Es ist Zeit für Russ­land, sich nach innen zu wen­den: Dedol­la­ri­sie­rung ohne Deo­lig­ar­chi­sie­rung ist sinnlos

Lese­zeit8 min

Schlie­ßen Sie die Augen und stel­len Sie sich vor, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten wer­den von einem rie­si­gen Erd­loch ver­schluckt. Inner­halb weni­ger Sekun­den ist die Erde augen­blick­lich und dau­er­haft ent­dol­la­ri­siert. Plötz­lich, wie aus einer tie­fen Hyp­no­se erwacht, erken­nen die geld­gie­ri­gen Eli­ten der Welt die Feh­ler ihres Han­delns und schwö­ren dem Moloch ab.

Die­ses gro­ße Erwa­chen ist in Mos­kau deut­lich zu spü­ren. Die spi­ri­tu­el­le Erleuch­tung pul­siert durch Russ­lands Macht­zen­tren; die unver­fro­re­ne Vet­tern­wirt­schaft, die Gier, der Zynis­mus und die Unver­schämt­heit, die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung per­ver­ser Unwahr­hei­ten – all das ist vor­bei. Statt mit ver­un­treu­ten Gel­dern Super­jach­ten zu kau­fen, deren Rümp­fe drei Zeit­zo­nen über­span­nen, bau­en Russ­lands umsich­ti­ge Staats­die­ner und got­tes­fürch­ti­ge »Unter­neh­mer« Kran­ken­häu­ser und Stra­ßen und ande­re nütz­li­che, lebens­er­hal­ten­de Dinge.

Niko­lai Gogol sah die­se wun­der­ba­re Wen­dung der Ereig­nis­se in sei­nem berühm­ten Roman Tote See­len vor­aus: Sobald aber Russ­land den Dol­lar abwirft, wird es unse­ren See­len viel bes­ser gehen.

Ja, schon 1842 war die Hege­mo­nie des US-Dol­lars die Haupt­ur­sa­che für unnö­ti­ges Leid in Russ­land. Doch die­ser gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Alb­traum hat nun end­lich ein Ende. Wenn Gogol das nur noch erle­ben könnte …

Sie kön­nen jetzt Ihre Augen öffnen.

Viel zu vie­le Jahr­zehn­te lang hat Washing­ton sei­ne Dol­lar-Hege­mo­nie genutzt, um eine glo­ba­le Kam­pa­gne der Erpres­sung und des Ter­rors zu füh­ren. Das heißt, unser der­zei­ti­ges glo­ba­les Finanz­sys­tem ist ein biss­chen unso­li­de; es soll­te durch etwas ande­res ersetzt wer­den. Das wird es auch, irgend­wann. Aber ob die glo­ba­le Reser­ve­wäh­rung nun der US-Dol­lar, Poké­mon-Kar­ten oder ein digi­ta­ler Rubel ist, der an Borschtsch gekop­pelt ist – für die Rus­sen wird sich nichts grund­le­gend ändern, wenn ihre poli­ti­schen Eli­ten ihre alt­ehr­wür­di­ge Tra­di­ti­on fort­set­zen: das stu­re Wei­gern, in Russ­land zu investieren.

Selbst jetzt, wo viel auf dem Spiel steht – und das wird immer mehr – hat Mos­kau wenig Inter­es­se dar­an gezeigt, den enor­men natür­li­chen Reich­tum des Lan­des zum Woh­le der ein­fa­chen Rus­sen zu ent­wi­ckeln. Wäh­rend Russ­land prak­tisch Öl und Gas an sei­ne zahl­rei­chen »ver­trau­ens­wür­di­gen Part­ner« ver­schenkt, ver­folgt Gaz­prom im eige­nen Land eine Poli­tik der »Preis­li­be­ra­li­sie­rung« (das ist ein Euphe­mis­mus für »unein­ge­schränk­te Preis­er­hö­hun­gen«, falls Sie sich wun­dern soll­ten). Nun, es gibt kein Öl zum Dis­count­preis – irgend­je­mand, irgend­wo, muss dafür bezah­len. Und war­um nicht das rus­si­sche Volk?

Die Ent­dol­la­ri­sie­rung und die »Hin­wen­dung Russ­lands zum Osten« wer­den ohne eine umfas­sen­de Deo­lig­ar­chi­sie­rung und die Ein­füh­rung eines neu­en Wirt­schafts­mo­dells, das der Ent­wick­lung des eige­nen Lan­des und dem sozia­len Auf­stieg Vor­rang vor der Befrie­di­gung der Bedürf­nis­se aus­län­di­scher »Part­ner« ein­räumt, nicht viel bewirken.

