Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates – und wir haben einen von dem ›Schmarotzer‹ befreiten technisch hochentwickelten Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher, Buchhalter anstellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit aller ›Staats‹beamten überhaupt, mit dem Arbeiterlohn bezahlen.

Das ist eine konkrete, praktische Aufgabe, die in bezug auf alle Trusts sofort ausführbar ist«88

Die Variante »Diktatorschaft« geht so:

»[J]ede maschinelle Großindustrie – d.h. gerade die materielle, die produktive Quelle und das Fundament des Sozialismus – [erfordert] unbedingte und strengste Einheit des Willens […], der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden Menschen leitet. Sowohl technisch als auch ökonomisch und historisch leuchtet diese Notwendigkeit ein und ist von allen, die über den Sozialismus nachgedacht haben, stets als seine Voraussetzung anerkannt worden. Wie aber kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzelnen.

Diese Unterordnung kann bei idealer Bewusstheit und Diszipliniertheit der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an die milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie kann die scharfen Formen der Diktatorschaft annehmen, wenn keine ideale Diszipliniertheit und Bewusstheit vorhanden ist. Aber wie dem auch sein mag, die widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Prozesse der Arbeit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie organisiert wird, unbedingt notwendig.«89

Lenin argumentiert nicht in der Art: die Diktatorschaft ist eine Notlösung, weil wir gerade angegriffen werden. Er argumentiert allgemein und grundsätzlich.

Auf dieser Ebene als nicht widersprüchlich interpretiert werden können Postamt‐ und Diktatur‐​Variante mit folgender Logik: Was »für den Erfolg der Prozesse der Arbeit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie organisiert wird, unbedingt notwendig« ist, hängt nicht vom Willen der »vereinigten Arbeiter« ab, sondern ist objektiv vorgegeben. Arbeiterinnen, die zu doof oder undiszipliniert sind, das objektiv Notwendige zu tun, müssen eben angeleitet bis gezwungen werden, das objektiv Notwendige zu tun. Vorauszusetzen ist natürlich philosophisch, dass eine Instanz das objektiv Notwendige erkennen kann, wobei das Notwendige objektiv, unabhängig vom Willen, gegeben sein muss, wofür die oben angedeutete teleologische Sichtweise sorgt. Praktisch ist vorauszusetzen, dass diese Instanz über die zur Durchsetzung widerspruchsloser Unterordnung nötigen Machtmittel verfügt. Diese Instanz ist die Kommunistische Partei – repräsentiert durch Einzelpersonen, die vor Ort deren Erkenntnisse umsetzen.

»[D]ie Aufgabe der Partei der Kommunisten (Bolschewiki) […] besteht darin, […] an die Spitze der erschöpften und müde nach einem Ausweg suchenden Masse zu treten, sie auf den richtigen Weg zu führen, den Weg der Arbeitsdisziplin, der Koordinierung der Aufgabe, Versammlungen über die Arbeitsbedingungen abzuhalten, mit der Aufgabe unbedingter Unterordnung unter den Willen des sowjetischen Leiters, des Diktators, während der Arbeit.«90

»Dass in der Geschichte der revolutionären Bewegungen durch die Diktatur einzelner Personen sehr oft die Diktatur der revolutionären Klassen zum Ausdruck gebracht, getragen, vermittelt wurde, das bezeugen die unwiderleglichen Erfahrungen der Geschichte.«91

Für Arbeiterinnen im Postwesen sah die Sache konkret so aus, dass sie im November 1917 vom für zuständig erklärten Volkskommissar folgenden Bescheid erhielten:

»Ich erkläre, dass keine so genannten Initiativgruppen oder Komitees für die Verwaltung des Post‐ und Telegrafenamtes die Funktionen an sich reißen können, die der Zentralmacht und mir als Volkskommissar zustehen.«92

Längerfristig entstand nach dem Abstreifen der faulenden kapitalistischen »Hülle« eine Wirtschafts‐ und Gesellschaftsordnung, in der die kapitalistischen Sachzwänge des Arbeitskraftverkaufs und des über Angebot und Nachfrage durchgesetzten Wertgesetzes mit politischen Prozeduren ersetzt waren, damit die Wirtschaft ohne kapitalistische Sachzwänge funktioniert. Soweit eine Mehrheit sich den politischen Prozeduren anschmiegte, ließ sich tatsächlich eine »milde Leitung« realisieren.

