Han­nah Are­ndt, das »gefähr­li­che Den­ken« und Wir: Eine Relek­tü­re Han­nah Are­ndts aus Anlass der »Zeitenwende«-Proklamation durch die deut­sche Politik

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Bernd Schoe­pes Essay besteht aus drei Tei­len, von denen man­che wie­der­um in meh­re­ren Tei­len erscheinen:

Teil 1: Zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft: Han­nah Are­ndts poli­ti­sches Den­ken revisited

I) Ein­lei­tung: Die »nicht iden­ti­sche Iden­ti­tät« der H.A. / Han­nah Are­ndts Rol­le in der »größ­ten Geschichts­lek­ti­on« der Deutschen

II) Han­nah Are­ndts Befrei­ung aus der Musealität

Teil 2: Die Kri­se der Öffent­lich­keit: Lüge und Wahr­heit, Can­cel Cul­tu­re, der Infor­ma­ti­ons­krieg und das Ende der Poli­tik. Mit einem Exkurs zur auto­ri­tä­ren Linken

Teil 3: Digi­tal-dys­to­pi­sche Trans­for­ma­ti­on der Demo­kra­tie: Von der »Herr­schaft des Nie­mand« in die trans­hu­ma­nis­ti­sche Zom­bie-Apo­ka­lyp­se?

Wo ste­hen wir heute?

Auf die gro­ße Her­aus­for­de­rung, unse­re ver­wor­re­ne Post-Coro­na-Zeit zu ver­ste­hen, gibt das Werk Han­nah Are­ndts über­ra­schend aktu­el­le Auskünfte.

Mit guten Grün­den kann sich die Kri­tik einer »gro­ßen Trans­for­ma­ti­on« der Poli­tik – und der dahin­ter sicht­bar wer­den­den trans­hu­ma­nis­ti­schen Glo­bal Gover­nan­ce-Agen­da – auf die­se fas­zi­nie­ren­de, aber auch ver­kann­te Den­ke­rin berufen .

Im aktu­el­len Licht soll­ten die Ana­ly­sen und Refle­xio­nen ihres Wer­kes uns War­nung sein, was mit der Pan­de­mie- und Glo­bal-Gover­nan­ce-Poli­tik (1) wirk­lich auf dem Spiel steht.

Kon­se­quen­zen für unser Han­deln müs­sen wir aber selbst dar­aus ziehen.

Zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft: Han­nah Are­ndts poli­ti­sches Den­ken revisited

Wer war Han­nah Are­ndt? Und was ver­bin­den wir mit ihrem Namen heu­te – für uns? Was zeich­net unser Ver­hält­nis zu ihr aus? Las­sen sich in die­sen ver­wor­re­nen und kri­sen­ge­schüt­tel­ten Zei­ten Ver­än­de­run­gen in der Bestim­mung des Ver­hält­nis­ses zu ihr und ihrem Den­ken erken­nen? Und kön­nen die­se uns dabei hel­fen, unse­re Welt bes­ser zu verstehen?

Ein­lei­tung: Die »nicht iden­ti­sche Iden­ti­tät« der H.A.

Längst ist die 1906 in Han­no­ver, als Toch­ter einer wohl­ha­ben­den, bil­dungs­bür­ger­li­chen und jüdi­schen Fami­lie gebo­re­ne Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin, die 1933 zunächst vor den Nazis nach Paris, und dann über Lis­sa­bon in die USA emi­grier­te, zu einer »Iko­ne« (Wolf­ram Eilen­ber­ger (2)) der Demo­kra­tie geworden.

Es gibt wohl kei­nen Men­schen, der sich zeit­le­bens so inten­siv mit den gro­ßen Fra­gen der Poli­tik aus­ein­an­der­ge­setzt hat, der in punc­to poli­ti­scher Bil­dung eine sol­che Reso­nanz erfah­ren hat. Wie konn­te Han­nah Are­ndt solch eine öffent­lich­keits­wirk­sa­me Bedeu­tung erlan­gen, die sie im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis des moder­nen, urban-libe­ral gepräg­ten und sei­nem Ver­ständ­nis nach kos­mo­po­li­ti­schen Deutsch­lands so ver­an­ker­te? Leicht pro­vo­kant könn­te man sagen, dass Are­ndt zu einer Art weib­li­chem deut­schen Che Gue­va­ra gekreuzt mit etwas Albert Schweit­zer und/​oder Albert Ein­stein – ohne des­sen unver­ständ­li­cher Rela­ti­vi­täts­theo­rie natür­lich – oder, wem das zu wenig gen­der­li­ke ist – Marie Curie plus Rosa Luxem­burg, gewürzt mit einer Pri­se Hil­de­gard Knef, gewor­den ist.

Die Wahr­neh­mung der poli­ti­schen Den­ke­rin Han­nah Are­ndt war von Anfang an in Deutsch­land durch eine Ten­denz cha­rak­te­ri­siert, die sich in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten auf­grund des Roll­backs der Demo­kra­tie (Stich­wort: Post­de­mo­kra­tie) noch ver­stärkt hat:

Ich spre­che von der Ten­denz, ihr poli­ti­sches Den­ken an den in unse­rem Gemein­we­sen herr­schen­den Sta­tus Quo von Demo­kra­tie und Frei­heit und deren popu­lä­re, den Zeit­geist reprä­sen­tie­ren­den The­men anzu­pas­sen. Das geht mit dem ein­her (3), was ich die »Exter­na­li­sie­rung kri­ti­scher Gehal­te« nen­nen möch­te. Die hier ver­tre­te­ne The­se lau­tet, dass es nur über den Pro­zess, den der Sozio­lo­ge Oli­ver Mar­chart als »effek­ti­ve Depo­li­ti­sie­rung ihrer Theo­rie« (4) bezeich­net hat, über­haupt dazu kom­men konn­te, dass Han­nah Are­ndt zum Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ob­jekt für jung und alt, links und rechts, oben und unten und zur Iko­ne der Frei­heit und Demo­kra­tie wer­den konn­te. Als sol­che strahlt ihr Licht all­ge­mein weit in die poli­ti­sche Bil­dung und in den Politik‑, Sozialkunde‑, Geschichts- und Phi­lo­so­phie-Unter­richt aus. Werk- und rezep­ti­ons­lo­gisch wur­de ihre schier uni­ver­sell schei­nen­de Anschluss­fä­hig­keit zwin­gen­der­wei­se erst dadurch ermög­licht, dass man kurz­schlüs­sig und unscharf die Schlüs­sel­be­grif­fe ihrer poli­ti­schen Theo­rie den Kon­tex­ten heu­ti­ger Begriffs­se­man­tik ange­nä­hert bzw. begon­nen hat, sie unter die­ser zu rubrizieren.

Zwar ist der Stel­len­wert poli­ti­scher Bil­dung, seit­dem das neo­li­be­ra­le New Public Chan­ge-Manage­ment (5) in den Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten sein Zep­ter schwingt, durch das der freie Geist (bzw. das, was von ihm seit Beginn der Öko­no­mi­sie­rung der Bil­dung über­haupt noch übrig geblie­ben war) aus den alten Mau­ern einst ehr­wür­di­ger Bil­dungs­an­stal­ten ver­trie­ben wur­de, rapi­de gesun­ken. Trotz­dem – oder gera­de des­halb – wür­de jede Schu­le in Deutsch­land es als Aus­zeich­nung, Ehre und einen Gewinn an Pres­ti­ge betrach­ten, wenn sie den Namen Han­nah Are­ndts tra­gen dürfte.

Zum Preis die­ser Popu­la­ri­sie­rung – die ein Ergeb­nis ihrer zuneh­mend kul­tur­in­dus­tri­el­len Auf­be­rei­tung ist, in der die Beschäf­ti­gung mit dem Gegen­stand auf »human interest«-Aspekte zusam­men­schnurrt – hat der Han­no­ve­ra­ner Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Sebas­ti­an Huhn­holz ange­merkt, die­se habe »den gefüh­li­gen Zugriff« auf Are­ndt geför­dert. Sei­ne Rezen­si­on des Buches Han­nah Are­ndt und Karl Jas­pers – Geschich­te einer ein­zig­ar­ti­gen Freund­schaft von Inge­borg Gleich­auf (Göt­tin­gen 2021) – in dem für sein Emp­fin­den die Kate­go­rie des »Gefüh­li­gen« in exem­pla­ri­scher Wei­se bedient wird – nutzt Huhn­holz dafür, um zu einem erfri­schend pole­mi­schen Rund­um­schlag auszuholen:

Immer­hin ist die ach so klu­ge und wit­zi­ge Han­nah seit zwei Jahr­zehn­ten eine all­zu ein­fa­che Pro­jek­ti­ons­flä­che gewor­den. Kei­ne Schu­le oder Shop­ping Mall, die sich nicht nach ihr benen­nen woll­te. Kei­ne Are­ndt-Aus­sa­ge auf Wühl­tisch­post­kar­ten (»Nie­mand hat das Recht zu gehor­chen.«), die noch tie­fen­phi­lo­so­phisch ver­ständ­lich statt bloß äußer­lich schön und schein­bar zeit­ge­mäß wäre. Mit der bil­li­gen Instant-Freun­din sind Jeder­mann und Jeder­frau immer auf irgend­ei­ner genau rich­ti­gen Sei­te. Das aber ist nicht nur ange­sichts der trau­ri­gen The­men Are­ndts bizarr, die ja völ­lig zu Recht als »Den­ke­rin der Stun­de« gehan­delt wird. Hin­sicht­lich der ent­lar­ven­den Rol­le der »Herr­schaft des Nie­mand«, also gemes­sen am Bana­li­tät-des-Bösen-Theo­rem, ist es auf ver­gnüg­te Wei­se »dumm«. Wenn wir nicht sehen (wol­len), wie die staats­tra­gen­de Vor­zei­ge-Jüdin und die lie­be Freun­din Han­nah die radi­ka­le poli­ti­sche Den­ke­rin Are­ndt ent­schär­fen, ver­kommt sie zum Label für belang­lo­ses Reden, für blo­ßes Mei­nen statt reflek­tier­tem Urteilen. (…)

Ver­kauf und For­schung wur­den durch die geschichts- und moral­po­li­ti­sche Gefäl­lig­keit die­ser neu­en Han­nah Are­ndt der Ber­li­ner Repu­blik sicher belebt. Jedes publi­kums­wirk­sa­me­re Buch über sie schim­mert aber in die­sem Zwie­licht. (6)

Han­nah Are­ndt – das Pin-Up-Girl der poli­ti­schen Theorie?

Hal­ten wir an der Stel­le fest: Es mel­det sich, wenn auch nur ver­ein­zelt, ein Unbe­ha­gen an dem Han­nah Are­ndt-Bild zu Wort, wel­ches sie zur Hei­li­gen auf dem beweih­räu­cher­ten Altar der Ber­li­ner Repu­blik, zur Demo­kra­tie-Heroi­ne »des bes­ten Deutsch­lands, das es je gege­ben hat« (Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er (7)) stilisiert.

Der Putz brö­ckelt. Und tat­säch­lich haben sich zuletzt die Hin­wei­se dar­auf ver­dich­tet, dass der Absatz der kul­tur­in­dus­tri­el­len Han­nah Are­ndt, ihre Ver­mark­tung von der Stan­ge, die so lan­ge so gut lief, ins Sto­cken bzw. in die Bre­douil­le gera­ten ist.

Denn immer mehr Zei­chen deu­ten dar­auf hin, dass wir – (nicht nur) in Deutsch­land und in der EU – eine Rück­kehr des Auto­ri­tä­ren in die Poli­tik erle­ben und die libe­ra­le Demo­kra­tie in ihrer Exis­tenz akut gefähr­det ist. Die som­nam­bu­le Sicher­heit, mit der wir bis­lang Frei­heit und Demo­kra­tie als unser selbst­ver­ständ­li­ches Eigen­tum betrach­tet haben, zeigt Aus­set­zer und bekommt Ris­se. Auch wenn vie­le noch schla­fen, hat die Zeit des Auf­wa­chens begon­nen. Die über Deka­den als Erfolgs­mo­dell gefei­er­te west­lich-libe­ra­le Demo­kra­tie steht vor ihrer womög­lich größ­ten Zäsur und Zerreißprobe.

Etli­ches ihrer Attrak­ti­vi­tät und Strahl­kraft hat sie jeden­falls schon bei einer inzwi­schen besorg­nis­er­re­gend hoch ange­wach­se­nen Zahl von Men­schen ein­ge­büßt. Die Ver­trau­ens­wer­te der Bür­ger zum poli­ti­schen Sys­tem errei­chen immer neue Tief­stän­de (8). Auch das Recht befin­det sich in der Kri­se, da es immer mehr zu einem Spiel­ball über­mäch­ti­ger wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen und poli­ti­scher Abhän­gig­kei­ten zu wer­den droht (Stich­wort: neo­li­be­ra­le Umfor­mung des Rechts). Die Eli­ten haben sich selbst in höchs­te Alarm­be­reit­schaft ver­setzt. Denn, wie schon Han­nah Are­ndt die Warn­zei­chen des Ver­trau­ens­ver­lus­tes inter­pre­tier­te, folgt auf den Ver­trau­ens- regel­mä­ßig der Macht­ver­lust. Aber:

(…) auch wenn ihnen das Volk sei­nen Kon­sens zu dem, was die Macht­ha­ber (…) tun und (…) die Macht­ba­sis ent­zieht, bleibt ihr Macht­be­wußt­sein erhal­ten. Das ist die Situa­ti­on (…) und um das Sys­tem auf­recht­zu­er­hal­ten, grei­fen die Macht­ha­ber zur Gewalt. Und mit die­ser Gewalt erset­zen sie die Zustim­mung des Vol­kes; das ist die eigent­li­che Gefahr (…). (9)

Und die Mas­sen­me­di­en? Sie betrei­ben all­dem gegen­über Appease­ment, igno­rie­ren oder frag­men­tie­ren wei­ter die sie stö­ren­de Wirk­lich­keit so gut sie eben kön­nen. Trotz wach­sen­der Kri­tik wird busi­ness as usu­al betrie­ben. Statt die Mäch­ti­gen zu kon­trol­lie­ren und die Leu­te auf­zu­klä­ren, spu­len die Medi­en wei­ter ihr vor­der­grün­di­ges Empö­rungs­ma­nage­ment-Pro­gramm ab – ein­schließ­lich neue­rer For­men betreu­ten Den­kens wie durch die »Fak­ten-Che­cker« und Mei­nungs­wäch­ter der Poli­ti­cal Cor­rect­ness. Jour­na­lis­ten dekre­tie­ren vom hohen Ross, was wahr ist und was nicht, was noch gedacht wer­den darf und was nicht (mehr). Zuneh­mend wird in den Main­stream-Medi­en nicht nur der Kon­takt mit der har­ten gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät gemie­den, son­dern auch dafür gesorgt, dass die Her­de nicht unnö­tig ver­un­si­chert wird und ihren Hir­ten auf Abwe­gen ver­lo­ren geht (10). Dabei scheint der Zweck alle Mit­tel zu heiligen.