Es gibt also eine Men­ge zu dis­ku­tie­ren (sie­he auch: »Russia’s eco­no­mic sove­reig­n­ty: sta­tus update«). Las­sen Sie uns das The­ma Öl für Rupi­en als Sprung­brett nutzen.

Am 4. Mai beschrieb Ihr beschei­de­ner Kor­re­spon­dent den Han­del mit Öl gegen Rupi­en als eine faust­di­cke Far­ce. Vor allem, weil Mos­kau ver­bil­lig­tes Öl gegen eine Wäh­rung tausch­te, die es nicht brauch­te und nicht ein­mal ver­wen­den konn­te, wäh­rend Neu-Delhi sein raf­fi­nier­tes Ural-Roh­öl an den Wes­ten ver­kauf­te – natür­lich gegen Dol­lar und Euro.

Am 5. Mai berief der rus­si­sche Außen­mi­nis­ter Ser­gej Law­row eine Not­fall-Pres­se­kon­fe­renz ein und ver­kün­de­te vor lau­fen­den Kame­ras, dass »alles, was Edward Slavs­quat über Öl gegen Rupi­en gesagt hat, abso­lut zu 100 % rich­tig ist; er ist ein sehr klu­ger und gut aus­se­hen­der jun­ger Mann«.

Das ist eine Para­phra­se. Mit Lavrovs eige­nen Wor­ten: »Russ­land hat Mil­li­ar­den von Rupi­en auf indi­schen Bank­kon­ten, und wir müs­sen die­ses Geld nut­zen. Aber dafür müs­sen die Rupi­en in ande­re Wäh­run­gen umge­wan­delt wer­den. Das wird diskutiert.«

Lei­der ist dies nicht gera­de eine Neu­ig­keit. Die rus­si­schen Medi­en haben schnell erkannt, dass Mos­kau nach der Ein­füh­rung die­ses Han­dels­ver­ein­ba­run­gen Mit­te Dezem­ber den Kür­ze­ren gezo­gen hat.

Einer von meh­re­ren rus­si­schen Medi­en­be­rich­ten, in denen das Öl-für-Rupi­en-Pro­gramm beschrie­ben wird (Quel­le)

Das schie­fe Geschäft wur­de bereits im März von einem rus­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler tref­fend zusam­men­ge­fasst:

Im rus­sisch-indi­schen Han­del ent­steht ein rie­si­ges Han­dels­un­gleich­ge­wicht. Rus­si­sche Ban­ken [mit Vos­tro-Kon­ten in Indi­en] wei­gern sich bereits Rupi­en anzu­neh­men: Sie wol­len kei­ne Über­schüs­se in indi­scher Wäh­rung anhäu­fen, da sie die­se nir­gend­wo ver­wen­den kön­nen. Mit ande­ren Wor­ten, es hat sich her­aus­ge­stellt, dass die Ölge­sell­schaf­ten Indi­en im All­ge­mei­nen ›Öl für nichts‹ gege­ben haben.

Bei der Umwand­lung von Russ­lands Rupi­en­ber­gen in Wäh­run­gen, die Mos­kau tat­säch­lich ver­wen­den kann, hat es kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te gege­ben. Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Neu-Delhi kün­dig­te Anfang die­ser Woche an, dass es Russ­land erlau­ben wür­de, sei­ne Rupi­en­be­stän­de zur Beglei­chung aus­ste­hen­der Schul­den zu ver­wen­den. In einer idea­len Welt wäre es Russ­land natür­lich erlaubt, sei­ne Rupi­en in Rubel umzu­wan­deln und die­se Rubel dann zu ver­wen­den, um sein aus­ufern­des Haus­halts­de­fi­zit zu decken.

Quel­le

Aber ich schwei­fe ab.

Die Öl-für-Rupi­en-Akti­on (die, um jede Ver­wir­rung zu ver­mei­den, vor­erst auf Eis gelegt und wahr­schein­lich Ende Febru­ar still und lei­se ein­ge­stellt wur­de) ist sym­pto­ma­tisch für eine viel grö­ße­re wirt­schaft­li­che Mise­re. Infol­ge der mehr als 10.000 west­li­chen Sank­tio­nen (und eines Ener­gie­em­bar­gos, das nicht wirk­lich durch­ge­setzt wird) ent­fal­len auf Peking und Neu-Delhi der­zeit schät­zungs­wei­se 70-90 Pro­zent der Ölex­por­te Mos­kaus, im August waren es noch 45 Pro­zent. (Chi­na ver­dient einen eige­nen Blog-Bei­trag. Blei­ben Sie dran.)