Sozialismus nach Marx

Was versteht Marx unter »Sozialismus« und »Hülle«?

Den Ausdruck »Hülle« verwendet Marx im ersten Band des »Kapitals«:

»Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropriiert.

Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.«93

Dem »kapitalistischen Privateigentum« stellt Marx »das individuelle Eigentum« gegenüber. Eigentum bedeutet »ursprünglich nichts als Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktionsbedingungen als ihm gehörigen, […] die sozusagen nur seinen verlängerten Leib bilden.«94 In der ursprünglichen Eigentumsnahme wirken die Menschen als Mitglieder eines Gemeinwesens, nicht als vereinzelte Individuen. Im Verlauf der Produktivkraftentwicklung, der zunehmenden Erzeugung von Produktionsbedingungen über die in der Natur vorgefundenen hinaus, kommt es zur Trennung von Arbeit und Eigentum, zur Klassenspaltung und zur Entstehung von individuellem Eigentum an Produktionsbedingungen.

»Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Prozess.«95

»Es ist jedes Mal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht –, worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form der Herrschafts‐ und Abhängigkeitsverhältnisse, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.«96

Bei der Aufhebung des »kapitalistischen Privateigentums« und dem Abstreifen der »kapitalistischen Hülle« geht es um eine Veränderung im »Verhalten des Menschen zu seinen … Produktionsbedingungen«, und dies – anders als bei der ursprünglichen Eigentumsnahme – auf individueller Grundlage.

»Es geht aus der ganzen bisherigen Entwicklung hervor, dass das gemeinschaftliche Verhältnis, in das die Individuen einer Klasse traten und das durch ihre gemeinschaftlichen Interessen gegenüber einem Dritten bedingt war, stets eine Gemeinschaft war, der diese Individuen nur als Durchschnittsindividuen angehörten, nur soweit sie in den Existenzbedingungen ihrer Klasse lebten, ein Verhältnis, an dem sie nicht als Individuen, sondern als Klassenmitglieder teilhatten. Bei der Gemeinschaft der revolutionären Proletarier dagegen, die ihre und aller Gesellschaftsmitglieder Existenzbedingungen unter ihre Kontrolle nehmen, ist es gerade umgekehrt; an ihr nehmen die Individuen als Individuen Anteil.«97

Mit dem Wechsel des Eigentums an Produktionsmitteln in die Hände von Arbeiterinnen entsteht nach den Vorstellungen von Marx eine Übergangsform, in der die kapitalistische »Hülle« noch nicht abgestreift ist, aber eine praktische Möglichkeit ihres Abstreifens geschaffen wird. In einem weggelassenen Abschnitt des langen Marx‐​Zitats oben – angesiedelt zwischen den »Börsenwölfen« und dem »Kreditsystem« – heißt es dazu:

»Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form […] [D]er Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigner Kapitalist sind, d.h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eignen Arbeit verwenden. […] Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebensowenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letztres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebensosehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmungen sind ebensosehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.«98

Bisher hat noch kein Proletariat auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine Eigentumsnahme der Produktionsbedingungen auf individueller Grundlage zu Wege gebracht. Höchstens kam es zu Eigentumsnahmen durch Staatswesen – mit dem Effekt, dass die Aussicht auf das Unbekannte, wirklich Neue mit etwas Bekanntem verstellt ist, das viele von uns heutige, gerade keine »Masse« bildenden und auch nicht auf der Arbeit als willenlose Androiden funktionieren wollende, Arbeiterinnen wenig erstrebenswert finden. Wie’s aussieht, werden wir zum Neuen erst schreiten, wenn im imperialistisch nicht mehr erfolgreichen Alt‐​Kapitalismus die proletarische Eigentumsnahme zur unmittelbaren Überlebensfrage wird. Dies entspräche historischen Erfahrungen wie auch materialistischen Gesellschaftsauffassungen, geschähe aber nicht unbedingt rechtzeitig.

Fußnoten

1 Zit. n. Internationale Revue: Dekadenz des Kapitalismus (VII) – Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion. 30.11.2011. (Aus Roman Rosdolskys »The Making of Marx’s Capital«, Pluto Press 1977)
Die Narodniki (deutsch: »Volksfreunde«, oder auch weniger neutral: »Volkstümler«) waren eine von Studierenden geprägte Strömung im russischen Reich. Als einfache Mitmenschen gekleidet gingen die zumeist aus reicheren Verhältnissen stammenden Naridniki in den 1870er Jahren in die Dörfer, um ärmere Bevölkerungsschichten vom Sozialismus zu überzeugen. Ausgangspunkt zur Schaffung des Sozialismus sollte die traditionelle russische Dorfkommune sein. Anders als viele andere Sozialistinnen ihrer Zeit hielten es die Narodniki nicht für erforderlich, dass Russland auf dem Weg zum Sozialismus eine kapitalistische Entwicklungsphase durchmacht. In den Dörfern stießen die Narodniki auf wenig Zuspruch. Trotzdem reagierte die zaristische Regierung mit Inhaftierungen und Verbannungen. Unter anderem aufgrund dieser Erfahrungen entstand aus den Narodniki heraus die militante Bewegung Narodnaja Wolja (»Volkswille«), die 1881 ein erfolgreiches Attentat auf den Zaren verübte und ein weiteres auf dessen Nachfolger plante. Lenins älterer Bruder war Teil der Bewegung. Er wurde 1887 hingerichtet. Lenin war damals 17 Jahre alt.

2 Nach Lenins Tod wurde der Titel geändert in: »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«. Lenin weist darauf hin, dass er im Text aufgrund der zaristischen Zensur Kompromisse machen musste. Daher sollte er nicht isoliert interpretiert werden. Ähnliches trifft auf die Schriften von 1897 und 1899 zu.

3 Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Lenin Werke 3, Anmerkung * S. 29

4 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, Lenin Werke 2, S. 126f

5 Ausdruck von Lenin verwendet.

6 Lenin Werke 2, S. 142f

7 Lenin Werke 2, S. 141. Hervorhebung im Original.

8 »Legal« hieß die Strömung, weil die zaristische Obrigkeit ihr weitergehende Veröffentlichungsmöglichkeiten zugestand als anderen linken Strömungen, die ihr als gefährlicher erschienen.

9] Lenin Werke 2, S. 148
In »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« erklärt Lenin das Wachstum eines inneren Marktes mit der Ruinierung bäuerlicher Landwirtschaften, durch die Arbeitskräfte freigesetzt werden. Diese »›Befreiung‹ eines Teils der Produzenten von den Produktionsmitteln [setzt] mit Notwendigkeit den Übergang dieser letzteren in andere Hände, ihre Verwandlung in Kapital voraus[…]; — [setzt] also [… voraus], dass die neuen Besitzer dieser Produktionsmittel jene Produkte in Form von Waren produzieren, die vorher in die Konsumtion des Produzenten selbst eingingen, d.h., dass diese neuen Besitzer den inneren Markt erweitern«. ( Lenin Werke Band 3, S. 30) Das ursprüngliche Markt‐​Wachstum durch Verwandlung von Gütern und menschlicher Arbeitskraft der Subsistenzwirtschaft in Waren wäre vom Markt‐​Wachstum im entwickelten Kapitalismus zu unterscheiden.