Illi­be­ra­lis­mus und Auto­ri­ta­ris­mus sind welt­weit auf dem Vor­marsch. Die soge­nann­te Coro­na-Pan­de­mie war dafür nur ein, wenn auch bis­lang der wich­tigs­te Kata­ly­sa­tor. In Form von Can­cel Cul­tu­re (11) gras­sie­ren Ein­schrän­kun­gen und Zen­sur der Mei­nungs­frei­heit. Die Dif­fa­mie­rung Anders­den­ken­der ist nicht nur gesell­schafts­fä­hig gewor­den, aus­ge­rech­net in den sich beson­ders pro­gres­siv dün­ken­den Tei­len der Gesell­schaft und der Poli­tik wird sogar mehr davon gefor­dert! Man ist geneigt, den fol­gen­den Satz an die Poli­ti­ker, die dies in den Par­tei­zen­tra­len, von der Regie­rungs­bank oder am Red­ner­pult der Par­la­men­te for­dern, zu adres­sie­ren: »Frei­heit schließt immer auch die Frei­heit ein, von der herr­schen­den Mei­nung abzu­wei­chen.« (12) Den Satz hat Han­nah Are­ndt in einem Inter­view geäußert.

Heu­te ist die Beschimp­fung des Sou­ve­räns, sobald er von der Frei­heit »von der herr­schen­den Mei­nung abzu­wei­chen« Gebrauch macht, zum neu­en Ober­ton des Neu­sprechs der poli­ti­schen Klas­se (13) gewor­den, das orwell­sche Asso­zia­tio­nen wach­ruft (14): »Krieg ist Frie­den, Frei­heit ist Skla­ve­rei und Unwis­sen­heit ist Stärke!«

Stän­dig beschwe­ren sich die Poli­ti­ker: »Das Volk hat das Ver­trau­en der Regie­rung ver­scherzt. Wäre es da nicht doch ein­fa­cher, die Regie­rung lös­te das Volk auf und wähl­te ein ande­res?« (Ber­tolt Brecht (15))

Zuletzt ist nun zu allem Über­fluss auch noch der in Euro­pa längst über­wun­den geglaub­te Bel­li­zis­mus mit Macht wie­der auf­er­stan­den. Unglaub­lich, aber wahr ist, dass man seit 2022 dem Krieg in Euro­pa wie­der das Wort redet. Die Welt droht inner­halb von hun­dert Jah­ren ein drit­tes Mal in des­sen Abgrund zu tau­meln und – schlimms­ten­falls – dar­in zu ver­sin­ken. Dach­te man frü­her noch, dass illi­be­ra­le Erschei­nun­gen und gewalt­för­mi­ge Exzes­se nur Was­ser auf die Müh­len der Rechts­po­pu­lis­ten und Rechts­extre­mis­ten sei­en, wird man jetzt eines Bes­se­ren belehrt: Inzwi­schen speist sich beun­ru­hi­gen­der­wei­se ein Phä­no­men dar­aus, das nicht anders als ein neu­er »Extre­mis­mus der Mit­te« zu deu­ten ist. (16)

Das Bild Han­nah Are­ndts erfährt schließ­lich durch die­se kata­stro­pha­len, hier nur kurz ange­ris­se­nen Ent­wick­lun­gen wich­ti­ge, aus mei­ner Sicht längst über­fäl­li­ge Kor­rek­tu­ren. Umso stär­ker sich der Kri­sen­cha­rak­ter der Gegen­wart vor unse­ren Augen ent­hüllt und der Kai­ser nackt dasteht, des­to mehr schmilzt der his­to­ri­sche Puf­fer zu ihrem Den­ken, rückt das, was vor­dem kul­tur­in­dus­tri­ell zuge­kleis­tert wur­de, wie­der nahe an uns heran.

Wäh­rend der kon­ven­tio­nell gepflo­ge­ne Umgang mit Han­nah Are­ndt sich bis­lang auf die para­do­xe For­mel brin­gen ließ, dass sie distanz­los-his­to­ri­sie­rend ein­ge­mein­det wur­de, steht heu­te eine für die poli­ti­sche Bil­dung bedeut­sa­me Neu­be­stim­mung ihres Wer­kes an. Zuvor war sie, ver­mut­lich auf­grund einer all­zu töner­nen, auf einem Auge gegen­über den Errun­gen­schaf­ten unse­rer Kon­sum- und Wohl­stands­de­mo­kra­tie noto­risch blin­den Selbst­zu­frie­den­heit und Selbst­ge­rech­tig­keit, dem Trend zur Ver­kit­schung aus­ge­setzt. In die­sem Kitsch-Sze­na­rio erschien sie als »eine von uns« (nur etwas »klü­ger« viel­leicht), die aller­dings mit dem »Pech« zu kämp­fen hat­te, zu »unzeit­ge­mä­ßer Zeit« gebo­ren wor­den zu sein und daher – in Opfer­ge­stalt der per­so­ni­fi­zier­ten Drei­fal­tig­keit des Mino­ri­tä­ren: Jüdin, Frau und Phi­lo­so­phin – zum Objekt von Ver­fol­gung durch »das Böse« wur­de, das ihr aber auf­grund ihrer per­sön­li­chen Stär­ke am guten Ende doch eigent­lich nichts anha­ben konnte.

Was die hier pos­tu­lier­te Her­aus­for­de­rung, die Are­ndt für die poli­ti­sche Bil­dung dar­stellt, anbe­langt, so gilt es eine Den­ke­rin wie­der­zu­ent­de­cken, die die infor­mier­te Debat­te, den Streit, die Kri­tik, zivi­len Unge­hor­sam, das Recht auf Wider­stand und – hor­ri­bi­li dic­tu! – die Revo­lu­ti­on als die posi­ti­ven, das heißt sinn­stif­ten­den Ele­men­te des Poli­ti­schen expli­ziert, gewür­digt und ins Zen­trum ihres Den­kens gestellt hat. Dies tat sie nicht, um ledig­lich die Begrif­fe für und aus sich selbst her­aus für das wei­te Feld des Poli­ti­schen zu defi­nie­ren. Viel­mehr lei­tet sie die Begrif­fe des Streits, der Kri­tik, des Wider­stands und der Revo­lu­ti­on aus ihrem Frei­heits­be­griff ab und führt sie in plu­ra­len Denk­be­we­gun­gen auch immer wie­der auf die­sen Frei­heits­be­griff zurück. Und sie bringt, last but not least, das in die Poli­tik zurück, was wir wohl alle heu­te ver­mut­lich am sehn­lichs­ten dar­in ver­mis­sen: das Leben, in sei­ner gan­zen Inten­si­tät, Lei­den­schaft und Fülle.

Sicher ist, dass die Frei­heit heu­te von vie­len Sei­ten aus bedroht wird. Den­noch ist dar­auf zu insis­tie­ren, dass es Unter­schie­de im Hin­blick auf die damit tat­säch­lich ver­bun­de­nen Gefah­ren bzw. Gefah­ren­po­ten­zia­le für die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de gibt. Are­ndt hat sich immer wie­der für eine Kul­tur und Pra­xis des poli­ti­schen Unter­schei­dungs­ver­mö­gens ein­ge­setzt. Das macht sie so unzeit­ge­mäß und, so könn­te man etwas tri­cky hin­zu­fü­gen, in die­ser Unzeit­ge­mäß­heit wie­der­um so aktu­ell. Wie Julia Kris­t­e­va betont hat, such­te Han­nah Are­ndt nach einer »nicht sub­jek­ti­ven Fun­die­rung der Poli­tik als Ant­wort auf die Erfah­rung des Grau­ens der tota­li­tä­ren Sys­te­me im 20. Jahr­hun­dert« (17). In Zei­ten, in denen die Poli­tik fast aus­schließ­lich den post­mo­der­nen Kul­ten des Sub­jek­ti­vis­mus hul­digt – die dadurch längst zu einem neu­en gesell­schaft­li­chen Kon­for­mis­mus erstarrt sind – muss dar­an erin­nert wer­den, dass ein Zer­rei­ßen des ohne­hin durch den Neo­li­be­ra­lis­mus schon arg per­fo­rier­ten sozia­len Ban­des, wie es durch die Iden­ti­täts- und Diver­si­täts­po­li­tik und den Ver­such ihr kul­tu­rel­le Hege­mo­nie zu ver­schaf­fen, pro­vo­ziert wird – Bedin­gun­gen schafft, die den Nähr­bo­den für einen neu­en Tota­li­ta­ris­mus bereiten.

Ein Kom­pass fürs Politische

Eine Relek­tü­re der Tex­te von Are­ndt erscheint gera­de jetzt loh­nend, wo der inter­na­tio­nal sich mehr und mehr selbst iso­lie­ren­de, in Sack­gas­sen manö­vrie­ren­de nord­west­at­lan­ti­sche Poli­tik- und Wirt­schafts­block, Deutsch­land vor­an, die »Zei­ten­wen­de« pro­kla­miert hat. Dank der unan­ge­staubt-fri­schen Ori­gi­na­li­tät und glei­cher­ma­ßen cha­ris­ma­ti­schen wie undog­ma­ti­schen Kraft ihres Den­kens, kön­nen wir wie­der einen poli­ti­schen Kom­pass in die Hand bekom­men – ohne dass wir uns des­halb ihrem Den­ken gegen­über unkri­tisch ver­hal­ten müssen.

Nicht zuletzt ermög­licht die­se Relek­tü­re, uns über das zu erhe­ben, was ich als die »moder­ne Höl­le« des elek­tro­ni­schen News­feed- und Social-Media-Zeit­al­ters bezeich­nen möch­te: Über das tri­via­le Info­tain­ment. Es hat Tür und Tor für Mei­nungs­ma­ni­pu­la­tio­nen und eine pro­pa­gan­dis­ti­sche Zurich­tung der Wirk­lich­keit in Dimen­sio­nen geöff­net, wie sie in der ana­lo­gen Gesell­schaft noch nicht vor­stell­bar gewe­sen wären. (18) Die schlim­men Aus­wir­kun­gen von Mani­pu­la­ti­on und Pro­pa­gan­da bekom­men wir (Ukrai­ne-Krieg, Coro­na, Kli­ma­po­li­tik, Agen­da 2030) tag­täg­lich zu spü­ren. (19)

Inter­pre­tiert man die Phä­no­me­ne durch die Bril­le von Are­ndts poli­ti­schen Begrif­fen und Kon­zep­ten, erschei­nen sie als Aus­druck eines ver­lo­ren gegan­ge­nen Welt­be­zu­ges – dazu gleich noch mehr. Des­halb bin ich über­zeugt, dass ihr poli­ti­scher Exis­ten­zia­lis­mus nicht nur unver­min­dert modern ist, son­dern auch eine heil­sa­me Kur gegen den Wirk­lich­keits­ver­lust dar­stellt, von dem Kul­tur, Poli­tik und Gesell­schaft glei­cher­ma­ßen heu­te befal­len sind. Den Aus­druck »Kur« habe ich hier bewusst wegen der Bedeu­tung gewählt, die ihm in der Psy­cho­ana­ly­se zukommt.