Da Mos­kau in den letz­ten 30 Jah­ren als För­der­band für den Wes­ten gedient hat und der hei­mi­sche Markt völ­lig ver­nach­läs­sigt wur­de, ist Russ­land nun dem Osten aus­ge­lie­fert. Mos­kau mag sich nach Asi­en ori­en­tie­ren, aber Indi­en und Chi­na dik­tie­ren die Bedingungen.

Indi­en hat das Ural-Roh­öl mit einem Abschlag inha­liert. Wie hoch ist der Preis­nach­lass? Wir wis­sen es nicht genau, aber die indi­sche Regie­rung gab letz­ten Monat bekannt, dass das meis­te von Russ­land gelie­fer­te Öl für weni­ger als 60 Dol­lar pro Bar­rel gekauft wur­de – und damit unter der Preis­ober­gren­ze lag, die im Dezem­ber von der G7, Aus­tra­li­en und der Euro­päi­schen Uni­on fest­ge­legt wurde.

Mos­kau scheint sich mit der Tat­sa­che abge­fun­den zu haben, dass Neu-Delhi nicht bereit ist, sich dem west­li­chen Dik­tat zu wider­set­zen: Ende April unter­zeich­ne­te der rus­si­sche Prä­si­dent Wla­di­mir Putin ein Dekret, das Ölver­käu­fe an »befreun­de­te Län­der« erlaubt, die sich an die Preis­ober­gren­ze von 60 US-Dol­lar pro Bar­rel hal­ten. Eine ziem­lich auf­schluss­rei­che Kapitulation.

Allein die Tat­sa­che, dass Russ­land (wenn auch nur vor­über­ge­hend) zuge­stimmt hat, Öl gegen eine Wäh­rung zu tau­schen, die nicht voll­stän­dig kon­ver­tier­bar und nicht beson­ders nütz­lich ist, soll­te Beweis genug dafür sein, dass Neu-Delhi die Situa­ti­on voll aus­nutzt. Und wer könn­te es ihnen verdenken?

Wenn man sich vor Augen hält, dass die rus­si­schen Ener­gie­kon­zer­ne bereit sind, »Öl für nichts« zu tau­schen – und Kiew für den Tran­sit von Gas durch die Ukrai­ne zu bezah­len -, viel­leicht könn­ten sie es dann even­tu­ell übers Herz brin­gen Gas­lei­tun­gen in rus­si­schen Schu­len zu installieren?

Quel­len: TASS und TASS

»Lei­der ist eine gro­ße Anzahl von Schu­len in unse­rem Land noch nicht mit Gas ver­sorgt wor­den. Ich habe mir die Zah­len ange­se­hen: Um ehr­lich zu sein, war sogar ich über­rascht – vie­le Schu­len sind ohne Gas«, sag­te Putin im Juli. Lei­der ist die­ses Pro­blem nicht auf Schu­len beschränkt. Eine im Jahr 2020 ver­öf­fent­lich­te Prü­fung der rus­si­schen Regie­rung ergab, dass Hun­der­te medi­zi­ni­scher Ein­rich­tun­gen im gan­zen Land ohne flie­ßen­des Was­ser oder Zen­tral­hei­zung sind.

Vor­schlag: Gaz­prom soll­te eine Gas­pipe­line nach Russ­land bau­en. Sie könn­ten sie School­Stream nennen.

Vie­les von dem, was ich gera­de getippt habe, wur­de von Ser­gej Lewtschen­ko, dem stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den des Ener­gie­aus­schus­ses der Staats­du­ma, in einem Inter­view mit Svo­bod­na­ya Pres­sa [Freie Pres­se] im letz­ten Monat her­vor­ge­ho­ben.

