Ein Wort an die ehrlichen Christen

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Als Sozialist kann man ein Christ sein, als Christ muß man ein Sozialist sein.

Adolf Grimme1

Christentum und Sozialismus gelten im Westen als unüberbrückbare Gegensätze. Dies ist zum Teil dem geschuldet, dass einige sozialistische Staaten mit Atheismuskampagnen die Religionsfrage über die Klassenfrage gestellt haben. Weil die Religionsfrage nicht unmittelbar die Frage des Klassenkampfes betrifft, hat es diese Atheismuskampagnen sowohl in einer Phase unter Stalin wie auch später unter dem Revisionisten Chruschtschow gegeben. Das Ergebnis war überschaubar: Die Karteileichenmitglieder der Kirchen sind ausgetreten, viele gläubige Christen blieben in den Kirchen und wurden weitgehend durch die unnötigen Repressalien verprellt. Andererseits kann man die Kirchen auch nicht freisprechen von einer Unterstützung für das kapitalistische System. Während des Russischen Bürgerkriegs war es kein Geheimnis, dass die Orthodoxe Kirche auf der Seite der Weißgardisten stand. Dies war der Grund, wieso Lenin auf eine Enteignung der Kirchen hinarbeitete2.

Es ist hinlänglich bekannt, dass die christlichen Kirchen sich in den allermeisten Fällen für den Kapitalismus und gegen den Sozialismus ausgesprochen haben und aussprechen. Das ging soweit, dass sie sich in Deutschland in das Naziregime integrierten, indem sie aus dem Römerbrief des Paulus zitierten: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.«3 Damit rechtfertigten sie, wieso die Christenheit sich bedingungslos dem Faschismus unterwerfen sollte. Der faschistische Staat handelte offenkundig gegen jegliche christlichen Gebote; das Berufen auf Paulus war offensichtlich bloß eine Finte. Paulus war außerdem weder ein Prophet, noch der Messias selbst – sein Wort kann allein deshalb schon kein göttliches Gebot sein. Paulus selbst schrieb: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.»4 Dieser blinde Gehorsam dem bürgerlichen Staat gegenüber stammt aus der Reiterei von toten Buchstaben, bei dem der lebendige Geist des Evangeliums getötet worden ist. Abgesehen davon schrieb Paulus im Römerbrief ebenfalls: »Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.«5 Wie kann man jemanden wirklich lieben, wenn man ein System unterstützt, das einem anderen ein Joch aufbürdet, somit schadet? Das ist ein Widerspruch in der Theologie des Paulus. Daran ersieht man, dass Paulus nur ein gläubiger Mensch war, nicht mehr, nicht weniger – einer wie du und ich.

Wo die Kirchen im Sozialismus existierten, dort erfanden sie Ausreden, wieso der Ausspruch von Paulus aus dem Römerbrief keine Gültigkeit besitzen würde. Es ist offensichtlich, dass die Kirchenbürokratie nicht mehr als eine Verlängerung des bürgerlichen Staatsapparates ist. Der niederländische Theologe Ton Veerkamp kritisierte, dass vor allem in Deutschland ein Pfarrer die Rolle eines Beamten spielt, da die Kirche staatstragenden Charakter besitzt6. Dieser Ausspruch stammt aus den 70er Jahren, und die grundlegende Situation ist bis heute unverändert.

Im Jahre 1997 bekannten sich die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland offiziell zur Marktwirtschaft, also dem Kapitalismus7. Das heißt nicht, dass sie nicht schon vorher solche Positionen de facto vertreten hätten – das haben sie nämlich. Das zeigt nur, dass die vorgebliche »Neutralität« der Religionsgemeinschaften nach 1990 nicht mehr als notwendig erachtet worden ist. Man ließ die verlogene Maske fallen und bekannte sich offiziell zum vorherrschenden Gesellschaftssystem. Helmut Gollwitzer schrieb Mitte der 70er Jahre mit bewusster Anlehnung an Marx und Engels: »Die herrschende Theologie aber war die Theologie der herrschenden Kirche, und diese war seit Konstantin die Kirche der Herrschenden.«8 Gollwitzer erkennt damit die Theologie als Teil der ideologischen Sphäre an. Die theologische Interpretation des christlichen Glaubens ist nicht von einer Weltanschauung zu trennen – und Weltanschauung ist nichts anderes als Ideologie.