Zur Text­ge­ne­se

Eini­ge Bemer­kun­gen zu mei­nem Han­nah Are­ndt-Ver­hält­nis und zur Ent­ste­hung die­ses Tex­tes möch­te ich an die­ser Stel­le ger­ne noch vorausschicken:

Qua­si unter der Hand hat der zwei­te Teil mei­ner Annä­he­run­gen an die Post-Coro­na-Zeit eine wesent­lich ande­re Form als ursprüng­lich geplant ange­nom­men. Der Grund dafür: Wäh­rend mei­ner Recher­chen für den zwei­ten Teil mei­ner Beschrei­bung des Inter­regn­ums im Umfeld kri­ti­scher Unter­su­chun­gen, Ana­ly­sen und Refle­xio­nen zur Coro­na-Kri­se, bin ich auf­fal­lend häu­fig Hin­wei­sen auf das Werk Han­nah Are­ndts begeg­net. Obwohl ich einen eher ent­lang der tages­po­li­ti­schen Ereig­nis­se sich bewe­gen­den, berich­ten­den Ansatz für die Fort­set­zung mei­nes Essays »Die Pan­de­mie ist – nicht – zu Ende. Von der Post-Coro­na-Gesell­schaft in den tota­li­tä­ren Reset?« (20) im Sinn hat­te, weck­te das mei­ne Neu­gier­de und »ver­führ­te« mich zu einer Neulek­tü­re der Schrif­ten der poli­ti­schen Theo­re­ti­ke­rin. Eine »Phi­lo­so­phin«, als die sie meist titu­liert wird, woll­te Are­ndt übri­gens nicht genannt wer­den, weil für sie – unter dem Ein­druck der bei­den Welt­krie­ge und die das 20. Jahr­hun­dert prä­gen­de Herr­schaft tota­li­tä­rer Sys­te­me – die Phi­lo­so­phie »eine ›welt­lo­se‹ Wis­sen­schaft gewor­den« war, »der sie nicht ange­hö­ren« woll­te. (21)

Wich­tig und prä­gend war für sie in dem Zusam­men­hang das völ­li­ge Ver­sa­gen der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie am Beginn des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Are­ndt muss­te aus nächs­ter Nähe mit anse­hen, wie das abs­trak­te phi­lo­so­phi­sche Den­ken kei­ner­lei Wider­stands­po­ten­ti­al gegen das tota­li­tä­re Den­ken bot und die Phi­lo­so­phen der Gleich­schal­tung nicht das gerings­te ent­ge­gen­zu­set­zen hat­ten, weil ihnen – so Are­ndts Deu­tung – die dafür not­wen­di­ge Rück­bin­dung an die Wirk­lich­keit, ihr Welt­be­zug, abhan­den­ge­kom­men war. Die­sen Welt­be­zug sah sie zum Bei­spiel in den poli­ti­schen Schrif­ten Kants als vor­bild­lich gege­ben an. Eben­falls bewun­der­te sie ihren phi­lo­so­phi­schen Leh­rer Karl Jas­pers dafür. In ihrem ande­ren gro­ßen Leh­rer Mar­tin Heid­eg­ger stand ihr dage­gen ein Bei­spiel für die Ent­fer­nung, Ent­frem­dung und Abge­ho­ben­heit der Phi­lo­so­phie von der poli­ti­schen Wirk­lich­keit vor Augen. Distanz zum Poli­ti­schen, Ent­frem­dung, Abge­ho­ben­sein, Welt­ver­lust und Ent­wur­ze­lung wur­den zu The­men, gegen die sie selbst zeit­le­bens anschrieb. Sie nah­men auch im Hin­blick auf ihr per­sön­li­ches Ver­hält­nis zu Heid­eg­ger – als jun­ge Stu­den­tin, 1925 in Mar­burg, hat­te sie eine heim­li­che Lie­bes­af­fä­re mit ihm – bio­gra­phisch eine so gro­ße Bedeu­tung ein, dass man ohne Über­trei­bung sagen kann, dass die Bezie­hung zu Heid­eg­ger sie ihr gan­zes Leben lang nicht los­ge­las­sen hat.

Trotz der Kreuz­zü­ge gegen kri­ti­schen Erkennt­nis­ge­winn: Ohne his­to­ri­sches Ver­glei­chen ist kei­ne poli­ti­sche Urteils­bil­dung möglich

Han­nah Are­ndt vor dem Hin­ter­grund der Fol­gen und Wei­te­run­gen, die der Coro­na-Aus­nah­me­zu­stand zei­tigt – und wei­ter zei­ti­gen wird (da die »Pan­de­mie«, nament­lich der Covid-Aus­nah­me­zu­stand als gesell­schaft­li­ches Groß­ex­pe­ri­ment und Ver­suchs­bal­lon für den glo­ba­len Reset wirk­lich nicht vor­bei ist (22)) – teils zum ers­ten Mal, teils erneut zu lesen, soll­te mir ech­te »Aha-Erleb­nis­se«, und die gleich in Serie besche­ren! Es war ver­blüf­fend zu sehen, in wie vie­len Sät­zen und Pas­sa­gen ich etwas fand, was mich auf­hor­chen und in eine beson­de­re Reso­nanz zu ihren Wor­ten und Gedan­ken tre­ten ließ. Zunächst ganz intui­tiv wur­de ich dar­auf auf­merk­sam gemacht, welch gro­ßes Poten­zi­al ihr Werk für mein eige­nes Unter­neh­men einer Beschrei­bung des Post-Coro­na-Inter­regn­ums birgt und dass es eine sicher­lich zwar ziem­lich auf­wän­di­ge, aber loh­nens­wer­te Auf­ga­be wäre, die­sen Schatz zu heben.

Dank die­ser Ber­gung und Siche­rung span­nen­der und auf­schluss­rei­cher Spu­ren, wei­ter­füh­ren­der Hin­wei­se und zu Exkur­sen ein­la­den­der Impul­se, die zum Ver­such bei­tru­gen, mei­ne eige­ne Signa­tur der Post-Coro­na-Zeit am hei­ßen Gegen­stand zu zeich­nen und zur Dis­kus­si­on zu stel­len – wur­de mir klar, war­um in zahl­rei­chen tie­fer gehen­den Ana­ly­sen und die Hin­ter­grün­de der Coro­na-Kri­se aus­leuch­ten­den Betrach­tun­gen – häu­fig und kei­nes­falls bloß zufäl­lig – auf Argu­men­te, Denk­fi­gu­ren und Ein­sich­ten Han­nah Are­ndts Bezug genom­men wird. Tat­säch­lich las­sen sich sowohl in Are­ndts Stu­di­en zum Tota­li­ta­ris­mus als auch in ihren zeit­dia­gnos­ti­schen Essays span­nen­de Anstö­ße und pro­duk­ti­ve Anknüp­fungs­punk­te zur Erkun­dung und Erschlie­ßung der Jetzt-Zeit fin­den. Vor­zugs­wei­se ihre Rekon­struk­ti­on der phä­no­me­no­lo­gisch-his­to­ri­schen Kri­tik der Grund­be­grif­fe poli­ti­scher Theo­rie hilft dabei, unse­re eige­ne Gegen­wart bes­ser ver­ste­hen zu ler­nen. Ich bin mir sicher, dass im Ange­sicht der mul­ti­plen Kri­sen, unter denen wir leben, unse­re poli­ti­sche Urteils­fä­hig­keit durch die Aus­ein­an­der­set­zung mit ihrem Werk in bedeut­sa­men Umfang wach­sen, rei­fen, sich pro­blem­sen­si­bel umbil­den und neu geschärft wer­den kann.

II Han­nah Are­ndts Rol­le in der »größ­ten Geschichts­lek­ti­on« der Deutschen

Die Frei­heit beruht nur (…) auf der Über­zeu­gung, daß jedes mensch­li­che Wesen, als ein den­ken­des Wesen, genau­so den­ken kann wie ich und des­halb selbst beur­tei­len kann, ob es das will. (…) Was allein uns wirk­lich hel­fen kann, mei­ne ich, ist ‚réflé­chir’, – Nachdenken.

Und den­ken heißt stets kri­tisch den­ken. Und kri­tisch den­ken bedeu­tet stets dage­gen sein. Alles Den­ken unter­mi­niert tat­säch­lich, was immer es an star­ren Regeln, all­ge­mei­nen Über­zeu­gun­gen etc. gibt. Alles, was sich im Den­ken ereig­net, ist einer kri­ti­schen Über­prü­fung des­sen, was ist, unter­wor­fen. Das heißt, es gibt kei­ne gefähr­li­chen Gedan­ken – aus dem ein­fa­chen Grund, weil das Den­ken sel­ber ein solch gefähr­li­ches Unter­fan­gen ist (…) – Nicht-Den­ken aller­dings, glau­be ich, ist noch gefähr­li­cher. (23)

Han­nah Arendt

Viel­leicht die größ­te Lek­ti­on in der Geschich­te ist, dass nie­mand die Lek­tio­nen der Geschich­te gelernt hat.

Aldous Hux­ley

Kaum ein Den­ker des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, der zum Ver­ständ­nis heu­ti­ger Poli­tik so viel bei­tra­gen und die gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Debat­ten so inspi­rie­ren könn­te, wird so ver­kannt wie Han­nah Arendt.

Mag auch in der Wis­sen­schaft – par­ti­ell zumin­dest– ein dif­fe­ren­zier­tes Bild von ihr gezeich­net wer­den, wirkt die­ses doch über den her­me­ti­schen Kreis der Fach­leu­te nicht hin­aus. In der Rea­li­tät, oder bes­ser: in dem, was heu­te tat­säch­lich Durch­lass in die Rea­li­tät fin­det, ist die Wir­kung Han­nah Are­ndts, die in einem intel­lek­tu­ell weit­hin nivel­lier­ten, dem Geist gegen­über indif­fe­rent bis ableh­nend geson­ne­nen Kli­ma unse­rer Gegen­wart selbst zu einer Figur der Kul­tur­in­dus­trie gewor­den ist, um ihr Bes­tes gebracht. Man hat nicht ver­hin­dern kön­nen, dass die Jüdin, die aus Deutsch­land Aus­ge­bür­ger­te, der staa­ten- und recht­los gemach­te Flücht­ling, der Paria – »Paria«, in Gegen­über­stel­lung zum »Par­venu« – ist dann auch als ein Schlüs­sel­wort zur Deu­tung ihrer Lebens- und Welt­an­schau­ung anzu­se­hen (24) – zur Staats­phi­lo­so­phin gemacht wur­de. Aus­ge­rech­net jener Per­son, die zeit ihres Lebens, trotz gro­ßer öffent­li­cher Aner­ken­nung und hoher aka­de­mi­scher Wür­den, stets einer rand­stän­di­gen, zu jedem Main­stream Distanz hal­ten­den Exis­tenz­po­si­tio­nie­rung bewusst den Vor­zug gab, wur­de das zuteil, was man als ein iro­ni­sches Nach­le­ben bezeich­nen kann.

Deutsch­land im Spie­gel eines jüdi­schen Pari­as – und vice versa

Zwei Brief­stel­len mögen die Rede vom intel­lek­tu­el­len Paria­tum der Han­nah Are­ndt ver­deut­li­chen: An einer Stel­le des Brie­fes an ihren Men­tor und Freund, den Arzt und Phi­lo­so­phen Karl Jas­pers vom 29. Janu­ar 1946, heißt es:

Sehen Sie, ich bin in kei­ner Wei­se respec­ta­ble gewor­den. Bin mehr denn je der Mei­nung, daß man eine men­schen­wür­di­ge Exis­tenz nur am Ran­de der Gesell­schaft sich heu­te ermög­li­chen kann, wobei man dann eben mit mehr oder weni­ger Humor ris­kiert, von ihr ent­we­der gestei­nigt oder zum Hun­ger­to­de ver­ur­teilt zu wer­den. Ich bin hier ziem­lich bekannt und habe bei man­chen Men­schen in gewis­sen Fra­gen ein wenig Auto­ri­tät; das heißt sie haben Ver­trau­en zu mir. Aber das kommt auch unter ande­rem daher, daß sie wis­sen, daß ich weder aus Über­zeu­gun­gen noch aus ‚Bega­bun­gen‘ eine Kar­rie­re zu machen wün­sche.25

In einem Brief an Ger­hard Scholem vom 20. Juli 1963, in dem Are­ndt auf des­sen schar­fe Kri­tik über ihr Eich­mann-Buch ant­wor­tet, schreibt sie:

Was Sie (…) ver­wirrt, ist, daß mei­ne Argu­men­te und mei­ne Denk­wei­se nicht vor­ge­se­hen sind. Oder mit ande­ren Wor­ten, daß ich unab­hän­gig bin. Und damit mei­ne ich einer­seits, daß ich kei­ner Orga­ni­sa­ti­on ange­hö­re und immer nur im eige­nen Namen spre­che; und ande­rer­seits, daß es dar­auf ankommt, selbst zu den­ken, und daß, was immer Sie gegen die Resul­ta­te ein­zu­wen­den haben, Sie sel­bi­ge nicht ver­ste­hen wer­den, wenn Ihnen nicht klar ist, daß sie die mei­ni­gen sind und nie­man­des sonst.26

Damit, dass Deutsch­land Han­nah Are­ndt nach Nazi-Faschis­mus und Krieg »nicht gestei­nigt«, son­dern statt­des­sen eine Art Staats­phi­lo­so­phin aus ihr gemacht hat, mach­te es sich das Land mit die­ser »unbe­que­men Den­ke­rin« (im Grun­de stellt schon die­se Wort­ver­bin­dung einen Pleo­nas­mus für Are­ndt dar) leicht. Da man sie im Nach­kriegs­deutsch­land wegen ihrer jüdi­schen Abstam­mung und ihres Emi­gran­ten­schick­sals, aber wohl auch auf­grund der Tat­sa­che, dass sie sich als eine Frau in der Män­ner­do­mä­ne der poli­ti­schen Theo­rie und Phi­lo­so­phie behaup­te­te, nicht als Nest­be­schmut­zer wie ande­re behan­deln konn­te, hob man sie in den Phi­lo­so­phen­him­mel, zeich­ne­te sie als »Auf­klä­re­rin« mit Prei­sen aus – dar­un­ter stolz mit einem Preis, den die Nazis völ­kisch instru­men­ta­li­siert hat­ten (den Les­sing-Preis der Frei­en und Han­se­stadt Ham­burg, den sie 1959, nach lan­gem Zögern und trotz gro­ßem Unbe­ha­gen annahm) – und über­sah mit einer gewis­sen, pene­tran­ten Beflis­sen­heit dabei, dass ihre Aus­ein­an­der­set­zung mit der tota­li­tä­ren Logik des Faschis­mus, mit Eich­mann und »der Bana­li­tät des Bösen« etwas war, was doch eigent­lich die im Land geblie­be­nen Deut­schen hät­ten auf sich neh­men müs­sen. Dafür aber hät­ten sie in den Spie­gel bli­cken müs­sen, und das woll­ten sie nicht. So wur­de, wie man heu­te sagen wür­de, das schlech­te Gewis­sen kol­lek­tiv »aus­ges­ourct« und Reue auf fei­er­li­che Wei­se, pro for­ma im wei­he­vol­len Air außer­all­täg­li­cher, gra­vi­tä­tisch-stei­fer Gedenk­stun­den­ri­tua­le bloß aus­ge­stellt und mons­tranz­ar­tig vor sich hergetragen.