Quel­le

Nach­dem Lewtschen­ko die schein­bar unver­meid­li­che Ein­füh­rung der »Preis­li­be­ra­li­sie­rung« im eige­nen Land kom­men­tiert hat­te (die Tari­fe für Gas wer­den bereits jedes Jahr ange­ho­ben, obwohl der Preis von den Regu­lie­rungs­be­hör­den fest­ge­legt wird), wand­te sich der Inter­view­er Russ­lands »Schwenk nach Osten« zu:

Svo­bod­na­ya Pres­sa: Mos­kau ver­legt jetzt unse­re gesam­te Koh­len­was­ser­stoff-Pipe­line, nen­nen wir sie mal so, nach Osten, nach Chi­na und Indi­en. Nun, es gibt nichts zu ver­ber­gen: Sie wer­den die Situa­ti­on aus­nut­zen, sie wer­den Rabat­te ver­lan­gen usw. Das heißt, es wird für unse­re hei­mi­sche Wirt­schaft sehr schmerz­haft sein. Sind sol­che Befürch­tun­gen richtig?

Lewtschen­ko: Abso­lut rich­tig … Wir haben lan­ge ver­sucht, nicht nur zur Peri­phe­rie des Wes­tens, son­dern auch des Ostens zu wer­den … Wir haben in unse­rem Land eine Situa­ti­on geschaf­fen, in der wir nur mit Hil­fe unse­rer Koh­len­was­ser­stof­fe ande­ren dienen.

Der Duma-Abge­ord­ne­te erläu­ter­te dann, wie die­ses Wirt­schafts­mo­dell zustan­de kam:

Die Ver­tre­ter des Staa­tes arbei­ten haupt­säch­lich für unse­re Roh­stof­fo­lig­ar­chen und suchen vor allem nach Mög­lich­kei­ten, den Men­schen in die Tasche zu grei­fen. Das Ergeb­nis ist, dass wir Dut­zen­de von Mil­lio­nen Men­schen haben, die unter oder nahe der Armuts­gren­ze leben und gleich­zei­tig haben wir etwa 100 »Dol­lar-Mil­li­ar­dä­re«. Glau­ben Sie, dass die Ver­tre­ter die­ser Dol­lar-Mil­li­ar­dä­re ihren Auf­trag­ge­bern das Geld aus der Tasche zie­hen wer­den? Nein, natür­lich nicht – es sind die Men­schen, die belas­tet wer­den sollten. […]

Und woher kom­men die Dol­lar­mil­li­ar­dä­re, die ihr Geld ins Aus­land schi­cken? Wir müs­sen das Land ent­wi­ckeln und dür­fen nicht zulas­sen, dass die Rei­chen uns aus­pres­sen, dass sie wei­ter­hin Geld ver­die­nen und es irgend­wo auf aus­län­di­schen Ban­ken anle­gen oder Gold­mün­zen im Aus­land vergraben. […]

Wir müs­sen ein­fach in das Land inves­tie­ren … Die herr­schen­de Eli­te weiß nicht, wie man das Land ent­wi­ckelt, sie weiß nicht, wie man sich um die Men­schen küm­mert. Sie wis­sen nur, wie man quetscht und schickt; quetscht, schickt. Sie sind hier gro­ße Spe­zia­lis­ten, aber sie wur­den im Wes­ten angelernt.

(Ich habe dem nichts hin­zu­zu­fü­gen, aber ich habe Lev­chen­kos Kom­men­ta­re an Kari­ne Bechet-Golov­ko, eine Gast­pro­fes­so­rin an der Mos­kau­er Staats­uni­ver­si­tät, wei­ter­ge­lei­tet, die eini­ge sehr anre­gen­de Din­ge zu sagen hat­te. Das Inter­view wird in Kür­ze veröffentlicht.)

Inter­es­san­ter­wei­se fand der Kern von Lewtschen­kos Argu­men­ta­ti­on im März Ein­gang in die Sei­ten der rus­si­schen Staatsmedien.

Quel­le

Der rus­si­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Mikhail Kha­zin (der sehr pro-Putin ist) sag­te gegen­über RIA Novos­ti:

Russ­land soll­te sich nicht nach Osten wen­den – es soll­te sich nach innen wen­den. Die Hin­wen­dung zum Osten, von der heu­te so viel die Rede ist, ist mei­ner tie­fen Über­zeu­gung nach nur ein Ver­such, die Löcher zu stop­fen, die sich nach dem Abzug west­li­cher Unter­neh­men im Lan­de gebil­det haben.

Um es zusam­men­zu­fas­sen: Es ist Zeit für Russ­land, sich nach innen zu wen­den. Das ist wirk­lich schon lan­ge, lan­ge überfällig.

Zuerst in eng­lisch erschie­nen im Sub­stack von Edward Slavs­quat: https://​edwards​lavs​quat​.sub​stack​.com/

Bild: »April auf dem Dorf« von Juri Petro­witsch Kugach, 1960er Jah­re (https://t.me/SocialRealm)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert