- Eine große Mittelklasse steht in den Politikwissenschaft als Garant für ein stabiles Herrschaftssystem.
- In den letzten Jahren wurden jedoch zunehmend Erosionsprozesse in der Mittelklasse moniert. Zwei aktuelle Arbeiten werfen ein Blick auf die damit einhergehenden Instabilitäten.
- Im Marxismus spielt der Begriff eine untergeordnete Rolle, da die Mittelklassen eher eine Sammelbezeichnung für Kleinbürgertum, Arbeiteraristokratie und höhere Reproduktionsarbeiter darstellen.
- In den Studien wurde jeweils in eine Neue Mittelklasse im aufstrebenden Dienstleistungssektor und eine Alte Mittelklasse in früher privilegierten Industriesektoren unterschieden.
- Mit dieser Unterscheidung lassen sich in Europa die Konflikte um die EU‐Integration und in Marokko die politische Stabilität trotz großer sozialer Probleme beschreiben.
In Deutschland gehört das Bekenntnis zur politischen und gesellschaftlichen Mitte zur institutionellen Folklore. Egal, ob AfD, Grüne oder Linke; alle versuchen gleichermaßen, an eine vorgestellte Mitte zu appellieren und sich als deren eigentlicher Interessenswahrer zu präsentieren. Mal wird dieses Interesse als möglichst geringe Abgabenlast an den Staat, mal als Ausweitung des staatlichen Sektors zum Wohle der Allgemeinheit interpretiert. Wo ein Begriff so verschiedene Schlussfolgerungen zulässt, scheint er wenig mit der politischen Realität zu tun zu haben. Und auch die Medien beklagen geradezu die Erosion der gesellschaftlichen Mitte, die als systemstabilisierend und wohlstandssichernd angesehen wird.
Was es aktuell mit den Mittelklassen und ihrer Veränderung auf sich hat, haben in letzter Zeit mehrere Studien untersucht. An dieser Stelle wollen wir zwei Studien diskutieren, die politische Prozesse entlang der Unterscheidung von neuen und alten Mittelklassen entwickeln; eine aus Europa und eine aus Marokko.
Was ist die Mittelklasse?
Der Begriff der Mittelklassen spielt im Marxismus eine sehr ambivalente Rolle. Da die marxistische Klassenanalyse Klassen nach ihrer Stellung im Produktions‐ und Reproduktionsprozess des Kapitals beziehungsweise allgemeiner einer Gesellschaftsform bestimmt, ist die Aussage, dass eine Klasse eine Mittelstellung besitze; wenig aussagekräftig. Als eine Mittelklasse könnte hier das Kleinbürgertum angesehen werden, dass insofern eine Mittelstellung zwischen den Polen Proletariat und Bourgeoisie besitzt, indem es zwar Produktionsmittel besitzt, aber noch nicht allein von der Ausbeutung beschäftigter Arbeiter leben kann und selbst noch im Produktionsprozess arbeiten muss. Auch könnte man die von Lenin beschriebene Arbeiteraristokratie zu einer Mittelklasse zählen, da sie höher als zu den bloßen Kosten ihrer Reproduktion entlohnt wird und teilweise Funktionen des Kapitals im Arbeitsprozess übernimmt, ohne selbst nicht lohnabhängig zu sein. Drittens kämen sämtliche Berufsgruppen in Frage, die im Dienste des ideellen Gesamtkapitalisten die gesamtgesellschaftliche Reproduktion des Kapitals gewährleisten, also öffentlicher Dienst, Beamte und auch privatisierte Staatsleistungen. Daneben wären auch noch andere Zuordnungen, wie etwa der Kleinbauern et cetera zu den Mittelklassen denkbar.
Ambivalent ist der Begriff der Mittelklasse deshalb, weil die einzelnen zugehörigen Klassen durchaus recht unterschiedliche Positionen im Produktionsprozess besitzen und daher sehr verschiedene und teils widersprüchliche materielle Interessen ausbilden (zum Beispiel wollen unabhängige Handwerker am liebsten keine Steuern zahlen, während Beamte von diesen leben). Auf der anderen Seite haben sich Mittelklassen phänomenologisch als herrschaftsaffirmierend erwiesen. Eine breite Mittelklasse gilt als politischer Stabilitätsfaktor und auch die marxistische Staatsanalyse, wie etwa von Poulantzas kommt hier nicht am Begriff der Mittelklasse vorbei. Hinzu kommt, dass der politische Diskurs durch die Verwendung des Begriffs die Identität einer Mittelklasse, einer Mittelschicht oder des Mittelstands selbst produziert, wodurch er materielle Gewalt wird.
