Innerhalb kürzester Zeit ist mit Niger nun eine weitere vom politischen Westen gestützte Regierung in der Sahelzone gefallen. Jedes Mal war man von der Entwicklung überrascht worden. Dabei haben westliche Militärs und Politiker doch nach eigener Darstellung eng mit den örtlichen Behörden und Regierungen zusammengearbeitet. Was sagt das aus über die Missionen des Westens?
Wer hat das Sagen?
Was am Mittwoch noch in westlichen Medien als Putschversuch dargestellt worden war, hat sich inzwischen zu einem weiteren Machtwechsel in der Sahelzone entwickelt. Angeführt wurde der Umsturz vom Chef der Präsidentengarde, General Omar Tchiani, der schon während der Amtszeit des vorherigen Präsidenten, Mahamadou Isoufou, diese Funktion innehatte. Es handelt sich also um jemanden, der seit Jahren im Zentrum der politischen Macht des Landes steht.
Dementsprechend dürfte er auch mit den Entscheidungen der zivilen, vom Westen gestützten Regierung unter Präsident Mohamed Bazoum vertraut gewesen sein, um deren Auswirkungen auf die Lage im Land beurteilen zu können. Das heißt aber auch, dass er alle Machtkämpfe, wenn es denn solche gegeben haben sollte, überdauert hat und nicht wechselnden Interessen und Einflüssen zum Opfer gefallen ist. Er scheint also über ein sicheres Einschätzungsvermögen bezüglich der Stimmung im Land zu verfügen und zu wissen, was er tut und vor allem, was getan werden muss im Interesse des Landes.
Dieses Interesse wurde bisher von den Putschisten noch nicht klar dargestellt, wird aber in ihrer Selbstdarstellung deutlicher. Sie bezeichnen sich selbst als »antirepublikanische Bewegung« (1), was nahe legt, dass sie im Widerspruch zur westlich orientierten Regierungsführung des bisherigen Präsidenten stehen. Jedenfalls hat er als eine der ersten Maßnahmen die Exporte von Gold und Uran an Frankreich gestoppt, was als im wirtschaftlichen Interesse des Landes angesehen wird.
Es stellt sich nun die Frage, ob diese antirepublikanische Bewegung von der Bevölkerung mitgetragen wird oder ob es maßgebliche Kräfte im Land gibt, die Widerstand leisten. Bisher aber ist anhand der westlichen Berichterstattung nicht zu erkennen, dass es solchen Widerstand gibt oder sich aufbaut – zumindest nicht im Land selbst. Dagegen aber steht eine Erklärung des nigrischen Präsidialamts, wonach die Putschisten »vergeblich versucht [hätten], die nationalen Streitkräfte und die Nationalgarde zur Unterstützung zu bewegen«. (2)
Wer gegen wen?
Nur wenige Stunden später hatte sich diese Erklärung als Fehleinschätzung herausgestellt. Denn inzwischen haben sich weitgehend alle Machtapparate Tchiani angeschlossen. Am 28.Juli erklärte ein Sprecher der Putschisten, »die Verteidigungs‐ und Sicherheitskräfte hätten beschlossen, das Regime zu beenden«. (3) Das zeigt ein geschlossene Ablehnung gegenüber der bisherigen Politik. Damit war die abgesetzte Regierung die einzige Kraft im Land selbst, auf die der politische Westen zur Bereinigung der Situation in seinem Interesse hätte setzen können.
Zwar rief der Außenminister der abgesetzten Regierung »alle Demokraten und Patrioten dazu auf, dieses gefährliche Abenteuer zum Scheitern zu bringen«. (4) Aber sein Appell blieb ohne Widerhall in der nigrischen Gesellschaft und damit ohne Folgen für die Putschisten. Nun scheinen die Hoffnungen des Westens auf den internationalen und regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union (AU) und der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) zu ruhen.