Revo­lu­ti­on und revo­lu­tio­nä­rer Geist

Hin­zu trat, dass Are­ndts angeb­li­cher Anti-Kom­mu­nis­mus der Restau­ra­ti­on der Ade­nau­er-Zeit sehr gele­gen kam. Genau betrach­tet han­delt es sich bei ihrem »Anti-Kom­mu­nis­mus« um eine dezi­dier­te Geg­ner­schaft zum Bol­sche­wis­mus. Sehr anschau­lich geht die­se Geg­ner­schaft zum Bei­spiel aus ihrem Essay über Rosa Luxem­burg (27) her­vor, der voll Hoch­ach­tung, ja Bewun­de­rung und Lie­be über die­se außer­or­dent­li­che Frau und Kom­mu­nis­tin spricht. Luxem­burg, die sich zusam­men mit Karl Lieb­knecht im ent­schei­den­den Moment gegen den Bol­sche­wis­mus stell­te und 1919 nach Nie­der­schla­gung des Spar­ta­kis­ten-Auf­stan­des von kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Sol­da­ten mit Bil­li­gung des SPD-Reichs­in­nen­mi­nis­ters Noske ermor­det wur­de, wur­de früh für Are­ndt zum Vor­bild ihres Poli­tik-und Revo­lu­ti­ons­ver­ständ­nis­ses. Die tie­fe Abscheu gegen Sta­lin hin­ge­gen kommt beson­ders deut­lich in ihrem fein­füh­li­gen, lyrisch-ver­stän­di­gen und dich­ten Brecht-Por­trät (28) – Are­ndt begeg­ne­te ihm im Pari­ser Exil – zum Ausdruck.

Han­nah and Hein­rich Blü­cher in New York, ca. 1950

Are­ndt, die aus sozi­al­de­mo­kra­ti­schem Haus stamm­te und im Geis­te eines selbst­be­wuss­ten libe­ra­len Reform­ju­den­tums auf­wuchs, hat spä­ter dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie erst durch die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Macht­über­nah­me ein poli­ti­scher Mensch wur­de. Den­noch kam sie schon in der Wei­ma­rer Repu­blik mit lin­ken, mar­xis­tisch ori­en­tier­ten Intel­lek­tu­el­len in Berüh­rung. Spä­tes­tens im Pari­ser Exil wur­de die­ses Milieu auch zu dem ihren, wobei sie sich geis­tig durch ihren zwei­ten Ehe­mann, Hein­rich Blü­cher (1899 – 1970), räte­kom­mu­nis­ti­schen Posi­tio­nen annä­her­te. Den Ber­li­ner Arbei­ter­sohn Blü­cher, der sich im Novem­ber 1918 dem Spar­ta­kis­ten­auf­stand ange­schlos­sen hat­te und Anfang 1919 zunächst Mit­glied der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei (KPD), danach der Kom­mu­nis­ti­schen Arbei­ter Par­tei (KAPD) wur­de (die KAPD spal­te­te sich als lin­ker, anti­par­la­men­ta­ri­scher Flü­gel der KPD aus Pro­test gegen den Aus­schluss ihrer Ver­tre­ter vom Hei­del­ber­ger Par­tei­tag der KPD 1919 ab), hat­te sie 1936 in Paris ken­nen­ge­lernt, das Paar hei­ra­te­te 1940. Blü­cher wur­de im fran­zö­si­schen Exil von der Aus­lands­or­ga­ni­sa­ti­on der KPD wegen Ableh­nung der Volks­front­po­li­tik und sei­ner Unter­stüt­zung für eine »deut­sche Sowjet-Repu­blik« aus­ge­schlos­sen. Obwohl Blü­cher nach dem Krieg zu einem schar­fen Kri­ti­ker des dok­tri­nä­ren Mar­xis­mus wur­de, ist er den räte­kom­mu­nis­ti­schen Vor­stel­lun­gen treu geblie­ben. Damit beein­fluss­te er Are­ndts Den­ken nach­hal­tig. Die inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit dem Revo­lu­ti­ons­the­ma, das sich von Vita acti­va, Über die Revo­lu­ti­on bis zu Macht und Gewalt und den spä­ten Essays über zivi­len Unge­hor­sam – kri­ti­schen Bestands­auf­nah­men zur poli­ti­schen Lage in den USA seit dem Viet­nam-Krieg bis zur Water­ga­te-Affä­re und ihren Fol­gen – als roter Faden durch ihr Werk zie­hen soll­te, ist sicher zu einem nicht unwe­sent­li­chen Teil auf Blü­chers Ers­te-Hand-Erfah­run­gen als »Berufs­re­vo­lu­tio­när mit dem Tarn­na­men ›Hein­rich Lar­sen‹ « zurück­zu­füh­ren. Als sol­cher »(…) beschaff­te er Infor­ma­tio­nen über die ille­ga­le Auf­rüs­tung der Reichs­wehr und bil­de­te Fun­ker für den sowje­ti­schen Nach­rich­ten­dienst (…) im ille­ga­len Mili­tär-Appa­rat der KPD (…) aus.« (29)

Are­ndt ver­band die­se Erfah­run­gen mit dem von Heid­eg­ger über­nom­me­nen Den­ken in exis­ten­zi­al­on­to­lo­gi­schen Kate­go­rien, wel­che sie aller­dings radi­kal refor­mu­lie­ren soll­te: Are­ndt lag es sehr dar­an, Heid­eg­gers mono­lo­gi­sche Kon­sti­tu­ie­rung von Welt zuguns­ten eines radi­kal inter­sub­jek­ti­ven Welt­be­griffs und sei­ne meta­phy­si­sche Todes­ver­fal­len­heit (»das Sein zum Tode«) zuguns­ten einer emer­genz­theo­re­ti­schen Sicht­wei­se, die die Offen­heit aller sozia­len und geschicht­li­chen Ent­wick­lun­gen und ihre prin­zi­pi­el­le poli­ti­sche Gestalt­bar­keit betont, der Nata­li­tät, zu über­win­den. Unter Nata­li­tät (Gebürt­lich­keit) ver­steht Are­ndt die exis­ten­zia­le Bedin­gung bzw. Gege­ben­heit, die es dem Men­schen ermög­licht Neu­es zu begin­nen, weil der Mensch laut Are­ndt »der Anfang des Anfangs oder des Anfan­gens selbst« (30) ist. Oder wie es der Theo­lo­ge Jochen Teuf­fel ausdrückt:

Der Neu­be­ginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur dar­um zur Gel­tung brin­gen, weil dem Neu­an­kömm­ling die Fähig­keit zukommt, selbst einen neu­en Anfang zu machen, das heißt zu han­deln. (…) Und da Han­deln (…) die poli­ti­sche Fähig­keit par excel­lence ist, könn­te es wohl sein, daß Nata­li­tät für poli­ti­sches Den­ken ein so ent­schei­den­des (…) Fak­tum dar­stellt, wie Sterb­lich­keit seit eh und je und im Abend­land zumin­dest seit Pla­to der Tat­be­stand war, an dem meta­phy­sisch-phi­lo­so­phi­sches Den­ken sich ent­zün­de­te. (31)

Was die Nata­li­tät in Bezug auf den ein­zel­nen Men­schen ist, das ist die Revo­lu­ti­on in Bezug auf die mensch­li­che Gemeinschaft:

Der Sinn von Revo­lu­ti­on ist die Ver­wirk­li­chung einer der größ­ten und grund­le­gends­ten mensch­li­chen Poten­zia­le, näm­lich die unver­gleich­li­che Erfah­rung, frei zu sein für einen Neu­an­fang. (32)

Dar­an sieht man, dass es Are­ndt nie um eine Kri­tik der Revo­lu­ti­on im »bür­ger­li­chen« Sin­ne der Ableh­nung, Abschwä­chung, Ein­däm­mung – auch nicht um ihre Rela­ti­vie­rung im his­to­ri­schen Sinn – viel­mehr stets um das poli­tisch rich­ti­ge Ver­ständ­nis von Revo­lu­tio­nen ging. Vom obsie­gen­den Teil der revo­lu­tio­nä­ren kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung in Russ­land unter­schied sie sich durch das Fest­hal­ten an der For­de­rung, eine klas­sen­lo­se, herr­schafts­freie Gesell­schaft tat­säch­lich durch sozia­le Kon­trol­le über die Pro­duk­ti­ons­mit­tel und den Pro­duk­ti­ons­pro­zess zu ver­wirk­li­chen. Die Men­schen soll­ten durch die Revo­lu­ti­on selbst als Han­deln­de, inso­weit sie die poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen und Geschi­cke jeder­zeit und unein­ge­schränkt mit­be­stim­men kön­nen, das heißt als voll­gül­ti­ge, im vol­len Besitz ihrer geis­ti­gen und sozia­len Kräf­te inter­agie­ren­den Men­schen, in ihr Recht gesetzt wer­den. Alles ande­re, ob auf dem Gebiet der Wirt­schaft oder der Poli­tik, sei Ent­eig­nung und zie­le auf die Schwä­chung der mensch­li­chen Poten­tia­le ab. So äußer­te sie die Auffassung:

Natür­lich dür­fen Pro­duk­ti­ons­mit­tel ande­rer Men­schen nicht mir gehö­ren; sie müs­sen ver­mut­lich von einer drit­ten, unpar­tei­ischen Instanz ver­wal­tet wer­den, was heißt, daß sie nie­man­dem gehö­ren. Am schlech­tes­ten aber sind wir zwei­fel­los dran, wenn der Staat, sei es im Staats­so­zia­lis­mus oder im Staats­ka­pi­ta­lis­mus, im Namen des Pro­le­ta­ri­ats oder im Namen der Nati­on, zum Eigen­tü­mer wird. (33)

Geschicht­lich ver­lief die Ent­wick­lung so, dass in Russ­land die Bol­sche­wi­ki, unter Lenins Füh­rung zur Macht gelangt, den Ein­fluss der Arbeiter‑, Bau­ern- und Sol­da­ten­rä­te (»Sowjets«), die sie zuvor geschickt als revo­lu­tio­nä­re Mas­sen­ba­sis zu nut­zen wuss­ten (»Alle Macht den Räten!«), zuguns­ten ihrer Ein-Par­tei­en-Dok­trin zurück­dräng­ten. (34)

Wie ihre Bio­gra­phin Eli­sa­beth Young-Brühl bemerkt hat, befass­te sich Are­ndt »nicht mit den Revo­lu­tio­nen, um ihre Geschich­te zu umrei­ßen oder um sie typi­sie­ren« zu kön­nen, »son­dern um ein Ide­al für die Pra­xis dar­zu­stel­len.« (35)

Der Satz: »Das Wesen, wie mir scheint, der moder­nen Revo­lu­ti­on (…) ist, dass man nicht sag­te, wir wol­len herr­schen, son­dern wir wol­len nicht mehr, dass es Herr­schaft gibt«, drückt ihr Cre­do aus. (36)

Und in der Stu­die Macht und Gewalt (1969) bezeich­net sie den Ruf nach »Mit­be­stim­mungs­de­mo­kra­tie (…) aus dem Bes­ten der Revo­lu­ti­on stam­mend« und nennt das »Räte­sys­tem, die immer wie­der ver­nich­te­te, ein­zig authen­tisch aus der Revo­lu­ti­on gebo­re­ne Staats­form.« (37)

Für sie waren also zunächst die Vor­aus­set­zun­gen und Bedin­gun­gen zu klä­ren, die gege­ben sein müs­sen, damit das »Reich der Frei­heit«, wel­ches von jeder Revo­lu­ti­on ver­spro­chen wird – und wodurch die Men­schen erst als Akteu­re revo­lu­tio­nä­rer Bewe­gung in Erschei­nung tre­ten – sich tat­säch­lich dann auch neu grün­den und dau­er­haf­te Gestalt anneh­men kann. Dass der »radi­kals­te Revo­lu­tio­när ein Tag nach der Revo­lu­ti­on zum Kon­ser­va­ti­ven« (Are­ndt) wird, die­ser zunächst para­dox anmu­ten­den Iro­nie ging sie auf den Grund, nicht nur um die qua­si-gesetz­mä­ßi­ge, ernüch­tern­de Wand­lung des Berufs­re­vo­lu­tio­närs, die dahin­ter steckt, intel­lek­tu­ell ver­ste­hen zu wol­len, son­dern um dar­aus end­lich die Mit­tel zu gewin­nen, sie durch­bre­chen und been­den zu können.

Anhand der ame­ri­ka­ni­schen und Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on zeigt sie, wie das revo­lu­tio­nä­re Han­deln sich schon im Ges­tus der Pro­kla­ma­ti­on der Frei­heit ver­aus­gabt und im Moment des Her­bei­füh­rens am revo­lu­tio­nä­ren Schei­tel­punkt erschöpft hat­te, um fata­ler­wei­se schon im nächs­ten Augen­blick in sein Gegen­teil umzu­schla­gen. Statt dass durch die Befrei­ung das Reich der Frei­heit Ver­wirk­li­chung erfährt, wer­den in der unmit­tel­bar dem revo­lu­tio­nä­ren Auf­stand fol­gen­den Zeit neue Herr­schafts- und Kon­troll­zen­tren errich­tet, die bestrebt sind, die neue Ord­nung mit über­kom­me­nen Mit­teln zu sichern und so zu kon­so­li­die­ren, dass die über­wun­den geglaub­ten Herr­schafts­mus­ter reak­ti­viert und wie­der­ein­ge­setzt wer­den. Das Bei­spiel der Sans­cu­lot­ten und Jako­bi­ner in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on lehrt, wie dar­aus neu­es Unrecht und neue Unter­drü­ckung ent­steht. Aber mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on setz­te auch ein Über­bie­tungs­wett­be­werb auf dem Feld von Macht und Gewalt ein, mit dem – durch die Mit­tel des Terr­eurs, als zen­tra­lem Ele­ment der Dik­ta­tur des Wohl­fahrts­aus­schus­ses unter Füh­rung Maxi­mi­li­en de Robes­pierre (38) neue des­po­ti­sche Ver­hält­nis­se geschaf­fen wur­den. Dem Terr­eur des Wohl­fahrts­aus­schuss fiel eine erschre­ckend hohe Anzahl von Men­schen bin­nen eines ein­zi­gen Jah­res zum Opfer. (Man bezif­fert die Opfer des Terr­eur-Regimes, das zwi­schen Juni 1793 und Juli 1794 herrsch­te, auf etwa 40.000 – bei einer dama­li­gen Bevöl­ke­rung Frank­reichs von ca. 27 Mil­lio­nen Menschen).

Mit ande­ren Wor­ten: Are­ndt woll­te zur Ret­tung und Auf-und Errich­tung der Frei­heit als obers­tem poli­ti­schen Prin­zip des Zusam­men­le­bens, dass die Revo­lu­ti­on nicht bloß sinn­bild­lich – das emble­ma­tischs­te Bild der Revo­lu­ti­on, das Gemäl­de von Eugé­ne Delacroix heißt: »La Liber­té gui­dant le peu­ple« (39) – »Die Frei­heit führt das Volk«– son­dern ihrer gan­zen Logik nach und ihrem tie­fen Ver­ständ­nis des Sinns von gemäß vom Enga­ge­ment zur Ver­wirk­li­chung der Frei­heit ange­führt und gelei­tet wer­de. Es ging ihr dar­um, hin­ter den Mecha­nis­mus und sei­ne Dyna­mik zu kom­men, der in ernüch­tern­der Regel­mä­ßig­keit dafür ver­ant­wort­lich war, »dass die Revo­lu­ti­on ihre Kin­der frisst«.

Doch all das, was zu den wah­ren Antrie­ben, den tie­fe­ren Beweg­grün­den und ethi­schen Moti­ven ihres Den­kens gezählt wer­den muss, über­blick­te und ver­stand man in Deutsch­land nicht und – viel ent­schei­den­der – man woll­te es auch gar nicht ver­ste­hen. Was soll­te man schließ­lich auch mit einer Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin jüdi­scher Abstam­mung anfan­gen, die ein »Recht auf Revo­lu­ti­on« (40) pos­tu­lier­te? Die – als Quint­essenz aus den kor­rum­pier­ten und ent­täusch­ten Hoff­nun­gen der Revo­lu­tio­nen – klipp und klar einen »Geist des Wider­stan­des« des Vol­kes für den Fall legi­ti­mier­te, dass »die Schei­dung des Vol­kes in Regie­ren­de und Regier­te (…) als der eigent­li­che Sinn des Reprä­sen­tan­ten­sys­tems« (41) nicht auf­ge­ho­ben wird? Was soll man von einer sehr selbst­be­wuss­ten Frau, die die For­de­rung Les­sings »sich selbst zu leben« (42) zur Maxi­me ihres Han­delns gemacht hat­te, hal­ten, die 60 Jah­re vor uns Sät­ze for­mu­lier­te, die heu­te – noch oder wie­der? – abso­lut aktu­ell und äußerst bri­sant klin­gen? Sie wur­den schon damals als Pro­vo­ka­ti­on emp­fun­den, begeis­ter­ten aber ande­rer­seits die vom Sinn­va­ku­um der »ver­wal­te­ten Welt« (Ador­no) heim­ge­such­te, auf­be­geh­ren­de Jugend in den indus­tria­li­sier­ten Gesellschaften:

Wie­der wird das Volk aus dem Bereich der Öffent­lich­keit aus­ge­schlos­sen, wie­der sind die öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten zum Pri­vi­leg der Weni­gen gewor­den (…). Die Fol­ge (…) ist, dass das Volk dazu ver­dammt ist, ent­we­der ›in Lethar­gie zu ver­sin­ken, wel­cher der Tod der öffent­li­chen Frei­heit auf den Fuß folgt‹, oder den ›Geist des Wider­stan­des‹ gegen jede von ihnen gewähl­te Staats­macht zu bewah­ren, da die ein­zig ihnen ver­blei­ben­de wirk­li­che Macht die in ›Reser­ve gehal­te­ne Macht der Revo­lu­ti­on‹ ist. (43)

Frü­he BRD-Kon­ti­nui­tät mit dem Nazismus

Das kol­lek­ti­ve Selbst woll­te in der Nach­kriegs-BRD jedoch nur schnell zurück zur »Nor­ma­li­tät«, das heißt zurück zu dem, was vor dem Krieg dafür gehal­ten wur­de, und man woll­te die­ses Ziel mit so weni­gen Frik­tio­nen wie nur mög­lich errei­chen (44). Für Revo­lu­tio­nen hat­te man schon gar kei­nen Sinn. Schließ­lich hall­te in dem Wort ja noch die »völ­ki­sche« Revo­lu­ti­on von 1933 nach und davon woll­te man erst recht nichts mehr hören, sehen und wis­sen. Ohne­hin stieß im west­deut­schen Front­staat des Kal­ten Krie­ges, zu dem die Ade­nau­er-Regie­rung die Bun­des­re­pu­blik im Hand­um­dre­hen, sehr zu Are­ndts Ent­set­zen gemacht hat­te, jede Dif­fe­ren­zie­rungs­be­mü­hung in Bezug auf die The­men und das ange­stamm­te Ter­rain der poli­ti­schen Lin­ken auf tau­be Ohren. Man hat­te als­bald, zumin­dest zum Teil, mit der neu­en bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Staats­rä­son gleich ab 1949 eine Kon­ti­nui­tät zur natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zeit wie­der­her­ge­stellt. Noch ehe die Demo­kra­tie sich ein­spie­len und den öffent­li­chen Raum für sich erobern konn­te und sie wirk­lich durch neue Struk­tu­ren zu Leben erweckt wor­den wäre, stand die bun­des­deut­sche Staats­rä­son als Pro­dukt der geo­stra­te­gi­schen Inter­es­sen­la­gen Washing­tons schon fest. Die­se nah­men dem zar­ten Geschöpf demo­kra­ti­scher Erneue­rung sogleich die Luft zum Atmen.

Das kon­ti­nui­täts­stif­ten­de Moment der Poli­tik war dar­an zu erken­nen, dass man sofort nicht nur wie­der zur Ver­fol­gung der Kom­mu­nis­ten (45) blies – deren poli­ti­sche Spit­zen­funk­tio­nä­re damals noch als frei gewähl­te KPD-Abge­ord­ne­te in den Land­ta­gen der Bun­des­län­der und im Bun­des­tag saßen – son­dern die­se Ver­fol­gung gene­ral­stabs­mä­ßig mit Hil­fe in- und aus­län­di­scher Geheim­diens­te orga­ni­sier­te und durch­setz­te. Dazu pass­te es gut, Are­ndts kom­ple­xe Hal­tung zum Kom­mu­nis­mus ver­zerrt und ein­sei­tig über­zeich­net wie­der­zu­ge­ben. Alles, was sie sorg­sam schied – ihre Kri­tik am Staats­so­zia­lis­mus im All­ge­mei­nen und dem Sta­li­nis­mus im Beson­de­ren – lan­de­te in einem Topf. Dazu gehört, dass man Falsch­in­for­ma­tio­nen über »Ele­men­te und Ursprün­ge tota­ler Herr­schaft« (die deut­sche Aus­ga­be erschien 1955) zur eige­nen Ent­las­tung kol­por­tier­te, vor allem sol­che, nach denen Are­ndt in die­sem Werk dar­ge­legt hät­te, dass Natio­nal­so­zia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus von glei­chem Übel sei­en, was Are­ndt tat­säch­lich nie behaup­te­te – im Gegenteil!

Wenn man sich näher mit Han­nah Are­ndts Ver­hält­nis zu Deutsch­land und vice ver­sa beschäf­tigt (ein For­schungs­ge­biet, wel­ches trotz Hoch­kon­junk­tur der Are­ndt-Exege­sen merk­wür­di­ger­wei­se brach liegt), kommt man um die Fra­ge nicht her­um, ob die Bun­des­re­pu­blik, die sich in einer Mix­tur aus gedan­ken­lo­ser Bequem­lich­keit und Über­for­de­rung ihrem poli­ti­schen Den­ken gegen­über eben­so unsen­si­bel wie igno­rant zeig­te, gera­de des­halb der Per­son H.A. einen sozu­sa­gen unbe­fris­tet gül­ti­gen, auf Repu­ta­ti­on, Ruhm und Ehre abon­nier­ten Frei­fahrt­schein aus­stell­te? War das die­sel­be Bun­des­re­pu­blik, die sie in den Brie­fen von ihren Besu­chen und teils län­ge­ren Auf­ent­hal­ten dort, ab 1949 beschrieb? Schon die Ein­drü­cke der ers­ten Rei­se, die sie zurück nach Deutsch­land brach­te, aus dem sie 16 Jah­re zuvor in äußers­ter Lebens­ge­fahr – bereits im Früh­jahr 1933 hat­te die Gesta­po sie für kur­ze Zeit ver­haf­tet – geflo­hen war, beschrieb sie in bemer­kens­wert unge­schmink­ter Diktion:

Die Deut­schen leben von der Lebens­lü­ge und der Dumm­heit. Wenn du hier eine Woche lang sämt­li­che Zei­tun­gen von rechts bis links gele­sen hast, dann bist du reif für die Rück­fahrt. Und alles im Tone der Scha­den­freu­de geschrie­ben. Wahr ist, dass jeder gegen den Krieg ist (Anm. B.S.: Are­ndt spielt hier auf die frü­hen Dis­kus­sio­nen zur Wie­der­be­waff­nung an). Das drü­cken die Zei­tun­gen etwa so aus: Seht Ihr, nun wollt Ihr auf ein­mal, daß wir Sol­da­ten wer­den, aber hä, hä, jetzt sind wir gera­de Pazi­fis­ten (…) sie seh­nen sich halt nach Hit­lern ohne Krieg zurück, ver­ste­hen über­haupt nichts – die Stu­den­ten so wenig wie die Arbei­ter. (46)

An der deut­li­chen Spra­che in Bezug auf ihre Wahr­neh­mung Nach­kriegs-Deutsch­lands ändert sich auch in den Brief­zeug­nis­sen der spä­te­ren Besu­che nichts:

(…) das Gefühl, das alles nur Fas­sa­de ist, hat man wie­der ein­mal nir­gends so stark wie hier. Ziem­lich unheim­lich! Alles über­deckt von einer ver­stun­ke­nen Restauration! (…)

Geis­tig ist nicht viel los, außer einer star­ken Restau­ra­ti­on alles Klas­si­schen. Ansons­ten immer noch nur Heid­eg­ger, aber auch dies ziem­lich abscheu­lich (…), das Durch­schnitts­pu­bli­kum ver­schla­fe­ner als in Ame­ri­ka. (…) das Land treibt, wie mir scheint in ein neu­es Rapal­lo, (…) nie­mand will es so eigent­lich. Die Fas­sa­de so ver­spie­ßert, daß ich dau­ernd lei­se vor mich her­sin­ge: Der Zopf, der hängt ihm hin­ten. (47)

Die Ent­wick­lung in Deutsch­land ist recht unheim­lich. Bei allen Kom­mu­nal­wah­len, wo die Wäh­ler nicht fürs Aus­land wäh­len, kom­men alte Nazis wie­der ans Ruder (…).

(…) in der deut­schen Bun­des­bahn gibt es Pla­ka­te und Kar­ten, in denen die Gebie­te jen­seits der Oder-Nei­ße-Linie als ›z.Z. unter pol­ni­scher Ver­wal­tung‹ fun­gie­ren!! Dies hält inner­halb der Bun­des­re­pu­blik ein jeder für not­wen­dig wegen der 10 Mil­lio­nen ›Flücht­lin­ge‹. Man meint es nicht ernst, solan­ge näm­lich, bis die­je­ni­gen ans Ruder kom­men, die es ernst mei­nen, und der gan­ze ver­lo­ge­ne Saft­la­den auf­fliegt (…) Ansons­ten eben Wirt­schafts­wun­der weit und breit, und was dar­un­ter vor­geht, weiß kein Mensch. (48)

Man darf (…) nicht ver­ges­sen, daß auch die dann sehr anstän­dig geleis­te­ten Wie­der­gut­ma­chungs­zah­lun­gen ursprüng­lich nur unter star­kem Druck des von den Juden mobi­li­sier­ten Aus­lands zustan­de kamen. Aber Du hat­test ganz recht (…) die Exis­tenz der Bun­des­re­pu­blik in den Mit­tel­punkt zu stel­len, denn allein dar­um geht es ja. Und da muß man, fürch­te ich, eben doch sagen: von irgend­ei­ner Revo­lu­ti­on der Den­kungs­art kei­ne Spur! Die Ansät­ze, die es dazu gab, hat Ade­nau­er ver­nich­tet, und zwar bewußt, indem er rei­ne Inter­es­sen­po­li­tik betrieb, näm­lich sag­te: Die Mehr­heit des Vol­kes hat mit­ge­macht, ist also inter­es­siert dar­an, an nichts zu rüh­ren. (49)

Auch Schein­frie­den haben Nachspiele

Die Ein­ge­mein­dung in das offi­zi­ell den West-Deut­schen von den US-Ame­ri­ka­nern über­ge­stülp­te Wer­te­sys­tem und die ob ihrer Sub­stanz­lo­sig­keit (durch das inne­re Unbe­tei­ligt-Seins derer, die es eigent­lich doch anging) etwas geis­ter­haft-sche­ma­tisch vor sich gehen­de Sub­sum­ti­on unter den Über­bau des west­li­chen Demo­kra­tie­mo­dells – bil­de­ten die äuße­ren Grund­la­gen, auf denen die Bun­des­re­pu­blik ihren Schein­frie­den mit Han­nah Are­ndt schlie­ßen konn­te. Denn unge­ach­tet des­sen, dass man sie nicht bekämpf­te, tat man in Deutsch­land doch alles dafür, um ihren auf­rüh­re­ri­schen Geist ein­zu­fan­gen und gleich­sam in die Fla­sche »zurück­pfrop­fen« zu kön­nen. Das hat­te durch­aus sei­ne höhe­re, sozu­sa­gen objek­ti­ve Rich­tig­keit, denn Are­ndts Grund­sät­ze, Über­zeu­gun­gen und Prin­zi­pi­en kon­f­li­gier­ten mit der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie, die in Deutsch­land auf Geheiß der West-Alli­ier­ten ein­ge­führt wor­den war, tat­säch­lich in vie­ler­lei Hinsicht.