Mit der Heterogenität des Mittelklassenbegriffs hat sich jedoch auch die bürgerliche Wissenschaft äußerst schwer getan. Häufig werden die Mittelklassen relativ als eine Verteilung um das Medieneinkommen bestimmt. Das evoziert jedoch das Problem, dass die Statistik keine absoluten Aussagen über die materielle Lage zulässt. Wird umgekehrt eine absolute Einkommensspanne als definitorisch angelegt, sind auf Grund der unterschiedlichen Kaufkraftparitäten internationale Vergleiche kaum noch möglich. Zugänge über Status, Bildung, Konsumgewohnheiten et cetera haben sich daher als Alternativen angeboten, leiden aber an ihrer subjektiven Bestimmung. Manche Wissenschaftler haben daher gleich das Selbstbild als wesentliches Charakteristikum verwandt, da sie dies für politisch determinierend hielten. Und noch eine andere Richtung hat das Pferd gleich von hinten aufgezäumt und Menschen mit einer herrschaftsaffirmierenden politischen Präferenz zur Mittelklasse erklärt, da das bürgerliche Erkenntnisinteresse ohnehin den Bedingungen politischer Stabilität unter wechselnden Bedingungen des Klassenkampfes galt.
Was es aktuell mit den Mittelklassen und ihrer Veränderung auf sich hat, haben in letzter Zeit mehrere Studien untersucht. An dieser Stelle wollen wir zwei Studien diskutieren, die politische Prozesse entlang der Unterscheidung von Neuen und Alten Mittelklassen entwickeln; eine aus Europa und eine aus Marokko.
Mittelklassen in der EU
Eine Theorie von Iversen und Soskice besagt hier unter anderem, dass sich die momentan abzeichnende politische Polarisierung innerhalb der EU mit einer Spaltung der Mittelklasse erklären ließe. Auf der einen Seite stehe ein gut ausgebildetes Dienstleistungsproletariat, das von ökonomischen und politischen Liberalisierungen profitieren würde. Auf der anderen Seite stünde ein eher gering ausgebildetes traditionelles Industrieproletariat, das in den vergangenen Jahrzehnten eine ungewöhnlich privilegierte gesellschaftliche Stellung genoss und seinen Status durch die Modernisierungsprozesse gefährdet sehe. In vielen europäischen Ländern mache sich dies an der Haltung gegenüber der EU‐Integration fest, die mit Marktöffnungen und Bewegungsfreiheit alte Akkumulationsregime aufgebrochen habe. Beide Gruppen nennen Iversen und Soskice die neue und die alte Mittelklasse. Zwischen beiden befände sich noch die Gruppe der schlecht ausgebildeten Dienstleistungsarbeiter, die zum einen durch von der neuen Mittelklasse geschaffenen Arbeitsplätzen profitiere, durch ihre Vulnerabilität jedoch auch auf die traditionellen sozialen Sicherungssysteme angewiesen sei. Umgekehrt gäbe es insbesondere in südeuropäischen Ländern eine recht distingierte Gruppe gut ausgebildeter Service‐Arbeiter, die zur radikalen Linken tendiert und daher die neoliberale Agenda der EU ablehne.
Die Studie
Der Schönheitsfehler dieser politischen Charakterisierung der Mittelklassen bestand bisher darin, dass sie nicht valide empirisch geprüft wurde. Stefano Ronchi und Joan Miró werteten daher Ergebnisse der Studie »Reconciling Economic and Social Europe: Values, Ideas and Politics« (REScEU) aus den Jahren 2019 und 2020 aus. Die wesentliche Frage war, ob die neue Mittelklasse die EU‐Integration befürworte und die alte sie ablehne. Die interessierenden Mittelklassen filterten sie über die Angaben zur Ausbildung, zum Einkommen, Beschäftigungsart und Wohnort (Stadt/Land) heraus. Dazu zählten sie noch die so genannten Aspirational Workers, die zwar nicht zu den Mittelklassen selbst zählen würden, durch die Erwartung einer besseren Zukunft für die Kinder unter den gegebenen Umständen jedoch ebenso systemstabilisierend wirkten.
Der erste Befund war, dass in allen zehn untersuchten Ländern die wie oben definierten Mittelklassen eine Bevölkerungsmehrheit darstellten.