Letztere hatte mit der Anwendung von Gewalt gedroht, würden die rechtsstaatlichen Verhältnisse in Niger nicht binnen einer Wochen wieder hergestellt werden. Aber offensichtlich steht das Land nicht alleine da in seiner Ablehnung gegenüber dem westlichen Engagement in der Sahel‐Zone. Auf die Androhung von Gewalt gegenüber Niger durch die ECOWAS hin solidarisierten sich Burkina Faso und Mali mit einer deutlichen Warnung: »Eine militärische Intervention der ECOWAS‐Staaten in Niger käme einer Kriegserklärung gleich.« (5)
Diese Reaktion der beiden Staaten scheint Wirkung gezeigt zu haben, denn in einer späteren Erklärung hieß es nur noch: »Die Soldaten hätten 15 Tage Zeit, um in die Kasernen zurückzukehren und die verfassungsmäßige Ordnung im Land wiederherzustellen«(6). Vermutlich wollen auch die restlichen ECOWAS‐Staaten keinen weiteren militärischen Konflikt in einer Region riskieren, die ohnehin von vielen ethnischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen gebeutelt ist.
Mehr als ein weiterer Putsch
Es scheint in diesem Konflikt um mehr zu gehen als nur um einen Umsturz, wenn sich auf Grund dessen zwei verschiedene Lager herausbilden, denen mehrere Staaten angeschlossen sind. Sowohl in Mali als auch in Burkina Faso waren die zivilen Regierungen in den letzten beiden Jahren durch Militärs ersetzt worden. Auch diesen Ländern hatte die westafrikanische Staatengemeinschaft mit Sanktionen gedroht und teilweise auch umgesetzt wie das Einfrieren der Finanzmittel Malis bei der ECOWAS‐Zentralbank.
Jedoch hatte es darüber hinaus bei allen Umstürzen seit 2020 in der Sahelzone nie Gewaltandrohungen gegeben – nur jetzt gegenüber Niger. Es scheint also mittlerweile ein Punkt erreicht zu sein, wo die Situation anfängt zu kippen und eine bedrohliche Entwicklung befürchtet wird. Denn nicht nur die Sicherheitslage, auch die wirtschaftliche in den Staaten der Region macht das Leben der Menschen immer schwieriger und erhöht den innenpolitischen Druck.
Bisher hatte nur das westliche Modell der Wirtschaftsentwicklung und Aufstandsbekämpfung Anwendung gefunden – unterstützt von den Vereinten Nationen. Aber die Situation der Staaten und Menschen wurden trotz westlichen Engagements nicht besser. Die Aufstandsbekämpfung kostete mehr Opfer in der Zivilbevölkerung, als die Medienkonsumenten im politischen Westen erfuhren. Wut und Verzweiflung in den Sahel‐Staaten wuchsen, zumal auch besonders gegenüber den Franzosen noch so manche Rechnung aus der Kolonialzeit offen war.
Dass sich die Putschisten in Niger als eine antirepublikanische Bewegung bezeichnen, kann auch verstanden werden als Schlusspunkt für das westliche Demokratie‐Experiment. Es kann nicht übersehen werden, dass gerade in der Sahelzone die Zahl der Umstürze besonders stark zugenommen hatte – trotz westlicher Beihilfe.
Dass in den meisten dieser Staaten inzwischen das Militär die Macht übernommen hat, kann als Eingeständnis verstanden werden, dass der westliche Weg in solchen Staaten nicht zum Erfolg in der Form von sozialem Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand geführt hat. Immerhin hatte man es Jahre lang nach den Vorgaben des Westens versucht, aber die Situation ist trotzdem nicht besser geworden.
Dass nun die ECOWAS mit militärischer Gewalt gedroht hatte, könnte ihre Erklärung finden darin, dass man ähnliche Entwicklungen im eigenen Herrschaftsbereich befürchtet. Angesicht der mangelhaften wirtschaftlichen Entwicklung und der sich daraus ergebenden politischen Instabilität könnte sich das eigene Militär durch das Vorbild von Niger, Mali und anderen veranlasst sehen, selbst das Schicksal ihrer Länder in die Hand zu nehmen.
Als nun Niger, Mali und Burkina Faso drohten, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, zog die ECOWAS den Schwanz ein und begab sich auf den Verhandlungsweg. Wer weiß, ob das eigene Militär neben der Bekämpfung der inneren Konflikte dazu bereit gewesen wäre, auch noch einen Krieg außerhalb des eigenen Territoriums zu führen. Vielleicht hätte gerade das der Anlass sein können, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen.
