Wie »pflegt« man eine kolo­nia­le Ideologie?

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Es ist schon eigen­ar­tig – ob es um Bekämp­fung der Skla­ve­rei geht, um die Ver­brei­tung des wah­ren Glau­bens, um Ent­wick­lungs­hil­fe oder Men­schen­rech­te, das Ergeb­nis ist immer wie­der Kolo­nia­lis­mus. Wie ist es mög­lich, den­sel­ben bös­ar­ti­gen Inhalt immer wie­der neu zu verpacken?

Kaum jemand wird mehr ernst­haft bezwei­feln, dass die Län­der des Wes­tens sich in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten beim Rest des Pla­ne­ten eif­rig bedient haben und jetzt gera­de alles dar­an set­zen, dass die­ser Zustand nicht been­det wird. Die Fra­ge, war­um die Bevöl­ke­run­gen der west­li­chen Län­der die­se Plün­de­rung mit­ge­tra­gen haben und bis heu­te mit­tra­gen, ist aller­dings gar nicht so ein­fach zu beantworten.

Es gibt die Behaup­tung, dass nen­nens­wer­te Tei­le der Bevöl­ke­rung schlicht von die­sen Macht­ver­hält­nis­sen pro­fi­tie­ren. Man erin­ne­re sich an die Bana­nen­fra­ge zwi­schen BRD und DDR – in der BRD gab es immer Bana­nen, aber sie kamen (und kom­men) aus Plan­ta­gen mit elen­den Arbeits­ver­hält­nis­sen; in der DDR gab es sie höchst sel­ten, aber sie waren kein Pro­dukt einer Rau­b­öko­no­mie. Natür­lich, wenn man sich die Lis­te all der Pro­duk­te betrach­tet, die frü­her ein­mal das Eti­kett »Kolo­ni­al­wa­ren« tru­gen, von Obst über Gewür­ze über Kaf­fee bis zur Scho­ko­la­de, ist das schon eine beein­dru­cken­de Menge.

Aber im gro­ßen Maß­stab ist das nicht wirk­lich rele­vant, selbst wenn der eine oder ande­re Putsch für die Bilanz der United Fruit Com­pa­ny insze­niert wur­de. Wenn man die lang­fris­ti­ge Ent­wick­lung von Roh­stoff­prei­sen betrach­tet, gibt es unge­fähr von Mit­te der 1950er bis Anfang der 1970er Jah­re eine Beu­le nach oben. In die­ser Zeit waren vie­le Roh­stof­fe deut­lich teu­rer als spä­ter wie­der, nach­dem durch IWF und Welt­bank als Reak­ti­on auf eine Wel­le von Unab­hän­gig­keits­kämp­fen nach dem Zwei­ten Welt­krieg das kolo­nia­le Regime in ande­rer Gestalt wie­der fest­ge­zurrt wur­de. Die Bevöl­ke­rung der west­li­chen Län­der hat­te davon aller­dings herz­lich wenig – seit Mit­te der 1970er Jah­re ist der Lebens­stan­dard der ein­fa­chen Bevöl­ke­rung gefal­len – was jedoch erst dann deut­lich wird, wenn man mit­be­trach­tet, ob die Men­schen es sich leis­ten kön­nen, ein Haus zu bau­en und Kin­der groß­zu­zie­hen. Dass heu­te die Regie­run­gen aller west­li­chen Län­der jam­mern, sie bräuch­ten »Fach­kräf­te«, ist die lang­fris­ti­ge Kon­se­quenz einer Absen­kung des Lebens­stan­dards unter die Schwel­le, die eine gesi­cher­te Fami­li­en­bil­dung ermöglicht.

Die Beu­te wur­de und wird also nicht mit dem Pöbel geteilt. Aber es ist trotz­dem unver­zicht­bar, dass wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung die zur Durch­set­zung einer sol­chen Poli­tik erfor­der­li­chen krie­ge­ri­schen Aktio­nen mit­tra­gen; das geht nur, indem eine ent­spre­chen­de Ideo­lo­gie geschaf­fen wird, die der­ar­ti­ge Hand­lun­gen schein­bar recht­fer­tigt. Die neu­es­te Ver­si­on die­ser Ideo­lo­gie trägt Regen­bo­gen­fah­nen und glo­ri­fi­ziert Män­ner in Frau­en­klei­dern. Aber die wenigs­ten Anhän­ger sol­cher Ideo­lo­gie sind imstan­de, deren Funk­ti­on zu durchschauen.

Dabei gehen sie in eine his­to­ri­zis­ti­sche Fal­le. Wenn man aus der Gegen­wart in die Ver­gan­gen­heit blickt – gera­de in die reich­lich blut­be­su­del­te Kolo­ni­al­ge­schich­te –, so sind die älte­ren Ver­sio­nen kolo­nia­ler Ideo­lo­gie der­ma­ßen des­avou­iert, dass nie­mand mehr auf den Gedan­ken käme, sie mit einer Idee von angeb­li­chem Fort­schritt zu ver­bin­den; ganz gleich, ob es dabei um den Drang zur Chris­tia­ni­sie­rung, um die Erfin­dung mensch­li­cher Ras­sen samt einer Ein­tei­lung in Unter- und Über­le­ge­ne geht oder um das Kli­schee­bild des armen, ewig hun­gern­den Afri­ka­ners geht. Was bei Betrach­tung die­ser frü­he­ren Ideo­lo­gien oft ver­drängt wird, ist, dass sie alle jeweils in den Län­dern des Wes­tens als Ver­kör­pe­rung von Fort­schritt und Huma­ni­tät gal­ten. Das galt sogar für die Betrach­tung der mensch­li­chen Art selbst durch die Bril­le eines Viehzüchters.

Schlim­mer noch: ein­zel­ne Moti­va­tio­nen sind immer wie­der aus real fort­schritt­li­chen Bewe­gun­gen über­nom­men und inte­griert wor­den. So kann man defi­ni­tiv sagen, dass jene, die in Groß­bri­tan­ni­en für die Abschaf­fung der Skla­ve­rei ein­tra­ten, als Groß­bri­tan­ni­en noch einer der gro­ßen Skla­ven­händ­ler war, etwas Gutes für die Opfer woll­ten und es sogar zum Teil erreich­ten. In der Fol­ge aber wur­de die »Bekämp­fung des Skla­ven­han­dels« erst zur Begrün­dung für Ein­sät­ze der bri­ti­schen Flot­te gegen die wirt­schaft­li­che Kon­kur­renz und schließ­lich zur Beset­zung afri­ka­ni­scher Länder.

Ähn­lich ver­lief das mit dem Begriff der Ent­wick­lung, der ursprüng­lich als Gegen­mo­dell zur kolo­nia­len Herr­schaft, zum kon­ti­nu­ier­li­chen Absau­gen gesell­schaft­li­chen Wohl­stands gedacht war, aber dann über­nom­men wur­de und als Begrün­dung für IWF, Welt­bank und das Netz aus Kne­bel­kre­di­ten und Auf­la­gen dien­te, die gera­de die Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten der »Begüns­tig­ten« strangulierten.

Seit­dem wur­den Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie mit Feu­er und Schwert ver­brei­tet, und es ist nur eine Fra­ge der Zeit, bis die ers­ten Bom­ben zum Erzwin­gen einer CSD-Para­de abge­wor­fen wer­den; immer dem­sel­ben Mus­ter fol­gend. Eine Idee, die in der Gesell­schaft, aus der sie stammt, ursprüng­lich durch­aus ein gewis­ses Poten­ti­al für Ver­bes­se­run­gen in sich trug, wird so gründ­lich ent­kernt und über­dreht, dass sie pro­blem­los als Waf­fe nach außen ein­ge­setzt wer­den kann.

Es ist sogar so, dass die­se Ideo­lo­gie den Ein­druck von Fort­schritt­lich­keit unbe­dingt erwe­cken muss. Denn der Trick, mit dem selbst aus einer ursprüng­lich fort­schritt­li­chen Idee eine prak­tisch zutiefst reak­tio­nä­re Ideo­lo­gie wird, besteht dar­in, eine Vor­stel­lung von Über­le­gen­heit zu ver­an­kern; weil man ja nicht (mehr) mit Skla­ven han­delt, weil man die bes­se­re Moral besitzt, demo­kra­ti­scher ist, kli­ma­freund­li­cher etc. pp.

Dabei gibt es natür­lich noch wei­te­re Rah­men­be­din­gun­gen. Die Ent­wick­lungs­er­zäh­lung der 1970er Jah­re wäre heu­te gleich aus zwei Grün­den nicht mehr nutz­bar – zum einen, weil sich kon­kret über­prü­fen lässt, ob es tat­säch­lich einen Fort­schritt gege­ben hat, die Erzäh­lung also auf­flie­gen könn­te, und zum ande­ren, weil längst jeder Gedan­ke an kon­kre­te, mate­ri­el­le Ver­bes­se­run­gen auch den Bevöl­ke­run­gen des Wes­tens aus­ge­trie­ben wer­den muss­te, denen seit der öko­no­mi­schen Wen­de Anfang der 1970er eben nur noch Ver­schlech­te­run­gen zu bie­ten sind. Sprich, je weni­ger die aktu­el­le kolo­nia­le Ideo­lo­gie mit der Wirk­lich­keit zu tun hat, mit Zah­len, mit Öko­no­mie, des­to nebu­lö­ser bleibt sie und des­to bes­ser ist das. Man will schließ­lich kei­ne schla­fen­den Hun­de wecken (und die Kli­ma­er­zäh­lung funk­tio­niert schließ­lich – das zeigt sich immer deut­li­cher – nach innen eben­so gut wie nach außen, um Lebens­stan­dard abzusenken).

Nun hät­te man im Ver­lauf der lan­gen Kolo­ni­al­ge­schich­te durch­aus dar­auf kom­men kön­nen, dass in dem Moment, in dem was auch immer zu einer Begrün­dung für die west­li­che Über­le­gen­heit wird, die­se Ideo­lo­gie »toxisch« wird. Und es gab auch tat­säch­lich immer wie­der Pha­sen, in denen es in den west­li­chen Län­dern gar nicht so ein­fach war, von der Fra­ge der rea­len, öko­no­mi­schen Macht­ver­hält­nis­se abzulenken.

Aber man gab sich gewal­ti­ge Mühe, mit einer »neo­li­be­ra­len« Poli­tik jeden Blick auf die Ver­hält­nis­se zwi­schen Arm und Reich – selbst inner­halb der west­li­chen Län­der – zu unter­bin­den; man den­ke nur an das hüb­sche Wort »Sozi­al­neid«, mit des­sen Hil­fe es gelang, das Aus­spre­chen einer For­de­rung nach sozia­ler Gerech­tig­keit zu etwas ethisch Nied­ri­gem zu machen. Es war schon eini­ger Auf­wand erfor­der­lich, um die Gesell­schaf­ten so weit zuzu­rich­ten, dass sie kein Pro­blem mehr mit angeb­li­chen »Phil­an­thro­pen« auf der einen und den Zelt­städ­ten von Obdach­lo­sen auf der ande­ren Sei­te haben. Aber wer immer es schafft, sol­che Gesell­schaf­ten für fort­schritt­lich und nicht für zutiefst ver­kom­men zu hal­ten, wird auch nicht mit der Wim­per zucken, wenn wie­der ein­mal das eine oder ande­re »nicht­wei­ße« Volk ins Elend gestürzt wird.

Inner­halb der Lin­ken fing das ein­mal ganz harm­los an, mit der Debat­te über den Haupt- und Neben­wi­der­spruch. Für jene, denen die­se ein­mal ver­brei­te­ten Begrif­fe fremd sind: der Haupt­wi­der­spruch ist der zwi­schen Kapi­tal und Arbeit, und alles ande­re fällt unter die Neben­wi­der­sprü­che. Als es mit die­ser Debat­te los­ging, hät­te nie­mand ahnen kön­nen, dass es mit dem völ­li­gen Ver­ges­sen besag­ten Haupt­wi­der­spruchs enden wür­de. Aber es war nicht all­zu schwer zu ahnen, dass bei Behand­lung der Neben­wi­der­sprü­che nichts her­aus­kom­men wird, was man essen, womit man sich klei­den, wor­in man woh­nen oder womit man sei­ne Kin­der auf­zie­hen kann.