Natürlich versuchen die beiden großen staatstragenden Kirchen ihre Verteidigung des kapitalistischen Systems etwas »christlich-​sozial« zu bemänteln. Aber geht das überhaupt? Das ist nicht möglich, denn die Bibel widerspricht an vielen Stellen einem System, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht.

Jesus sprach in der Bergpredigt:

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe einbrechen und stehlen.9

Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.10

Kann man auf der einen Seite Menschen ausbeuten, um ihren Mehrwert zu akkumulieren, und auf der anderen Seite ein gläubiger Christ sein? Wer, im Sinne amerikanischer Wohlstandsevangeliums-​Prediger »Ja!« antwortet, dem sei an die Geschichte vom reichen Jüngling erinnert, welcher von Jesus nicht in die Gemeinschaft seiner Jünger aufgenommen worden ist, weil er sich nicht von seinem Reichtum trennen wollte. Jesus sprach daraufhin die berühmten Worte: »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.«11 Er sprach zwar, dass bei Gott alles möglich sei, aber dies könnte, wenn schon, lediglich aus Gnade erfolgen, nicht, weil Reiche besonders gerecht wären.

Jesus trieb die Händler mit einer Geißel (also einer Art Peitsche) aus dem Jerusalemer Tempel hinaus12 und sprach: »Steht nicht geschrieben: ›Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker‹? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.«13 Jesus war also alles andere als ein Pazifist, wenn es um Grundsätze des Glaubens ging. Dies zeigt sich auch im sogenannten »Schwertvers« des Matthäusevangeliums: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.«14 Dies steht im Kontext, dass die Menschen über die Fragen des Glaubens gespalten sein werden. Im Prinzip erlaubt dieser Bibelvers den Glaubenskrieg. Dies würde dann auch wieder im Widerspruch zu Paulus stehen, der passives Ertragen einer jeden staatlichen Handlung abverlangt.

In der Apostelgeschichte steht:

Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.15

Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.16

Ist das Gemeineigentum mit dem Privateigentum des Kapitalismus oder irgendeiner anderen Ausbeutergesellschaft vereinbar? Das ist es nicht. Entsprechend war die Forderung der CDU Frankfurt im Jahre 1945 auch aus biblischer Sicht richtig, dass die Großindustrie und die Großbanken in Gemeineigentum überführt werden sollen17.

Es gibt aber eine Stelle im Neuen Testament, auf die sich die amerikanischen Wohlstandsevangeliums-​Prediger gerne berufen: Das Gleichnis von den Talenten in der Fassung vom Matthäusevangelium. Dort wird das Reich Gottes mit einem Mann verglichen, der an seine Diener Geld verteilte, um dieses zu vermehren, und denjenigen am Ende bestraft, der am wenigsten zurückgeben konnte18. Bei Lukas taucht das Gleichnis auch auf, aber ohne den direkten Bezug zum Reich Gottes19. Schaut man sich dieses Gleichnis an, so ist dies offensichtlich eine Kritik an Herodes (der »Edelmann«), der in ein »fernes Land« (Rom) zog, um dort ein Königtum (»König der Juden«) zu erlangen. Es handelt sich dabei also um ein weltliches Thema. Der Ausspruch: »Wer da hat, dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat.«20 kann deshalb nicht als Grundlage einer christlichen Ethik im Hinblick auf das Gesellschaftssystem gelten; im Gegenteil! Der Theologe und Christsozialist Hans Lutz hatte also recht mit seiner Aussage, dass die Formen des Staates und des Eigentums keine »von Gott gesetzten irdischen Ordnungen« seien21. Man muss vielleicht nicht so weit gehen, wie der Christsozialist und Mitglied im Bund religiöser Sozialisten Georg Wünsch, der in der marxistischen Arbeiterbewegung die geschichtliche Verwirklichung des Reich Gottes sehen wollte durch dessen ärmste Klasse22. Man sollte sich aber dessen bewusst werden, dass die Zimmerleute23 und Fischer24 von damals, wenn man ihre Klassenlage überträgt, sich heute in der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum widerspiegeln. Kurzum: Im werktätigen Volk. Dies waren die sozialen Gruppen, aus denen Jesus stammte und unter denen er predigte.