Schon wieder gescheitert
Seit 2020 haben ausgerechnet in der Sahelzone sechs Militärputsche stattgefunden. Damit waren nicht nur vom Westen gestützte Regierungen beseitigt, sondern auch westliche Demokratisierungsbemühungen zunichte gemacht worden.
2017 hatten Deutschland, Frankreich und die EU die »Sahel‐Allianz« mit den fünf Sahel‐Ländern Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad geschlossen, die mit großen Erwartungen verbunden waren. Die Region sollte befriedet, die bürgerkriegsähnlichen Zustände beendet, eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung eingeleitet werden. All diese Erwartungen der betroffenen Länder, vielleicht auch Versprechungen der westlichen haben sich nicht erfüllt.
Es kam ganz anders. »Nach Afghanistan und Mali fällt damit innerhalb kurzer Zeit das dritte Land, in das Berlin massiv Ressourcen investiert hat, um Sicherheit, Stabilität und Demokratie zu fördern.« (7) Dieser Misserfolg betrifft aber nicht nur Deutschland sondern den gesamten politischen Westen mit seinen Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung, von der Überzeugungskraft seiner Werte und von der eigenen Problemlösungskompetenz.
Seine Politik ist gerade dort gescheitert, wo ihm alle Türen offen standen, wo seine Angebote mit offenen Armen angenommen worden waren, wo er sich gerade nicht mit Waffengewalt hatte Zutritt verschaffen müssen. Deutlicher können das Versagen westlicher Politik und die Irrtümer seines Denkens nicht offenbart werden, als gerade dort zu scheitern, wo es größtmögliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Unterstützung gab.
Viele jener Militärs, die den Zivilisten in den vergangenen Jahren die Macht aus den Händen genommen haben, waren im Westen ausgebildet worden. Auch jene, die nicht diesen Entwicklungsweg hinter sich hatten, haben lange Zeit mit Militärs und Politikern des politischen Westens zusammengearbeitet, um ihre Länder zu beruhigen und zu entwickeln. Dass diese nun andere Wege gehen und sich in Russland und China andere Partner suchen, ist nicht Ausdruck von Voreingenommenheit oder Feindseligkeit sondern Ergebnis einer Entwicklung, die von Misserfolgen und Inkompetenz geprägt ist.
Nicht nur in der Ostukraine lösen sich westliche Vorstellungen über die Überlegenheit der eigenen Werte, der eigenen Wirtschaftskraft und der eigenen Militärmacht in Luft auf. Noch immer glaubt man sich als Demokraten all jenen überlegen, die man selbst als Autokraten bezeichnet. Dabei scheint man die eigenen Misserfolge vollkommen auszublenden, anstatt sich darüber Rechenschaft abzulegen im eigenen Interesse.
Man will nicht merken oder wahrhaben, dass das eigene Weltbild und Selbstbild nicht mehr mit den Realitäten und vor allem mit den Entwicklungen in der Welt übereinstimmen. Das hatte sich bereits im Krieg gegen den Terror gezeigt, der keines seiner Ziele erreicht hatte, wenn man denn überhaupt klare Vorstellungen von seinen Zielen hatte.
Afghanistan, der Krieg in der Ukraine mit der völligen Fehleinschätzung der russischen Kräfte sowie die Entwicklung in der Sahel‐Zone lassen deutlich erkennen: Der politische Westen ist Opfer seiner eigenen Propaganda und Fehleinschätzungen geworden. Er verfügt nicht über die militärische und wirtschaftliche Kraft, die er zu haben glaubt, und noch weniger über die Überzeugungskraft seiner Werte.
Verweise
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.7.2023: Putschversuch in Niger
(2) ebenda
(3) FAZ 28.7.2023: Das Militär übernimmt
(4) ebenda
(6) FAZ 31.7.2023: Niger steuert auf militärische Konfrontation zu
(7) FAZ 28.7.23: Ausgeliefert in Niger
Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse
Bild: Eine Familie in Filingué, Niger, Departement Filingué, Region Tillabéri (wikimedia commons)