Und natür­lich ist es schwer, die kolo­nia­le Ord­nung über­haupt als sol­che zu erken­nen, wenn der öko­no­mi­sche Blick erst ein­mal ver­lo­ren gegan­gen ist. Denn es waren immer die­se har­ten, mate­ri­el­len Fak­ten: die Geld­flüs­se von Süd nach Nord, die erken­nen lie­ßen, wer mit wem was anstellt auf die­sem Pla­ne­ten. Das beglei­ten­de Geschwätz han­del­te immer vom Wahr­haf­ti­gen, vom Guten und Schö­nen, auch wenn man die alten Ver­sio­nen mit dem glei­chen Schau­dern betrach­tet, den die aus­ge­stopf­ten Men­schen­ex­em­pla­re in man­chen west­li­chen Muse­en oder die Bil­der der Men­schen­zoos des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts auslösen.

Immer­hin: die besitz­lo­sen Klas­sen erwei­sen sich als schwer zu umgar­nen, weil sie es ken­nen, wenn ihnen die But­ter zum Brot fehlt; aber die gan­ze mehr oder weni­ger intel­lek­tu­el­le Meu­te giert nach allem, was ihr das Gefühl ver­leiht, etwas bes­ser zu sein als die da unten, und stürzt sich mit Eifer auf jedes Bröck­chen, das hin­ge­wor­fen wird. Was bei der »Gen­de­rei« deut­lich zu sehen ist: die Fra­ge nach dem Pro­no­men ist die dreis­tes­te Dis­kri­mi­nie­rung von Nicht­ab­itu­ri­en­ten seit wil­hel­mi­ni­schen Tagen. Die Kom­pli­zen­schaft mit dem kolo­nia­len Regime ergibt sich dann von allein.

Nun, im Welt­mu­se­um des Kolo­nia­lis­mus, das wohl dem­nächst irgend­wann, ver­mut­lich in Peking, gebaut wer­den wird, wenn das The­ma durch ist, wird das gan­ze »woke« Thea­ter sei­nen Platz neben dem Rohr­stock des bri­ti­schen Kolo­ni­al­be­am­ten fin­den. Es wäre übri­gens einen Gedan­ken wert, ob die vik­to­ria­ni­sche Zen­sur des bri­ti­schen Eng­lisch nicht eigent­lich ein ähn­li­ches Ziel ver­folg­te und nicht nur dar­auf aus­ge­rich­tet war, die Spra­che tie­fer nach Klas­sen zu tei­len, son­dern außer­dem die durch­aus des Eng­li­schen fähi­gen Inder der »akzep­ta­blen« Spra­che berau­ben soll­te. Ein sub­ti­les, aber wir­kungs­vol­les Mit­tel, um die Idee eige­ner Über­le­gen­heit zu stär­ken und das Gegen­über in einer mög­lichst sprach­lo­sen Stel­lung zu halten.

Die Gesell­schaf­ten des Wes­tens jeden­falls wer­den dann damit beschäf­tigt sein, all die wirk­li­chen Pro­ble­me, die der­zei­tig einem Sprech­ver­bot unter­lie­gen, wie­der aus­zu­gra­ben, und wer­den sich län­ge­re Zeit mit dem guten alten Haupt­wi­der­spruch befas­sen müs­sen. Denn wenn der Zufluss von außen abbricht, ver­schwin­den weder die »Phil­an­thro­pen« noch ihr Anspruch auf ste­tig wach­sen­de Macht und noch mehr Reich­tum. Und sie wer­den es zumin­dest ver­su­chen, sich an den Bevöl­ke­run­gen des Wes­tens schad­los zu hal­ten, die dann end­gül­tig begrei­fen müs­sen, dass der Satz »erst kommt das Fres­sen, dann die Moral« nicht nur hilf­reich ist, um das eige­ne Inter­es­se zu erken­nen, son­dern sogar noch einen bes­se­ren Pfad zum gesell­schaft­lich Guten weist als die Men­schen­rech­te, das Gen­dern und der gan­ze woke Rest zusammengenommen.

Dag­mar Henn ist Mit­glied des Deut­schen Frei­den­ker-Ver­ban­des, von des­sen Web­site frei​den​ker​.org der Arti­kel über­nom­men wur­de, Erst­ver­öf­fent­li­chung am 11.04.2023 auf RT DE

Bild: Kolo­nia­le ita­lie­ni­sche Pro­pa­gan­da-Post­kar­te aus dem Jahr 1936, die ita­lie­ni­sche Kin­der in kolo­nia­len und faschis­ti­schen Uni­for­men zeigt, die äthio­pi­sche Kin­der füt­tern (https://​redd​.it/​w​e​j​6ba)

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