Zen­tra­le Rol­len in Are­ndts kri­ti­scher Beur­tei­lung der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie (50) spie­len die Par­tei­en, die olig­ar­chi­sche Struk­tu­ren begüns­ti­gen und die Ten­den­zen zur Abna­be­lung und Ver­selb­stän­di­gung der Exe­ku­ti­ve von den ande­ren Gewal­ten. Für sie schei­nen bei­de Pro­ble­me in die­sen Insti­tu­tio­nen qua­si wesens­mä­ßig als eine Art Geburts­feh­ler ange­legt zu sein. »Ich bin«, so Are­ndt, »zu der Schluß­fol­ge­rung gelangt, daß es die Par­tei­ap­pa­ra­te sind, die uns in Wirk­lich­keit ohn­mäch­tig machen.« (50)

In »Macht und Gewalt« fin­det sich mit Blick auf die Büro­kra­tie als Staats­form, die Are­ndt als »Tyran­nis ohne Tyran­nen« cha­rak­te­ri­siert« die Bemerkung:

Schließ­lich ist es den unge­heu­ren Par­tei­ap­pa­ra­ten über­all gelun­gen, die Staats­bür­ger inklu­si­ve der Par­tei­mit­glie­der völ­lig zu ent­mach­ten, und dies gilt auch für Län­der, in denen der Schutz der ele­men­ta­ren Bür­ger­rech­te noch funk­tio­niert. Das Abster­ben des (…) Gemein­sinns hat eine lan­ge Geschich­te, die mit der Neu­zeit anhebt. Aber die­ser Pro­zeß ist in den letz­ten hun­dert Jah­ren durch das Auf­kom­men der rie­si­gen Par­tei­bü­ro­kra­tien (…) erheb­lich beschleu­nigt wor­den. (51)

»Das ›Ärger­nis‹ der Par­tei­bü­ro­kra­tien« wer­de aller­dings noch »durch die Gefah­ren der Regie­rungs­bü­ro­kra­tien über­schat­tet, die Are­ndt in ihrem (…) poli­ti­schen Essay: ›Lying in Poli­tics, Reflec­tions on the Pen­ta­gon Papers‹ (…) vor­nahm«, so Bio­gra­phin Brühl-Young, das heißt die Exe­ku­ti­ve berei­te­te ihr – zunächst auf die US-ame­ri­ka­ni­sche Innen­po­li­tik spä­tes­tens nach dem Mord an John F. Ken­ne­dy und die Ton­kin-Lüge bezo­gen, mit der der Viet­nam-Krieg begann – noch mehr Sor­gen als die kor­rum­pier­ten Par­tei­en. (52)

Folg­te man böse gesagt im Hin­blick auf das Ver­hält­nis, das man ihrem Den­ken gegen­über ein­ge­nom­men hat­te, dem Mot­to »Tod durch Umar­mung«, blieb die­sem Mot­to der gro­ße Erfolg den­noch ver­wehrt. Das lag dar­an, dass Han­nah Are­ndt sich nur von Freun­den, nicht aber von Staa­ten oder Kol­lek­ti­ven umar­men ließ. Auch lug­te hin­ter der Umar­mungs­stra­te­gie für den unvor­ein­ge­nom­me­nen Beob­ach­ter die eigent­li­che Inten­ti­on dann doch zu deut­lich her­vor: Wur­de die­ser Umgang mit ihr doch aus rein prag­ma­ti­schen Grün­den gewählt, um sich schmerz­vol­le Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu erspa­ren und um dem eige­nen Bestre­ben, den ersehn­ten Schluss­strich unter die Ver­gan­gen­heit schnell zie­hen zu kön­nen, best­mög­li­chen Dienst zu erwei­sen. Zugleich war der Vor­teil damit ver­bun­den, dass die Bun­des­re­pu­blik vor aller Welt sich als geleh­ri­ger Mus­ter­schü­ler der west­li­chen Demo­kra­tie-Umer­zie­hung prä­sen­tie­ren konn­te, was dem neu­en Staat und sei­nen »Phö­nix aus der Asche« – Wunsch­pro­jek­tio­nen eine frü­he, in sei­ner Wirk­mäch­tig­keit nicht zu unter­schät­zen­de Auf­wer­tung und Bestä­ti­gung verschaffte.

Was im Mit­tel­punkt die­ser schmerz­vol­len Aus­ein­an­der­set­zung, der man so aus dem Weg ging, hät­te ste­hen müs­sen, hat­te Jas­pers 1965 benannt. Im Kon­text der Dis­kus­sio­nen um die Geset­zes­in­itia­ti­ven und Debat­ten des Bun­des­ta­ges um die Auf­he­bung der Ver­jäh­rungs­fris­ten für Mord und ande­re schwe­re Straf­ta­ten, die im NS-Staat und im Namen der NS-Ideo­lo­gie began­gen wur­den, hat­te der aus Ent­täu­schung über die Ent­wick­lung, die die jun­ge Bun­des­re­pu­blik genom­men hat­te, von Hei­del­berg nach Basel »aus­ge­wan­der­te« Jas­pers mit einer Streit­schrift inter­ve­niert. Jas­pers’ Schrift ver­an­lass­te Hein­rich Blü­cher zu der Aus­sa­ge, sie sei das mutigs­te, was je nach 1945 von einem Deut­schen ver­öf­fent­licht wor­den sei. Ihr Titel: »Wohin treibt die Bun­des­re­pu­blik?« (53) Jas­pers geht dar­in, in gro­ßer Über­ein­stim­mung, ja Ein­mü­tig­keit mit Are­ndt (sie schrieb das Vor­wort für die ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be) von der Prä­mis­se aus, dass, »(…) nur ein zur Frei­heit drän­gen­des, sei­ner selbst dar­in bewuß­tes Volk (…) die Demo­kra­tie in frei­er repu­bli­ka­ni­scher Ver­fas­sung, die bis­her nur eine Chan­ce ist, ver­wirk­li­chen (…) kann.« (54)

Nicht nur Jas­pers’ Anspruch, mit dem er die Bun­des­re­pu­blik kon­fron­tier­te, nach dem ange­sichts der tota­li­tä­ren Ver­gan­gen­heit der Bruch mit dem NS-Staat und der NS-Ideo­lo­gie sich dar­an mes­sen las­sen müs­se, ob im »neu­en Staat (…) der größ­te Grad an Frei­heits­kraft, den ein Grund­recht ent­fal­ten kann, zur Gel­tung gebracht« wer­den kön­ne (55) wur­de von Are­ndt – wie das auch aus ihren hier aus­zugs­wei­se zitier­ten Brie­fen her­vor­geht – genau­so gese­hen. Dar­über hin­aus stimm­te sie dem von Jas­pers for­mu­lier­ten Pas­sus zur »Klä­rung der Schuld­fra­ge« inhalt­lich voll zu. Are­ndt plä­dier­te dafür, dass nur poli­tisch Unbe­las­te­te in der Bun­des­re­pu­blik Zugang zu öffent­li­chen Ämtern haben soll­ten. Das Kri­te­ri­um für eine poli­ti­sche Belas­tung mach­te sie an der Mit­glied­schaft zur NSDAP und ihren gesell­schaft­li­chen, ins­be­son­de­re berufs­stän­di­schen, im Geis­te der NS-Ideo­lo­gie gleich­ge­schal­te­ten Orga­ni­sa­tio­nen fest (inso­weit die Mit­glied­schaft als frei­wil­lig ange­se­hen wer­den konn­te, auch wenn sich eine Nicht-Mit­glied­schaft natür­lich nicht gera­de kar­rie­re­för­der­lich erwies). (56)

Jas­pers wur­de zum Fix­stern der Debat­te um die Auf­ar­bei­tung der NS-Ver­gan­gen­heit ab Mit­te der 1960er und wäh­rend der 1970er Jah­re. Sein dama­li­ger Bei­trag stellt das aktu­ell Weni­ge von Jas­pers‘ noch vor­han­de­ner öffent­li­cher Prä­senz dar. Über­haupt nur mit der Kol­lek­tiv­schuld­fra­ge wird sein Name heu­te öfter noch in Ver­bin­dung gebracht – sei­ne Phi­lo­so­phie spielt kaum noch eine Rolle.

Zur Fra­ge der Kol­lek­tiv­schuld führ­te Jas­pers aus:

Belas­tet ist jeder. Zum min­des­ten hat er nicht recht­zei­tig erkannt und gehan­delt, hat er dann seit 1933 nicht ein­ge­grif­fen und nicht sein Leben ein­ge­setzt, als die Ver­bre­chen gescha­hen, son­dern hat dabei­ge­stan­den. Mei­ne 1946 ver­öf­fent­lich­te Besin­nung auf die Schuld­fra­ge unter­schied kri­mi­nel­le, mora­li­sche, poli­ti­sche, meta­phy­si­sche Schuld. Für die kri­mi­nel­le Schuld kann es die gericht­li­che Süh­ne je für den ein­zel­nen Täter geben; für die mora­li­sche Schuld ist die inne­re Selbst­rei­ni­gung des Ein­zel­nen mög­lich; für die poli­ti­sche Schuld gibt es die Haf­tung aller Staats­an­ge­hö­ri­gen; es gibt zwar kei­ne mora­li­sche Kol­lek­tiv­schuld, wohl aber eine kol­lek­ti­ve poli­ti­sche Haftung (…).

Die poli­ti­sche Haf­tung betrifft alle, die im Staa­te durch ihn leb­ten. (57)

An die­se Gedan­ken wäre bei dem, was »Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit« hei­ßen und beinhal­ten soll­te, vor­ran­gig zu den­ken gewe­sen, wenn es von vor­ne­her­ein um eine auf­rich­ti­ge und tief­grei­fen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­ant­wor­tung, dem Ver­sa­gen und der Fra­ge nach der Schuld der Deut­schen unter dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gegan­gen wäre. Are­ndt traf hin­ge­gen auf ein Aus­maß an Selbst­ge­rech­tig­keit und Gleich­gül­tig­keit in Deutsch­land, das sie schockierte:

Nir­gends wird die­ser Alp­traum von Zer­stö­rung und Schre­cken weni­ger ver­spürt und nir­gend­wo weni­ger dar­über gespro­chen als in Deutsch­land. Über­all fällt einem auf, dass es kei­ne Reak­ti­on auf das Gesche­he­ne gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine absicht­li­che Wei­ge­rung zu trau­ern oder um den Aus­druck einer ech­ten Gefühls­un­tä­tig­keit han­delt. (58)

Jas­pers Resü­mee ange­sichts der poli­ti­schen und mora­li­schen Spitz­fin­dig-und Dop­pel­bö­dig­kei­ten der Ver­jäh­rungs­de­bat­te des Bun­des­ta­ges, an des­sen Ende die Par­la­men­ta­ri­er sich schließ­lich nur zu einer vier­jäh­ri­gen Ver­län­ge­rung der Ver­jäh­rungs­frist für die­se NS-Ver­bre­chen durch­rin­gen konn­ten (noch dazu nur unter der Bedin­gung eines ins Gesetz auf­ge­nom­me­nen Junk­tims, nach dem im Gegen­zug zur Ver­län­ge­rung gleich­zei­tig eine Amnes­tie min­der schwe­rer Straf­ta­ten von NS-Tätern beschlos­sen wur­de), fällt sor­gen­voll, ja bit­ter aus. Dies auch ange­sichts der Nei­gung der Poli­ti­ker von links bis rechts, die­sen Mini­mal­kon­sens als bestan­de­ne »Bewäh­rungs­pro­be« der neu­en deut­schen Demo­kra­tie und die Debat­te als »gro­ße Stun­de des Par­la­ments« zu fei­ern. Dage­gen gibt Jas­pers zu bedenken:

Man hat den eigent­li­chen Kampf, des­sen Sinn im Grund der Sache lag, ver­mie­den. Man hat unab­sicht­lich, aber mit siche­rem Instinkt, als man die gro­ßen Fra­gen (der Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit, Anm. B.S.) berühr­te, sie nicht zur Klar­heit kom­men las­sen. (…) Man ver­mied nicht nur, die Din­ge grund­sätz­lich bis in die Fun­da­men­te unse­rer Staat­lich­keit zu trei­ben; man ver­schlei­er­te, wo es dahin hät­te kom­men kön­nen. (…) Jetzt aber fra­ge ich: War­um wei­chen die Poli­ti­ker zurück? Ich ver­mu­te etwa: Weil der Grund­akt der Umkehr nicht voll­zo­gen ist und nicht gefor­dert wird – weil man fort­macht und nichts ändert, wäh­rend man behaup­tet, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Art über­wun­den zu haben oder nie dabei gewe­sen zu sein, – weil man in dem Wahn lebt, die par­la­men­ta­ri­schen Insti­tu­tio­nen als sol­che garan­tier­ten schon einen frei­en Staat, weil man an Sicher­heit denkt und an nichts als Sicher­heit, aber die Grund­un­wahr­hei­ten in der inne­ren Ver­fas­sung fort­be­stehen läßt. Wei­chen die Poli­ti­ker zurück, weil sie spü­ren, daß im Fun­da­ment nichts ist oder eine Lüge? Weil sie die unge­heu­re Auf­ga­be, die den Bun­des­re­pu­bli­ka­nern gestellt und zu lösen mög­lich ist, nicht zu ergrei­fen wagen? Kommt daher die gro­ße wach­sen­de Unsi­cher­heit und Ver­wir­rung, die man dem Blick ent­zieht, und der man ver­ge­bens durch die Gebär­de von Selbst­be­wusst­sein, Stolz, Anma­ßung begeg­net? (59)

Die Crux (mit) der deut­schen Arendt-Rezeption

Spä­tes­tens seit der neo­li­be­ra­len Wen­de ist die His­to­ri­sie­rung und – mit ihr ein­her­ge­hend – die pop­kul­tu­rel­le Ido­li­sie­rung Han­nah Are­ndts zum trau­ri­gen Com­mon Sen­se in der Bun­des­re­pu­blik gewor­den. Glück­li­cher­wei­se ist das nicht allen Inter­pre­ten ver­bor­gen geblie­ben. Anläss­lich der bei­den Are­ndt-Dop­pel­ge­denk­jah­re« 2005 (30. Todes­tag) und 2006 (100. Geburts­tag) bemerk­te der öster­rei­chi­sche Poli­to­lo­ge Oli­ver Marchart:

In Are­ndts Fall macht solch Geden­ken nur sicht­bar, was schon län­ger zu beob­ach­ten war: ›die welt­wei­te Her­aus­bil­dung einer publi­zis­ti­schen Are­ndt-Indus­trie‹. Die Geden­ke­vents, orga­ni­siert als ›gene­ral­stabs­mä­ßig insze­nier­tes Erin­nern‹ (…) pro­du­zie­ren (…) noch tie­fe­res Ver­ges­sen. Im gna­den­lo­sen Abfei­ern wird unsicht­bar, was das eigent­lich Pro­vo­kan­te eines Werks aus­macht. Fast möch­te man hin­zu­fü­gen, die­se habe sich zu einer gut geöl­ten Maschi­ne ent­wi­ckelt, die stan­dar­di­sier­te und kaum noch unter­scheid­ba­re Pro­duk­te aus­wirft. Wie­der­holt der popu­lär­phi­lo­so­phi­sche Indus­trie­zweig die immer glei­chen, Are­ndt zuge­schrie­be­nen Steh­the­sen, so flüch­tet der fach­phi­lo­so­phi­sche Indus­trie­zweig in rein phi­lo­lo­gi­sche Arbeit. Wäh­rend Letz­te­re durch­aus ver­dienst­voll sein kann, ver­kommt sie schnell zu einer Tha­na­to­lo­gie, die Are­ndt vom Tod, näm­lich vom mor­ti­fi­zier­ten Text her denkt und nicht von der Kate­go­rie der Geburt und des Neu­be­ginns, die (…) für Are­ndt selbst zen­tral war. (60)

Die Crux an die­ser Rezep­ti­on ist nicht nur, dass sie bis heu­te den Umgang mit der poli­ti­schen Theo­re­ti­ke­rin in Deutsch­land bestimmt. Viel­mehr drückt sich dar­in etwas aus, was über das eigent­li­che rezep­ti­ons­ge­schicht­li­che Pro­blem weit hin­aus­geht, da es das all­ge­mei­ne Ver­hält­nis der Deut­schen zur poli­ti­schen Welt betrifft. Nimmt man die nach­kriegs­deut­sche Dop­pel­mo­ral genau­er in Augen­schein, so wie sie einer­seits aus der unbe­ar­bei­tet geblie­be­nen, latent trau­ma­ti­sie­rend als ver­drängt wei­ter wir­ken­den Ver­gan­gen­heit ent­stan­den ist, ande­rer­seits sich als die unse­li­ge Nei­gung des deut­schen Sozi­al­cha­rak­ters zum Mus­ter­schü­ler­haf­ten in der Form von Über­le­gen­heits­ge­füh­len trotz Nazis­mus fast unge­stört inner­halb der Bah­nen der jun­gen Bun­des­re­pu­blik erneut aus­prä­gen konn­te, dürf­te gera­de die­ses Mus­ter­schü­ler­haf­te, das spe­zi­el­le »Am-deutschen-Wesen-soll-die-Welt-genesen«-Sendungsbewusstsein ver­ant­wort­lich dafür sein, dass eine Mehr­heit der Deut­schen auch heu­te noch glaubt, mensch­lich über ande­ren zu ste­hen und mora­lisch befugt zu sein, über sie zu rich­ten. In der aktu­ell sich zuspit­zen­den Kri­se sehen wir, wie »die deut­sche Über­le­gen­heit« als Pro­dukt unein­ge­stan­de­ner, nicht auf­ge­ar­bei­te­ter Trau­ma­ti­sie­rung und von ins Lee­re lau­fen­der mora­li­scher Kom­pen­sa­tio­nen unge­bremst mit vol­ler Wucht wie­der auf die geschicht­li­che Büh­ne zurück­kehrt. Allem Anschein nach lässt sie sich, auf­grund der ihr inkar­nier­ten Dop­pel­mo­ral, nicht davon abbrin­gen, auch ein drit­tes Mal inner­halb eines Jahr­hun­derts toxisch auf die Welt ein­zu­wir­ken. Wobei die lang­fris­ti­gen Kon­se­quen­zen auf die glo­ba­len Kon­flikt­la­gen des 21. Jahr­hun­derts zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch gar nicht rich­tig abge­schätzt wer­den kön­nen. (61)

Es lie­fert – wohl gepaart mit dem den Deut­schen nach­ge­sag­ten Effi­zi­enz­den­ken sowie jenem Phä­no­men, das man im Angel­säch­si­schen »the ger­man Angst« nennt – auch den Schlüs­sel zur tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Erklä­rung, war­um in Deutsch­land das Coro­na-Pan­de­mie-Nar­ra­tiv auf so eine gro­ße inne­re Bereit­schaft zur Gefolg­schaft wie nir­gends sonst sto­ßen konn­te, und wei­ter­hin laut aktu­el­len Mei­nungs­um­fra­gen (Stand Dezem­ber 2020) von einer Mehr­heit unter­stützt wird (62). Bemer­kens­wert ist, mit wel­cher qua­si­re­li­giö­sen Inbrunst in Deutsch­land die hygie­ne­po­li­ti­schen Regeln, auch die absur­des­ten (63) , nicht nur auf­ge­stellt, durch­ge­setzt und bei Nicht-Befol­gung streng bestraft, son­dern – und das vor allem – gehor­sam befolgt wurden.

»Coro­nis­mus« und der unbe­ding­te Glau­be an die Autorität

Spie­gel­bild­lich zur Ver­fol­gung der Coro­na-Maß­nah­men­kri­ti­ker, gibt es heu­te nir­gend­wo sonst – wie es allei­ne die Tat­sa­che bezeugt, dass in Deutsch­land (Stand Janu­ar 2023) immer noch Mas­ken­zwang in wich­ti­gen Berei­chen des öffent­li­chen Lebens herrscht und Mas­ken zuhauf auch frei­wil­lig wei­ter­hin getra­gen wer­den (das obwohl sie nach­weis­lich kei­nen Nut­zen haben und bei unsach­ge­mä­ßem, zu lan­gen Tra­gen gesund­heits­schäd­lich sind) – eine so gro­ße Gemein­de an Coro­na-Gläu­bi­gen. Sie hat der Mathe­ma­tik-Didak­ti­ker Wolf­ram Mey­er­hö­fer auf den treff­li­chen Namen der »Coro­nis­ten« getauft. Mey­er­hö­fer erkennt in der Ideo­lo­gie des »New Nor­mal« ein dog­ma­ti­sches Glau­bens­sys­tem und weist auf die auto­ri­ta­ris­ti­schen Wur­zeln und Impli­ka­tio­nen die­ses Glau­bens hin:

Für den Coro­nis­ten, so Mey­er­hö­fer, könn­ten die Maß­nah­men allen­falls aus­lau­fen, wenn »eine medi­zi­ni­sche Auto­ri­tät sagt, dass die Pan­de­mie vor­bei ist.« Die Sache hat aber einen Haken:

Eine sol­che Auto­ri­tät wird es nicht geben. Seit dem Febru­ar 2020 gab es für medi­zi­ni­sche Auto­ri­tä­ten sehr vie­le güns­ti­ge Zeit­punk­te, um zu sagen: Die Gefahr, die wir ange­nom­men haben, hat sich als deut­lich gerin­ger erwie­sen als wir anfangs glaub­ten, wir kön­nen ein­fach zu unse­rem alten Leben zurück­keh­ren. Auf allen Ebe­nen (…) – von Lai­en bis hin zu Exper­ten für alle mög­li­chen Fach­ge­bie­te – haben Men­schen sich Posi­tio­nen zu Coro­na erar­bei­tet, die sie wahr­schein­lich im Wesent­li­chen nicht mehr ver­las­sen wer­den. (…) Sobald eine medi­zi­ni­sche Auto­ri­tät einem coro­nis­ti­schen Lai­en sagt, dass die Gefahr vor­über ist, wird die­ser Laie der Auto­ri­tät ihren Auto­ri­täts­sta­tus abspre­chen. Der Coro­nist wird sagen: Oh, jetzt ist der auch zu den Ver­harm­lo­sern über­ge­lau­fen. (64)

Dar­an lässt sich zei­gen, dass der Glau­be an die Auto­ri­tät bei die­sen Men­schen stär­ker und getrennt, ja iso­liert vom Glau­ben an ein­zel­ne Auto­ri­tä­ten wirkt und ihnen beson­ders tief ein­ge­pflanzt ist. Dem­entspre­chend muss zwi­schen Rela­ti­on und Objekt­kon­stanz dif­fe­ren­ziert wer­den: Wäh­rend die Objek­te des Auto­ri­täts­glau­bens vola­til sein und aus­ge­tauscht wer­den kön­nen, wird der Gehor­sam selbst bestän­dig mit abso­lu­tem Gehor­sam befolgt. Dar­in kor­re­spon­diert der Glau­be der Coro­nis­ten mit der Ratio­na­li­sie­rung des Irra­tio­na­len, der Hal­tung der klei­nen und der gro­ßen Eich­män­ner, die ihren Gehor­sam damit ver­tei­dig­ten, nur »ihre Pflicht getan« zu haben. Han­nah Are­ndt hat in der Unfä­hig­keit zur Kom­mu­ni­ka­ti­on des Auto­ri­täts­hö­ri­gen – die heu­te ja als Sprach­lo­sig­keit zwi­schen Maß­nah­men­be­für­wor­tern und den Maß­nah­men­kri­ti­kern, den »Geimpf­ten« und »Unge­impf­ten« herrscht (und die­se Unter­schei­dung hat die bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Gesell­schaft tie­fer als alle ande­ren Unter­schei­dun­gen je zuvor gespal­ten) – das eigent­li­che Pro­blem erkannt, das sie dafür ver­ant­wort­lich hielt, dass »mensch­li­che Wesen sich wei­gern Per­so­nen zu sein« – wobei Are­ndt Per­son-Sein als »Befä­hi­gung« ver­steht, »über­haupt Über­zeu­gun­gen aus­zu­bil­den«. (65)

Wer heu­te aber über­haupt noch Über­zeu­gun­gen aus­bil­det – und an dem Punkt sind wir wie­der beim »gefähr­li­chen Den­ken« ange­langt – könn­te Gefahr lau­fen als »Quer­den­ker« an den gesell­schaft­li­chen und leit­me­dia­len Pran­ger gestellt zu wer­den und als »Dele­gi­ti­mie­rer des Staa­tes« schnell ins Visier der Ver­fas­sungs­schutz­or­ga­ne zu geraten.

Zur Cau­sa Eich­mann hat sie als Beob­ach­te­rin des Pro­zes­ses gegen den SS-Ober­sturm­bann­füh­rer (der 1961 in Jeru­sa­lem statt­fand und mit der Ver­ur­tei­lung Eich­manns zum Tod ende­te) die Her­me­tik des auto­ri­tä­ren Cha­rak­ters, die Eich­mann sei­ne »wahn­haft nor­ma­len« Züge gab, so beschrieben:

Eine Ver­stän­di­gung mit Eich­mann war unmög­lich, nicht weil er log, son­dern weil ihn der denk­bar zuver­läs­sigs­te Schutz­wall gegen die Wor­te und gegen die Gegen­wart ande­rer, und daher gegen die Wirk­lich­keit selbst, umgab: abso­lu­ter Man­gel an Vor­stel­lungs­kraft. (66)

Eich­mann war für Are­ndt der typi­sche Mitläufer,

der Lust am ›Funk­tio­nie­ren‹ hat­te. Er woll­te ›mit­ma­chen. Er woll­te ›Wir‹ sagen, und dies Mit­ma­chen und dies Wir-sagen-Wol­len war ja ganz genug, um die aller­größ­ten Ver­bre­chen mög­lich zu machen. […] In die­sem Han­deln gibt es ein ganz gro­ßes Lustgefühl‹.

Han­nah Are­ndt war empört über Eich­manns Dumm­heit, weil er Befeh­le aus­führ­te, ohne sich vor­zu­stel­len, was sie aus­lös­ten. ›Gedan­ken­lo­sig­keit‹ (…) wird in den fol­gen­den Jah­ren für Han­nah Are­ndt zu einem Kern­be­griff ihres phi­lo­so­phi­schen Den­kens. (66)

Allen Mit­läu­fern und Nutz­nie­ßern des Nazi-Regimes war gemein, dass sie einen sol­chen »Schutz­wall gegen die Wor­te und gegen die Gegen­wart ande­rer« errich­tet hat­ten. Die­se Abschot­tung hielt über den Zusam­men­bruch von 1945 hin­aus dau­er­haft an. Dar­auf, dass die Bun­des­re­pu­blik von Beginn an nicht nur die Mit­läu­fer und das Mit­läu­fer­tum deck­te – und mit ihnen sogar gegen jene kol­la­bo­rier­te, die das Land wahr­haft erneu­ern woll­ten – ziel­te Are­ndts Kri­tik auf die durch den brei­ten Fluss eines unbe­ding­ten Ver­ges­sen­wol­lens unter­spül­ten mora­li­schen Fun­da­men­te der wie­der­her­ge­stell­ten Staat­lich­keit des west­lich-demo­kra­ti­schen und kapi­ta­lis­ti­schen Teils Deutschlands.

»Aus­hal­ten, Wis­sen, Nach­er­zäh­len« – Zum Elend deut­scher »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung«

In punc­to »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung« – der Lebens­lü­ge der Bon­ner Repu­blik – kon­fron­tier­te Are­ndt 1959 in ihrer Rede aus Anlass der Ent­ge­gen­nah­me des schon erwähn­ten Ham­bur­ger Les­sing-Prei­ses die deut­sche Öffent­lich­keit mit unbe­que­men Wahrheiten:

Hier (in der Ver­wen­dung des Aus­drucks »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung«, Anm. B.S.) hat natür­lich auch die dem Außen­ste­hen­den so auf­fäl­li­ge tie­fe Unge­schick­lich­keit der Deut­schen ihren Grund, sich in einem Gespräch über die Fra­ge der Ver­gan­gen­heit über­haupt zu bewe­gen. Wie schwer es sein muss, hier einen Weg zu fin­den, kommt viel­leicht am deut­lichs­ten in der gän­gi­gen Redens­art zum Aus­druck, das Ver­gan­ge­ne sei noch unbe­wäl­tigt, man müs­se erst ein­mal dar­an gehen, die Ver­gan­gen­heit zu bewäl­ti­gen. Dies kann man wahr­schein­lich mit kei­ner Ver­gan­gen­heit, sicher aber nicht mit die­ser. Das höchs­te, was man errei­chen kann, ist zu wis­sen und aus­zu­hal­ten, dass es so und nicht anders gewe­sen ist, und dann zu sehen und abzu­war­ten, was sich dar­aus ergibt. 