Im Allgemeinen bestätigten die Ergebnisse die vorausgesagte Theorie. Das Zustimmungsniveau zur europäischen Integration lag in der neuen Mittelklasse statistisch signifikant 10 Prozent über dem der alten Mittelklassen, die Angst vor Arbeitsplatzverlust war 20 Prozent geringer als in der alten Mittelklasse. Des weiteren positionierten sich linke Partizipienten eher für die europäische Integration als rechtsorientierte. Aus den Zahlen lässt sich weiterhin ersehen, dass das marxistisch definierte Kleinbürgertum sich mit Industriearbeitern und schlecht ausgebildeten Arbeitern in ihrem Grad einer moderaten EU‐Skepsis weitestgehend überschneiden.
Aus marxistischer Sicht ist die Unterteilung zwischen alten und neuen Mittelklassen natürlich kritisch zu sehen, da es hier eigentlich um proletarische Gesellschaftsfraktionen geht, in die jedoch Kleinbürger mit hinein gezählt werden. Dennoch sind die Ergebnisse nicht ganz uninteressant. Zum einen ruht die im Wesentlichen sozialdemokratische Linke ganz auf den Schultern der neuen Mittelklassen, mit denen sie die EU‐Euphorie teilen und sogar verstärken. Allerdings wird das Feld der EU‐Kritik vor allen Dingen von der Rechten besetzt, die in Kleinbürgertum, Kleinbourgeoisie, aber eben auch niedrigqualifizierten Industrie‐ und Dienstsleistungsarbeitern einen nicht zu unterschätzenden Resonanzraum haben. Für eine linke Strategie eröffnet dies zwei Möglichkeiten: Entweder versucht die Linke das Feld der EU‐Kritik selbst zu besetzen und somit auch die »alten Mittelklassen« zu gewinnen mit den Opportunitätskosten, einen Teil der neuen Mittelklasse an die liberale und EU‐freundliche konservative Rechte zu verlieren. Oder sie konzentriert sich auf die Interessen der »neuen Mittelklasse« und nutzt aus, dass diese gesellschaftliche Gruppe die numerisch größte ist, deren Größe eine gläserne Decke für eine weitere Rechtsentwicklung darstellt. Der Spagat, den viele linkspopulistische oder linkssozialdemokratische Parteien und Bündnisse, versucht haben; nämlich die EU‐Integration mit einem starken Sozialstaat zu vereinbaren, hat sich im Angesicht des europäischen Rechtsrucks jedenfalls als untauglich erwiesen (auch wenn dieser Misserfolg vielleicht nicht von Vorneherein vorprogrammiert war).
Mittelklassen in Marokko
Wie sieht es aber auf anderen Kontinenten aus? Tatsächlich hat sich beispielsweise in Marokko in den letzten Jahren eine recht fruchtbare Diskussion um die Mittelklasse entwickelt. Treibende Kraft der Diskussion ist die Frage, ob in den kommenden Jahren mit einer steigenden Konsumgüternachfrage gerechnet werden kann und sich somit Investitionen in den nordafrikanischen Markt lohnen. Je breiter die Mittelklasse angenommen wird, desto höher sind auch die Konsumerwartungen. Entsprechend diesem Kalkül wurde die Verlautbarung der obersten Planungsbehörde Marokkos, über die Hälfte der Bevölkerung gehöre der Mittelschicht an, als politisch motiviert interpretiert. Denn zum politökonomischen Kontext scheint diese Statistik nicht zu passen.
Obwohl Marokko als sicheres Reiseland zählt und mit einigen Touristenressorts Geld ins Land bringt, ist der Durchschnittslohn mit rund 300 Euro mit Abstand der geringste aller Maghreb‐Staaten. Seit der Unabhängigkeit ist das Land eine konstitutionelle Monarchie, wobei sich Regierungsstil von scharfer Repression in den 80er Jahren zu einer größeren Reformoffenheit seit den 90er gewandelt hat. So überstand das politische Establishment den Arabischen Frühling weitestgehend unbeschadet, da König Mohamed VI. eher als Adressat der Appelle für Reformen galt anstatt als Feindbild. Auf die friedlichen Proteste 2011 reagierte er mit einigen demokratischen Reformen, die der radikaleren Opposition schnell den Wird aus den Segeln nahmen.