Es stimmt also, wenn verschiedene Christsozialisten wie etwa Adolf Grimme25, der in Westdeutschland aktiv war, oder Otto Nuschke26, der in der DDR Vorsitzender der CDU gewesen ist, davon sprachen, dass der Geist der Bergpredigt dem Sozialismus viel näher stehe als dem Kapitalismus. Dies wollen viele selbsternannte Christen nur nicht erkennen, weil für sie ihre bürgerliche Weltanschauung, sei sie nun konservativ oder neoliberal, näher steht, als ihr eigener Glaube. Sie sind nicht in erster Linie Christen, sondern erst in zweiter Linie. Dieses Primat der Ideologie vor dem Glauben zeigt sich nirgends besser, als bei der Katholischen Kirche.

Papst Franziskus hat natürlich recht, wenn er sagt: »Es sind die Kommunisten, die wie Christen denken.«27 Dennoch: Die Katholische Kirche zieht in der Praxis daraus keinerlei Schlussfolgerungen. Ganz im Gegenteil. Eine christliche Gruppierung, die der Kommunistischen Partei der Philippinen nahesteht, die Christen für nationale Befreiung, kritisieren an der Katholischen Kirche, dass sie »stark voreingenommen« für den Kapitalismus sei28, obwohl beispielsweise Johannes Paul II. sogar eine sachte Kritik am Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit ausübte29. Papst Benedikt XVI. war in dieser Hinsicht auch nicht besser. Er monierte 2008 vor der UNO-​Vollversammlung die Ungleichheit zwischen Ländern und sozialen Gruppen30, aber war andererseits ein klarer Antisozialist, der etwa 1984 es als »Schizophrenie« ansah, marxistische Befreiungsbewegungen im Ausland zu unterstützen31. Sozialkritik ist nur ein Aushängeschild, hinter dem keine Taten stehen, genauso wie hinter der »Aufarbeitung des Missbrauchskandals« keine wirkliche Aufarbeitung steht, sondern fortgesetzter Missbrauch.

Otto Nuschke sagte 1957 zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution mit Bezug zum Text der »Internationale»32: »Völker! Überhört nicht wieder die Signale.«33 Gemeint waren die Signale der Oktoberrevolution, der erstmaligen Verwirklichung des Sozialismus als Gesellschaftsordnung in der Geschichte der Menschheit. Ja, die Christenheit sollte aufhören die Signale der Zeit zu überhören, sondern dem Ruf zuhören: »Höret, alle Völker!«34

Verweise

1 Adolf Grimme« Religion und Sozialismus« (9. Januar 1946) In: (Hrsg.) Walter Dirks/​Klaus Schmidt/​Martin Stankowski »Christen für den Sozialismus«, Bd. II: Dokumente, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/​Berlin/​Köln/​Mainz 1975, S. 146.

2 Siehe: »Letter to Molotov for Politburo Members« (19. März 1922) In: (Hrsg.) Richard Pipes »The Unknown Lenin«, Yale University Press, New Haven/​London 1996, S. 153, Englisch. Lenin wies darauf hin, dass außer den Schwarzhundert und Reaktionären aus dem städtischen Kleinbürgertum keiner sich der Kirchenenteignung in den Weg stellen würde.

3 Römer 13, 1.

4 2. Korinther 3, 6.

5 Römer 13, 8.

6 Vgl. Ton Veerkamp »Der Bund und die Bündnisse« In: (Hrsg.) Dorothee Sölle/​Klaus Schmidt »Christen für den Sozialismus«, Bd. I: Analysen, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/​Berlin/​Köln/​Mainz 1975, S. 131.