10 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, Lenin Werke 2, S. 156. Hervorhebung im Original.

11 Lenin Werke 2, S. 158. Hervorhebung im Original

12] Lenin Werke 2, S. 156
Siehe auch Lenin: Notiz zur Frage der Theorie der Märkte (1898), Lenin Werke 4

13 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, Lenin Werke 2, S. 156

14 Marx: Das Kapital II, 21. Kapitel Abschnitt III – Die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen GesamtkapitalsLenin hatte sich bereits 1893 in »Zur sogenannten Frage der Märkte« ( Lenin Werke 1, S. 65ff) ausführlich mit Marxens Schemata befasst. Sie hatten für ihn die Bedeutung eines Nachweises der Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus und damit der Anwendbarkeit des »Marxismus« in Russland.

15 Zur Mathematik dahinter und der nötigen Doppeltanrechnung von Werten, die entsprechend nicht als Profite in Geldform interpretiert werden können, siehe Maike Neunert: Rosa Luxemburgs »Die Akkumulation des Kapitals«: bitte neu überdenken. Aufruhrgebiet 20.7.2020 (auch Linke Zeitung). Rosa Luxemburg hatte diesbezüglich in ihrer »Akkumulation« falsch gerechnet, was dazu beitrug, dass die zum Verständnis der heutigen Weltlage so überaus wichtige Hauptbotschaft ihres Buches unterging.

16 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. Lenin Werke 2, S. 155
Siehe auch Lenin: Noch einmal zur Frage der Realisationstheorie (1899), Lenin Werke 4, S. 64 — 83

17 Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Lenin Werke 3, S. 35

20 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. Lenin Werke 2, S. 158. Hervorhebung im Original.

21 Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Lenin Werke 3, S. 54

22 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. Lenin Werke 2, S. 157f. Hervorhebung im Original.

23 Lenin Werke 2, S. 158. Hervorhebung im Original.

24 Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Lenin Werke 3, S. 55

25 Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 23 (Rosa Luxemburg Gesammelte Werke 5, S. 269 Anm. 180)

26 Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. Lenin Werke 2, S. 140 und 127

27 Lenin: Bemerkungen zum ersten Programmentwurf Plechanows. Lenin Werke 6, S. 6. Das Wort »Planlosigkeit« schreibt Lenin in Deutsch.

28 Lenin: Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft. I. Folge. Kapitalismus und Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika. Lenin Werke 22, S. 92.

29 Lenin Werke 6, S. 12f, und Lenin Werke 29, S. 85

35 In seinem Beitrag für das Granat‐​Lexikon 1915, »Karl Marx« (Lenin Werke 21, S. 53), erklärt Lenin das Phänomen der Überproduktion nach Art Sismondis mit einer Produktion über die Nachfrage der Arbeiterinnen hinaus, die durch Kredite ermöglicht werde.

39 Manifest der Kommunistischen Partei, Abschnitt 1
In »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« ( Lenin Werke 3, S. 46f) schreibt Lenin der »Konsumtionsbeschränkung der Massen« die Bedeutung zu, durch sie könne die Produktion nicht in den Himmel wachsen. Damit, dass »die Realisierung des Mehrwerts in der kapitalistischen Gesellschaft […] unmöglich« sein könnte, habe sie nichts zu tun. Ähnlich in »Antwort an Herrn P. Neshdanow« von 1899, Lenin Werke 4, S. 155.

41 In Martin Hilbig: Zur dialektischen Analyse des Imperialismus – Warum so viele ehrliche Kommunist*innen kluge Analysen schreiben und sich trotzdem uneinig sind (KO 19.12.2022) werden aus den unterschiedlichen Imperialismus‐​Begriffen, die sich auf unterschiedliche sozioökonomische Gegenstände beziehen, unterschiedliche »Theorien«, die sich auf denselben sozioökonomischen Gegenstand beziehen. Diesem Gegenstand wird ein »dialektischer« Charakter zugeschrieben und die Widersprüchlichkeit der Imperialismus‐​Begriffe als Widersprüchlichkeit der Realität selbst dargestellt, was dann »historisch‐​dialektischer Materialismus« heißt.

42 Lenin: Vorwort zu N. Bucharins Broschüre »Weltwirtschaft und Imperialismus« (1915)
Einschätzungen zur Bedeutung der Befreiung kolonialisierter Bevölkerungen außerhalb Europas veränderten sich in der europäischen kommunistischen Bewegung, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es in Europa mit sozialistischen Revolutionen nichts wurde. Bevor sich das herausstellte, kam man nicht auf die Idee, im erfolgreichen anti‐​kolonialen Widerstand einen notwendigen Schritt zum Sozialismus in imperialistisch erfolgreichen Ländern zu sehen. 1916 kritisierte Lenin »die polnischen Marxisten« dafür, dass sie nationale Befreiungsbewegungen mit dem Anliegen ins Spiel bringen wollten, sie »zur Verschärfung der revolutionären Krise in Europa auszunützen«, mit den Worten: »Ein Kampf der unterdrückten Nationen in Europa […] würde ›die revolutionäre Krise in Europa‹ in ungleich höherem Grade ›verschärfen‹ als ein viel weiter entwickelter Aufstand in einer entlegenen Kolonie.« (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung). Heute kann man wohl feststellen, dass der Erfolg des anti‐​kolonialen Kampfes und damit ein weitgehendes Ende erfolgreicher imperialistischer Ausbeutung die Bedingung für sozialistische Revolutionen in den fortgeschrittenen Ländern ist.

45 Lenins im vorigen Abschnitt geschilderter Kapitalismusbegriff mit wachsenden inneren Märkten käme hierfür über die Vorstellung wachsender »Disproportionalitäten« in Frage. Aber an einer fallenden Profitrate könnte ein Kapitalismus, der lediglich einen geeigneten Gütertausch zwischen den Abteilungen I und II benötigt, um zu funktionieren, nur scheitern, wenn die Lohnarbeitenden unfähig wären, mehr Güter herzustellen als sie zu ihrer Erhaltung brauchen. Sobald dies nicht der Fall ist, bringt eine so vorgestellte kapitalistische Produktion »Profit« ein: Güter, die die Kapitalistinnen bereichern und für die sie nicht bezahlen brauchen.

46 Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – Einleitung und Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe

57 John A. Hobson: Imperialism, A Study, Chapter IV
Zustände, wie sie Hobson der britischen Nation zuschreibt, herrschen laut einigen Beteiligten der Imperialismus‐​Debatte der Kommunistischen Organisation(en) inzwischen mehr oder weniger in jeder Nation. In fast jeder Nation gebe es Monopole und dominiere das Finanzkapital. Daher seien alle Nationen mehr oder weniger imperialistisch. Die Welt könne nicht mehr in imperialistische Nationen einerseits und imperialistisch ausgebeutete Nationen andererseits zweigeteilt werden. Die Mühe zu prüfen, ob oder inwiefern ein konkretes Monopol in einer konkreten Nation überhaupt etwas mit Imperialismus und wenn ja, mit dem Imperialismus welcher Nation, zu tun hat oder nicht, entfällt, weil der Zusammenhang »Monopol in der Nation /​Imperialismus dieser Nation« definitorisch festgelegt ist.Eine formalistische Lösung zur Frage der Zweiteilung der Welt könnte so aussehen: Man berechne für jede Währung der Welt die Arbeitsstunden, die im betreffenden Währungsraum zum Kauf einer Weltdurchschnittsware (ein Gemisch aus 5 kg Stahl, 1 kg Weizen usw.) erforderlich sind. In Währungsräumen, in denen für die Weltdurchschnittsware unterdurchschnittlich viel gearbeitet wird, dominieren imperialistisch erfolgreiche Nationen. In Währungsräumen, in denen für die Weltdurchschnittsware überdurchschnittlich viel gearbeitet wird, dominieren imperialistisch erfolglose Nationen. Liegt in letzteren der Anteil des aus‐ und inländischen Monopol‐ und Finanzkapitals am Gesamtkapital über 50 %, so sollen sie trotz ihrer Erfolglosigkeit »imperialistisch« heißen. (Nachtrag: Jemand wies mich auf einen aktuellen Versuch der Berechnung imperialistischer Zugewinne hin: Cogliano, Veneziani, Yoshihara: The dynamics of international exploitation. Die nötigen Ausgangsdaten sind hier. Hat nicht jemand Lust, das für Ökonometrie‐​Laien nachvollziehbar und überprüfbar zu machen?)