Doch die sozialen Probleme lösten sich dadurch nicht. Die Preise für Wohnung, Wasser oder Medizin sind im Vergleich zum geringen Einkommen exorbitant hoch. Den akademisch gebildeten Schichten fehlt es an weiterführenden Berufsperspektiven, während die wenigen vielversprechenden Posten in Verwaltung und Wirtschaft an die königsnahen Familien gehen. Und insbesondere die regionale Ungleichheit ist immer wieder Zündfunke für Proteste. 2017 etwa entbrannten Proteste in der nordmarokanischen Rif‐Region, die sich als vernachlässigt ansah, während im Süden der Konflikt mit Westsahara noch immer nicht geklärt ist. Dadurch hat sich nach dem Arabischen Frühling eine sehr unruhige politische Lage eingestellt, in der dutzende politische Aktionen tagtäglich stattfinden. Die Linke ist hierbei gespalten. Ein Teil um die Nachfolgepartei der Kommunisten und die Sozialdemokraten ist sogar in die Regierung eingebunden, während immer größere Teile der radikalen Linken jegliche Form institutioneller Partizipation ablehnen. Als andere große Oppositionsgruppe fungieren islamistische Gruppen, welche nicht nur eine größere Autonomie des Klerus gegenüber dem König, sondern sogar die klerikale Herrschaft fordern.
Datenmaterial aus der Planungsbehörde
Die Frage lautet also nun, wie das große soziale Spannungspotential und die äußere politische Stabilität unter dem Fokus der Mittelklassentheorie zu erklären wären. Hierzu haben Fouzia Daoudim und Fatima Bakass vom National Institute of Statistics and Applied Economics in Rabat eine ausführliche Analyse vorgelegt. Die Datenlage ist dabei sehr günstig, da die Planungsbehörde selbst für das notwendige Material sorgt. So konnten die Autoren die National Household Consumption and Expenditure Survey aus dem Jahre 2014 nutzen. Aus dieser ging hervor, dass sich 55 Prozent subjektiv selbst zur Mittelklasse zählen, während 53 Prozent ein Einkommen in der Spanne zwischen 75 und 250 Prozent des Medianeinkommens generieren können. Angesichts der oben beschriebenen sozioökonomischen Situation der marokkanischen Bevölkerung scheint eine so grobe Einordnung jedoch kaum aussagekräftig, weshalb die Autoren innerhalb der erhobenen Einkommensgruppe eine nähere multinominale Analyse folgen ließen.
Dabei zeigte sich, dass die meisten Einkommen an der unteren Kante der Mittelklassendefinition häufen und nur eine sehr dünne finanzielle Oberschicht existiert. Schlüsselt man die Mittelklasse dann allein nach ihrem Einkommen auf, dann zeigt sich, dass die untere Mittelklasse großenteils nicht einmal irgendeine formelle Schulbildung besitzt und als Bauern oder Handarbeiter im informellen Sektor beschäftigt ist, viele auch in selbstständiger Arbeit. Die obere Mittelklasse hingegen ist überdurchschnittlich gut ausgebildet und vor allen Dingen im formellen und staatlichen Sektor tätig. Die mittlere Mittelklasse stellt dazwischen nur eine Verlaufsform dar. Da auch das noch wenig aussagekräftig ist, haben die Autoren eine Clusteranalyse angefertigt, die häufige gemeinsame Verteilungen von Attributen zu Gruppen zusammenfasst. Anhand dieser Clusteranalyse unterschieden sie nun drei Fraktionen der Mittelklasse.
Die erste Klasse ist die neue Mittelklasse, die eher jung, gut ausgebildet und affin gegenüber modernen Lebensstandards ist. Diese Klasse ist weitestgehend formell angestellt und verdient überdurchschnittlich gut. Die zweite Gruppe ist die marginalisierte Mittelklasse. Diese Gruppe entspricht in etwa der alten Mittelklasse der vorangegangenen Untersuchung, ist aber bereits abgestiegen. Es sind die kleinen Händler, Bauern und Fabrikarbeiter, für die es gegenüber den großen Ketten und den modernen Industriearbeitsplätzen auf Grund der fehlenden Ausbildung und Effektivität kaum noch Verwendung gibt. Sie entstammen vor allen Dingen den ländlichen Regionen. Eine dritte Gruppe ist die inaktive Mittelklasse. Hierzu zählen Pensionäre aus dem formellen oder staatlichen Sektor, sowie Frauen privilegierter Schichten beziehungsweise Witwen. Obwohl sie kaum ausgebildet sind, erhalten sie über Transferleistungen ein auskömmliches Haushaltseinkommen und sind somit an die Institutionen gebunden.