8 Helmut Gollwitzer »Kirchliche Verkündigung in den Schranken der Klassengesellschaft« (1974/​1975) In: (Hrsg.) Dorothee Sölle/​Klaus Schmidt »Christen für den Sozialismus«, Bd. I: Analysen, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/​Berlin/​Köln/​Mainz 1975, S. 106.

9 Matthäus 6, 19.

10 Matthäus 6, 24.

11 Markus 10, 25.

12 Vgl. Johannes 2, 15.

13 Markus 11, 17.

14 Matthäus 10, 34.

15 Apostelgeschichte 2, 44.

16 Apostelgeschichte 4, 32.

17 Vgl. CDU Frankfurt »Politische Leitsätze« (1945) In: (Hrsg.) Walter Dirks/​Klaus Schmidt/​Martin Stankowski »Christen für den Sozialismus«, Bd. II: Dokumente, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/​Berlin/​Köln/​Mainz 1975, S. 48.

18 Vgl. Matthäus 25, 14 – 30.

19 Vgl. Lukas 19, 12 – 27.

20 Lukas 19, 26.

21 Vgl. Hans Lutz »Kommunistisches Manifest und christliche Verkündigung« (1950) In: (Hrsg.) Walter Dirks/​Klaus Schmidt/​Martin Stankowski »Christen für den Sozialismus«, Bd. II: Dokumente, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/​Berlin/​Köln/​Mainz 1975, S. 132.

22 Vgl. Georg Wünsch »Die Aufgabe des Marxismus in der Bewegung des Reiches Gottes« In: »Der Glaube der religiösen Sozialisten«, Furche-​Verlag, Hamburg 1972, S. 198.

23 Siehe: Matthäus 13, 55. Jesus stammte aus einer Zimmermannsfamilie.

24 Siehe bspw.: Lukas 5, 2. Die Fischer sind wohl die bekannteste soziale Gruppe, unter welcher Jesus predigte.

25 Siehe: Adolf Grimme« Religion und Sozialismus« (9. Januar 1946) In: Ebenda, S. 144.

26 Siehe: »Dem Evangelischen Kirchentag zum Gruß« (9. September 1951) In: Otto Nuschke »Mahnung und Beispiel«, Union Verlag, Berlin 1958, S. 33.

28 Vgl. Christians for National Liberation »A Commentary on the Compendium of the social Dictrine of the Church«, Foreign Languages Press, Paris 2022, S. 191, Englisch.

29 Vgl. Ebenda, S. 192, Englisch.

30 Vgl. »Die Menschenrechte und die Suche nach dem Gemeinwohl« (18. April 2008) In: Benedikt XVI. »Die Ökologie des Menschen«, Pattloch Verlag, München 2012, S. 40.

31 Vgl. »Christliche Orientierung in der pluralistischen Demokratie« (24. April 1984) In: Ebenda, S. 74.

32 Dieses bekannte Lied der internationalen Arbeiterbewegung beginnt mit der Zeile: »Völker, hört die Signale!«

33 »Überhört nicht wieder die Signale!« (8. November 1957) In: Otto Nuschke »Mahnung und Beispiel«, Union Verlag, Berlin 1958, S. 323.

34 2. Chronik 18, 27.

Zuerst erschienen in Die Rote Front

Bild: Berlin, 6. CDU-​Parteitag, Rede Otto Nuschke. Zentralbild Gielow Str-​Ho. 16.10.1952 6. Parteitag der Christlich Demokratischen Union. Vom 16. bis 18.10.52 findet in Berlin der 6. Parteitag der CDU statt, der unter dem Motto »Frieden, Einheit, Sozialismus« steht. Der Parteitag wurde am 16.10. in der Staatsoper eröffnet. Der Vorsitzende der CDU, Stellvertreter des Ministerpräsidenten Otto Nuschke, bei seinem Referat zu dem Thema »Christen kämpft mit der CDU für Frieden, Einheit, Sozialismus (Bundesarchiv, Bild 183 – 16824-​0004 /​Gielow /​CC-​BY-​SA 3.0)

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