60 Siehe insbesondere Hilferding: Das Finanzkapital, Abschnitt III, Kapitel 15

61 Lenin: VIII. Parteitag der KPR(B) (1919), Lenin Werke 29, S. 153

64 Karl Kautsky: Zwei Schriften zum Umlernen. In: Die Neue Zeit, 33/​2, Heft 5, 30.4.1915, S.144.
In vielen positiv auf Lenin Bezug nehmenden Texten wird nicht unterschieden zwischen dem, was Lenin über Kautsky und andere Gegnerinnen behauptet, und dem, was die Betreffenden tatsächlich behaupten. Auch, wenn Lenin nicht nur Zerrbilder von Kautsky und Konsorten kritisieren würde: Sind die Auffassungen von Lenins Gegnerinnen nur aus der Sicht Lenins bekannt, muss ein verzerrtes Bild nicht nur der Gegnerinnen, sondern auch Lenins und der damaligen Auseinandersetzungen entstehen, das außer ideologischer Selbstbestätigung wenig Nutzen bringt. Das Ausmaß von Verzerrungen lässt sich meistens daran einschätzen, wie weitgehend den jeweiligen Gegnerinnen unlautere Motive oder Absurditäten oder offensichtliche Fehler nachgesagt werden. Die wirkliche Kritik des Reformismus beginnt dort, wo man ihm guten Willen, innere Logik und Realismus unterstellt.

66 Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel 9. Der Ausdruck »all dies« bezieht sich auf die im Zitat genannten Aspekte. Im Text unmittelbar vor dem Zitat tauchen keine weiteren Aspekte auf.

70 Sichtweise ohne »Bestechung«: Gewerkschaftliche Kämpfe zur Verbesserung der Lage der Arbeiterinnen verlaufen erfolgreich, wenn und solange ausreichend imperialistische Zugewinne hereinkommen. Da dies gegenwärtig, durch die Emanzipation Chinas usw., nicht mehr der Fall ist, gibt’s in den altkapitalistischen Nationen entsprechend Ärger.

73 Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel 9. Ähnlich in »Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa« (23. August 1915): »Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wiederherzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik.« ( LW 21, S. 344f)

74 Herausgegeben wurde Bucharins Buch erst Ende 1917, nach der Herausgabe von Lenins Imperialismus‐Schrift.

76 Hilferding: Das Finanzkapital, Abschnitt V, Kapitel 22.
Häufig wird die nicht‐​kriegerische Rivalität westlicher Großkapitalgruppen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Existenz und dem Einfluss der Sowjetunion erklärt. Andererseits genügten vor dem Zweiten Weltkrieg akute Revolutionsgefahren seit 1917 nicht, die Rivalität westlicher Großkapitalgruppen auf ein nicht‐​kriegerisches Niveau herunterzukochen. Die Fähigkeit zur Einigung gegen die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg deutet auf grundlegende Veränderungen der westlichen Großkapitalgruppen hin, die neuerliche Kriege zwischen westlichen Mächten auch dann unwahrscheinlich machen, wenn ein wirklicher (nicht bloß propagandistischer) gemeinsamer Feind fehlt.

77 Fritz Sternberg: Der Imperialismus. Malik Verlag, Berlin 1926, S. 188
Sternbergs Buch liefert hilfreiche Erklärungen dafür, weshalb im sozialistisch/​kommunistischen Milieu der Spaltpilz wuchert und weshalb es in hochindustrialisierten Ländern bisher nicht zu erfolgreichen sozialistischen Revolutionen kam.

78 Fritz Sternberg: Der Imperialismus. Malik Verlag, Berlin 1926, S. 182f. Hervorhebung im Original.

79 Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel 9
Zu anderer Gelegenheit betonte Lenin: »Absolut ausweglose Lagen gibt es nicht« für die Bourgeoisie. (II. Kongress der Kommunistischen Internationale 1920, Lenin Werke 31, S. 215)Margaret Wirth weist in ihrem Referat Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus darauf hin, dass Monopole »Erscheinungsformen der freien Konkurrenz« sind, nicht ihr Gegensatz. (PROKLA Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/​9, Berlin 1973, S. 24)

83 Margaret Klein Salamon: Leading the Public Into Emergency Mode. Blog 24.5.2019

86 Lenin: Rede auf der Konferenz der Vorsitzenden der Exekutivkomitees der Kreis‑, Amtsbezirks‐ und Dorfsowjets des Moskauer Gouvernements 15.10.1920, Lenin Werke 31, S. 320
Zur »Subjektivierung des Kapitalbegriffs« bei Lenin siehe auch Margaret Wirth: Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/​9, Berlin 1973, S. 25ff

89 Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Lenin Werke 27, S. 259f. Hervorhebungen im Original.

90 Lenin Werke 27, S. 261. Hervorhebung im Original.

91 Lenin Werke 27, S. 258

92 Scibrame Uzakonenii, 1917 – 1918, No. 3, art. 30. Zit.n. E. H. Carr: The Bolshevik Revolution II. The Macmillan Company 1952, S. 71, Anmerkung 2. Unautorisierte Übersetzung ins Deutsche.

94 Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 399
In »Was sind die ›Volksfreunde‹« (1894) verengt Lenin passend zu seinem Sozialismusverständnis das individuelle Eigentum der Arbeiterinnen auf die Arbeitsergebnisse, die an die individuellen Arbeiterinnen zu verteilen und individuell zu konsumieren sind. ( Lenin Werke 1, S. 164)

Bild: Bild im »Wende«-Museum, Kalifornien – Wikimedia | Roller Coaster Philosophy

3 thoughts on “Über Lenins Verständnis von Kapitalismus, Imperialismus und Sozialismus

  1. Wie abgedreht ist das denn? Hier werden willkürlich aus dem Zusammenhang gerissene Zitats zusammengestellt, die Lenin als grausamen Diktator erscheinen lassen. Schönen Leninisten
    !
    Es könnten genauso gut auch gegensätzliche Zitate angebracht werden, zum Beispiel, dass die sozialistische Demokratie tausend mal demokratischer ist als die bürgerliche etc.

    Tatsache ist: In der bürgerlichen kapitalistischen Fabrik herrscht die absolute Diktatur und Willkür des Kapitalisten.

    In der sozialistischen Fabrik ist das längst nicht so. Da haben BLG und Arbeiter viel mehr mitzureden, wie das Beispiel der DDR zeigte. Aber diese Mitsprache hat Grenzen. Der technische Mechanismus einer Fabrik und eines Landes muss zentral geleitet werden. Ansonsten würde die Anarchie des Marktes wiederentstehen, die der Sozialismus doch gerade überwunden hat.

    Es wäre jedoch möglich, das über die Ziele des Wirtschaftens in Partei und Räten viel offener diskutiert wird, als es realen Sozialismus der Fall war. Das sollten wir anstreben und nicht irgendwelchen Phantomen eines marktwirtschaftlichen Sozialismus hinterherjagen, der ja wie das Beispiel Jugoslawien zeigt, ins absolute Desaster führt. Im besten Fall entwickelt sich daraus ein ordinärer Kapitalismus einschließlich Dollar‐​Milliardäre wie in China. Wollt ihr das?

  2. Anmerkung:
    Der Krieg in der Ukraine hat es mit sich gebracht, daß der Begriff Imperialismus ständig gebraucht wird. Gegenüber Rußland. Von allen Politikern und auch vielen Linken. Mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Imperialismus! Da ist es verdienstvoll, wenn von Sunnifa dieser Begriff einer gründlichen Untersuchung unterzogen wird, ausgehend von Lenin, der sein Buch »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« betitelte. Sunnifa setzt sich nicht nur mit den Bezügen von Lenin zu Kautsky, Hilferding, Marx, Luxemburg, Bucharin u.a. auseinander sondern wird aktuell in den Folgerungen auf die Gegenwart.
    Es lohnt sich, diese lange und gründliche Analyse zu lesen!
    Einem Satz von Sunnifa ist allerdings zu widersprechen, wenn er/​sie schreibt: „Etwas, das Sismondi prophezeite, trat nicht ein: Eine Verarmung größerer Teile der Bevölkerung in den Industriestaaten“. Das stimmt wohl nicht. auch wenn ein großer Unterschied zwischen der Verarmung in den Industriestaaten und der »Dritten Welt« besteht, ist es durchaus Verarmung, was zB Werksvertragsarbeitern hier millionenfach widerfährt, materiell und kulturell. Die Mittelschicht schmilzt immer mehr ab, das Prekariat wächst.
    Wenn ein Jan Müller in einem Kommentar dazu schreibt: „Wie abgedreht ist das denn? Hier werden willkürlich aus dem Zusammenhang gerissene Zitats zusammengestellt, die Lenin als grausamen Diktator erscheinen lassen“, so fand ich keine „aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate“ und „Lenin als grausamen Diktator“ dargestellt. In diesem Zusammenhang ist Jan Müller die Lektüre von Angelica Balabanoff zu empfehlen: »Lenin: Der Zweck heiligt die Mittel«. Balabanoff ist wohl die Frau (außer natürlich Nadeschda Krupskaja), die Lenin am längsten und besten kannte!
    Erkenntnishemmend ist es allerdings, wenn man an die Lektüre eines Textes in der Weise rangeht, daß man ihn ablehnt, weil man sein Idol verunglimpft sieht.

  3. Ein zu beachtender Faktor scheint mir zu sein, dass die »neoliberale Wende« im Globalen Norden den Trickle‐​Down‐​Effekt der Ausbeutung des Globalen Südens vermindert hat. Also holzstichartig: zu wenig Wertzuflüssse relativ zum kapitalistischen Wirtschaftsumfang –> Krise –> Schwächung des Proletariats und Mittelstands –> Abbau der bedingten Selbständigkeit des Staates /​Stärkung des Großkapitals –> Umverteilung der geringer gewordenen Wertzuflüsse Richtung Großkapital. Insofern liegen auch diejenigen richtig, die auf den »Neoliberalismus« fokussieren, nur, dass sie oft nicht so tief bohren, dass sie den »Neoliberalismus« als Reaktion auf einen sinkenden Wertzufluss deuten könnten – wodurch dann wie bei Lenin das subjektive Giermotiv zur Hauptursache des gegenwärtigen Schlamassels wird.

    Tipp: Lebendige Schilderung des Finanzimperialismus und von Machenschaften der EU durch Patrick Kaczmarczyk (wenn auch sozialdemokratischen Illusionen und dem Klimaquatsch erlegen) bei Jacobin Talks: https://​youtu​.be/​y​g​K​N​8​H​2​s​M​i​4​?​s​i​=​M​8​C​3​x​n​p​p​j​Y​A​q​D​xXB

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