Diskussion
Die Clusteranalyse ermöglicht nun eine klassenanalytische Interpretation der Gleichzeitigkeit von politischer Stabilität und sozialer Unruhe. Entgegen vielen Darstellungen aus den westlichen Medien ist die neue Mittelklasse gar nicht so marginalisiert, sondern besitzt einen recht hohen Status wie soziale Sicherheit im formellen und staatlichen Sektor. Natürlich könnten sich hier viele Menschen bessere Zukunftsaussichten vorstellen und die sozialen Probleme berühren in der Regel alle. Aber sie sind eben nicht bereit, für einen revolutionären Umschwung jeden Preis zu zahlen. Dieses Klientel wird insbesondere von den Linksparteien USFP und PPS in Parlament und Regierung vertreten, wodurch sie die Institutionen immerhin anerkennt, auch wenn die neue Mittelklasse prinzipiell mehr Demokratie fordert. Die neue Mittelklasse ist es aber auch, die über die sozialen Medien verstärkend auf lokale Proteste wirken kann, was sie auf Grund fehlenden Interesses an einer revolutionären Ausbreitung nur punktuell tut. Diese Proteste selbst wiederum werden von den marginalisierten Schichten der Mittelklasse und den prekarisierten Klassen geführt, können aber auf Grund der fehlenden Vernetzung und Bildung das Ausmaß lokaler Aktionen nicht überschreiten. Insbesondere die Informalität der Beschäftigungsverhältnisse beziehungsweise die Selbstständigkeit verhindern, dass die Kämpfe einen klassenspezifischen Charakter bekommen, wodurch ihnen in der Regel nicht viel bleibt, trotz der prekären Situation nur an die herrschenden Kräfte zu appellieren. Der radikalere Teile spaltet sich dann auf die revolutionär‐demokratische Linke wie auf die islamistischen Kräfte auf, von denen letztere durch praktische Hilfe wie Armenspeisung Anschlussfähigkeit gewinnen.
Als weiterer Puffer für das Königshaus kommt zuletzt die inaktive Mittelklasse hinzu, die praktisch ihr gesamtes Auskommen den staatlichen Institutionen verdankt. Sie sind durch traditionelle Verwurzelung und gleiche Bildungserfahrungen kulturell an die unteren Klassen kommunikationsfähig und wirken dort, wo es die neue Mittelklasse nicht tut: in den ländlichen Regionen. Alles zusammen führt zu der gesellschaftlichen Pattsituation, die es dem Königshaus ermöglicht trotz der massiven sozialen Ungleichheit auch ohne sehr repressive Maßnahmen an der Macht zu bleiben.
Zusammenfassung
Die Analysen der Mittelklassenformationen in Europa und Marokko zeigen drei Dinge. Während in Europa sowohl die so genannte alte als auch neue Mittelklasse fast vollständig dem Proletariat angehören, ist in Marokko die Selbstständigkeit und Informalität bei großer Armut ein wesentlich akuteres Phänomen. Dies ist bei der Übertragung von Klassenkonzepten zu berücksichtigen. Zweitens scheint zumindest auf der phänomenologischen Ebene die Divergenz von alter und neuer Mittelklasse politisch erklärungsmächtig zu sein. Für Marxisten ist hier die Rückübersetzung auf die Ebene gesellschaftlicher Beziehungen noch zu leisten. Und drittens zeigt sich auch, dass eine Schichtung der Bevölkerung entlang der Einkommensgrenzen für die politische Analyse kaum mehr fruchtbar ist. Insofern solche Theorien je Gültigkeit besaßen, ist die einfache Gleichsetzung von hohen Einkommen und politischem Wohlwollen und geringen Einkommen und einem Hang zur Aufständigkeit auf Grund der heterogenen Vermittlungsprozesse als nicht aufrecht zu erhalten. Die Mittelklasse scheint daher wie eine Fata Morgana – irgendwie greifbar, doch bei näherem Hinsehen löst sie sich in Luft auf und entpuppt sich als ein Mosaik widersprüchlicher Interessen und Identitäten.
Literatur
Daoudim, F. & Bakass, F. (2024): Anatomy of the Moroccan Middle Class: Characterization and Determinants. In: Forum for Social Economics. DOI: 10.1080/07360932.2024.2342976.
Ronchi, S. & Miró, J. (2024): The middle‐class base of European integration? New class divides and attitudes towards market integration in ten EU countries. In: European Politics and Society. Online First. DOI: 10.1080/23745118.2024.2341320.
Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz, im Gegensatz zum Original wurde auf gendern nach Rücksprache mit den Autoren verzichtet, Abkürzungen ausgeschrieben, Fehler stillschweigend berichtigt
Bild: Marokko (Mike Peel CC-BY-SA‑4.0)
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