(…)

Sofern es über­haupt ein ›Bewäl­ti­gen‹ der Ver­gan­gen­heit gibt, besteht es im Nach­er­zäh­len des­sen, was sich ereig­net hat. (68)

Genau von die­sem »Nach­er­zäh­len« – es hät­te das Ende der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­blo­cka­de bedeu­tet, deren Ursa­chen in der Auto­ri­täts­gläu­big­keit begra­ben lagen – woll­te man aber im Rausch des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Wirt­schafts­wun­ders und der »Wir-krempeln-die-Ärmel-hoch-und-steigern-das-Bruttosozialprodukt«-Stimmung nichts hören. Der Refrain der Ade­nau­er-Zeit lau­te­te viel­mehr: »Vor­wärts, vor­wärts immer! Rück­wärts nim­mer und schnell ver­ges­sen!« Und so ver­wun­dert es nicht, dass Are­ndt auf ihren Fahr­ten durch Deutsch­land und an den ver­schie­de­nen Orten, die sie besuch­te, vor allem immer wie­der eines wahr­nahm: die Abwehr gegen das Vergangene.

Auch gab sie zur Debat­te um die soge­nann­te Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung zu beden­ken, »(…) dass wir alle an der Ver­gan­gen­heit (…) die Schä­big­keit die­ser Mas­sen­mör­der ohne Schuld­be­wußt­sein (wie Eich­mann, Anm. B.S.) und die gedan­ken­lo­se Min­der­wer­tig­keit ihrer soge­nann­ten Idea­le (…) gera­de nicht bewäl­ti­gen kön­nen.« (69)

Hin­zu komme

(…) die Unbe­küm­mert­heit, mit der man in Deutsch­land bis zur Gefan­gen­nah­me von Eich­mann sich offen­bar damit abge­fun­den hat­te, die Mör­der ‚unter uns‘ zu wis­sen, ohne ihnen den Pro­zeß zu machen, ja ihnen viel­fach zu ermög­li­chen, ihre Kar­rie­ren ruhig fort­zu­set­zen – nun natür­lich ohne Mord und Tot­schlag – als sei nichts oder doch bei­na­he nichts pas­siert. (70)

»Poli­tisch, scheint mir«, so Are­ndt im Gespräch mit Thi­lo Koch,

wird das deut­sche Volk berech­tigt sein, die­se furcht­ba­re Ver­gan­gen­heit für bewäl­tigt zu erklä­ren, wenn es die Mör­der, die immer noch unter ihm unbe­hel­ligt leben, abge­ur­teilt und alle wirk­lich Belas­te­ten aus den Posi­tio­nen des öffent­li­chen, nicht des pri­va­ten und Geschäfts­le­bens ent­fernt hat. Wenn das nicht geschieht, wird die Ver­gan­gen­heit trotz allen Gere­des unbe­wäl­tigt blei­ben – oder man wird war­ten müs­sen, bis wir alle tot sind. (71)

Prak­tisch sah das dann so aus:

Fünf­zehn Jah­re gin­gen ins Land der Täter, Mit­läu­fer und Zuschau­er, ins Land des flei­ßi­gen Wie­der­auf­baus und des unver­hoff­ten Wirt­schafts­wun­ders – (…) obschon die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den von Amts wegen [StPO § 152] ver­pflich­tet waren, die von Deut­schen began­ge­nen Ver­bre­chen zu ahn­den – (…) bis eine bun­des­deut­sche Staats­an­walt­schaft erst­mals sys­te­ma­ti­sche und umfas­sen­de Ermitt­lun­gen gegen SS-Per­so­nal des Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­gers Ausch­witz-Bir­ken­au (1940 – 1945) ein­lei­te­te und im Rah­men eines Sam­mel­ver­fah­rens den Ver­such unter­nahm, den Ver­bre­chen­s­kom­plex Ausch­witz auf­zu­klä­ren. (72)

Erst in den 1970er-Jah­ren soll­te durch Bewusst­seins­ver­än­de­rung – eine der Fol­gen der Stu­den­ten­pro­tes­te – die deut­sche Jus­tiz auf­wa­chen. Die Stu­den­ten hat­ten sich in ihrem Kampf die Kri­tik an der Igno­ranz und Ver­wei­ge­rungs­hal­tung von Poli­tik und Gesell­schaft sich einer Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit – gera­de auch inner­halb der Jus­tiz und den Uni­ver­si­tä­ten (»Unter den Tala­ren, der Muff von tau­send Jah­ren«) zu stel­len, ganz oben auf ihre Fah­nen geschrie­ben. Der Kon­flikt wur­de sei­tens der Stu­den­ten teil­wei­se falsch adres­siert (statt der Eltern‑, hät­te viel stär­ker eigent­lich die Groß­el­tern-Gene­ra­ti­on den Refe­renz­punkt für die kri­ti­schen Nach­fra­gen der 68er bil­den müs­sen, des­sen männ­li­cher Teil war durch den Krieg aber stark dezi­miert wur­den) und im Rah­men eines inter­ge­ne­ra­tio­nell viel­schich­ti­gen Pro­blems, bei dem Auto­ri­tät und Auto­ri­täts­ver­sa­gen eine wich­ti­ge Rol­le spiel­ten, aus­ge­tra­gen. Auch wenn es in dem Kon­flikt bei nähe­rer Betrach­tung nicht allein um Schuld, Süh­ne, Ver­ant­wor­tung und Ver­drän­gung in Bezug auf die faschis­ti­sche Ver­gan­gen­heit, son­dern auch noch um ande­re tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Pro­ble­me ging – was zum Resul­tat hat­te, die Kom­ple­xi­tät des Kon­flikts lan­ge Zeit für bei­de Sei­ten undurch­schau­bar und beson­ders belas­tend zu machen – war es den­noch ein gro­ßes Ver­dienst der Stu­den­ten­be­we­gung, die Dis­kus­si­on um die Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit über­haupt ins Rol­len gebracht zu haben. Nicht zufäl­lig fiel dies ja auch mit dem ein­zi­gen Demo­kra­ti­sie­rungs­schub zusam­men, den die Bun­des­re­pu­blik erle­ben und der bis zur hei­ßen Pha­se des RAF-Ter­ro­ris­mus trotz eini­ger Rück­schlä­ge, wie die Ein­füh­rung des »Radi­ka­len­er­las­ses« im öffent­li­chen Dienst, der Rück­tritt Wil­ly Brandts und der frü­he Tod des links­li­be­ra­len FDP-Refor­mers Karl-Her­mann Flach anhal­ten sollte.

Das alles – um hier den Faden hier wie­der auf­zu­neh­men – konn­te den Frie­den, den die Poli­tik mit Are­ndt qua Umgar­nung und Beför­de­rung ihrer Per­son in den – gemei­nen Sterb­li­chen ja bekann­ter­ma­ßen ver­wehrt blei­ben­den – Klas­si­ker­him­mel mach­te, nicht stö­ren. Im Gegen­teil: Unbe­que­me Geis­ter »weg­zu­lo­ben« war hier­zu­lan­de schon immer eine der pro­ba­tes­ten Metho­den sie unschäd­lich zu machen, bevor sie der deut­schen »Volks­see­le« wirk­lich gefähr­lich wer­den – Goe­the ist ein wei­te­rer, höchst lehr­rei­cher Fall dafür. (73)

Die Ver­ken­nung Are­ndts: Kein Miss­ver­ständ­nis, son­dern moti­vier­te Fehlleistung

Mei­ne rezep­ti­ons­ge­schicht­li­che The­se beruht also nicht auf der Annah­me, dass es sich beim Umgang mit Are­ndts Werk um ein Miss­ver­ständ­nis han­delt – mag dies auch in der ver­schärf­ten Form eines nicht zufäl­li­gen, son­dern struk­tu­rel­len Miss­ver­ständ­nis­ses unter­stellt wer­den – son­dern geht dar­über hinaus:

Das Schick­sal, das Han­nah Are­ndts Werk in Deutsch­land wider­fuhr, liegt an einer teils absichts‑, teils ahnungs­vol­len Ver­ken­nung, die in dem Maße immer fes­te­re For­men annahm, in dem der repu­bli­ka­ni­sche Anspruch und die demo­kra­ti­sche Sub­stanz sich in der Bun­des­re­pu­blik ver­flüch­tig­ten. Der revo­lu­tio­när-frei­heit­li­che, radi­kal-demo­kra­ti­sche, eman­zi­pa­to­risch-herr­schafts­kri­ti­sche Geist Han­nah Are­ndts – der klar beweist, dass Are­ndts poli­ti­sches Den­ken im bes­ten Sin­ne links ist, jeden­falls dann, wenn man die soge­nann­te Lin­ke – ihr fina­les auto­ri­tä­re Outing in der Coro­na-Kri­se gilt es dafür noch näher zu unter­su­chen – und damit einen Groß­teil des­sen, was sich frü­her und heu­te als links bezeich­net, von dem Begriff abzieht, ist bis heu­te in Deutsch­land nicht erfasst, geschwei­ge denn gewür­digt wor­den. Dies Nicht-Begrei­fen ist in ers­ter Linie dem Ver­strickt-Sein der deut­schen Nach­kriegs­öf­fent­lich­keit in die Ver­bre­chen des Nazi-Regimes geschul­det. Die­ses Ver­strickt-Sein ist als der eigent­li­che, bis heu­te unge­löst geblie­be­ne gor­di­sche Kno­ten anzu­se­hen, der eine imma­nent text­kri­ti­sche und unvor­ein­ge­nom­me­ne Lek­tü­re ihres Wer­kes zu einem der­art schwie­ri­gen Unter­fan­gen mach­te. Es lehrt uns, dass Refle­xi­on eben immer nur um den Preis der Selbst­re­fle­xi­on des oder der Han­deln­den zu haben ist.

Aus die­sem Grund habe ich Wert dar­auf­ge­legt, ein­gangs aus­führ­li­cher zu refe­rie­ren, wie die psy­cho­po­li­ti­sche Ver­fasst­heit und der Umgang der Bun­des­re­pu­blik mit der tota­li­tä­ren Ver­gan­gen­heit von Anfang an die ange­mes­se­ne Rezep­ti­on des poli­ti­schen Den­kens Han­nah Are­ndts unter­gru­ben. Dar­auf, dass seit­dem das tota­li­tä­re Erbe sich höchst­wahr­schein­lich als das Demo­kra­tie-Pro­blem der Deut­schen per­p­etu­iert haben dürf­te, wodurch es höchst viru­lent bis in unse­re Gegen­wart hin­ein­wirkt und sie unbe­wusst beein­flusst, macht das fol­gen­de Zitat auf­merk­sam. Es ist einem jüngst erschie­ne­nen Sam­mel­band kri­ti­scher Tex­te zur Coro­na-Kri­se entnommen:

Eine ech­te demo­kra­ti­sche Kul­tur hat sich in Deutsch­land nach dem Zwei­ten Welt­krieg nie ent­wi­ckelt, sie blieb stets auf Teil­seg­men­te der Gesell­schaft beschränkt. Hin­zu kommt offen­sicht­lich eine über vie­le Gene­ra­tio­nen ein­ge­üb­te und im Tie­fen­be­wusst­sein ver­an­ker­te Auto­ri­täts­hö­rig­keit und Staats­gläu­big­keit. (74)

Am Schluss des ers­ten Kapi­tels, das die spe­zi­el­len Pro­ble­me der deut­schen Han­nah Are­ndt-Rezep­ti­on näher zu beleuch­ten ver­such­te, lau­tet das Resü­mee daher:

Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mach­te es sich leicht mit Arendt.

Han­nah Are­ndts Werk aber hat man es dadurch beson­ders schwer gemacht.

Denn wer sich näher mit die­ser klu­gen, fas­zi­nie­ren­den Frau und unbe­stech­li­chen Den­ke­rin aus­ein­an­der­setzt und dabei die üblich gewor­de­nen Scheu­klap­pen ablegt – wer sich also einen unvor­ein­ge­nom­me­nen Zugang auf ihr Leben und Werk erar­bei­tet, was am bes­ten dadurch gelin­gen kann, dass man sie ein­fach beim Wort nimmt – der weiß, dass nichts weni­ger die­ser streit­ba­ren Intel­lek­tu­el­len gerecht wer­den kann, als wenn man sie aus den Wir­ren und Kämp­fen der poli­ti­schen Gegen­wart, ihrer Nach­welt, her­aus­zu­hal­ten oder her­aus­zu­zie­hen ver­sucht. Dem Ansatz affir­ma­tiv-his­to­ri­sie­ren­der, iko­no­gra­fi­scher Sti­li­sie­rung folgt aber die Metho­de, die bevor­zugt immer dann Anwen­dung fin­det, wenn Den­ker, deren Theo­rien für die herr­schen­de Gesell­schafts­ord­nung »Dyna­mit« (Nietz­sche) sind, wei­he­voll auf hohe Sockel pos­tiert und ins Muse­um, wie hier zum Bei­spiel in die Abtei­lung »gro­ße Staats­phi­lo­so­phen« abge­scho­ben und ent­sorgt wer­den. Abge­scho­ben und ent­sorgt wur­de und wird auch »der Fall« Han­nah Are­ndts. Dabei ist ihr Den­ken, so for­mu­liert es der schon erwähn­te Poli­to­lo­ge Oli­ver Mar­chart, ist gera­de wegen sei­nes »unzeit­ge­mä­ßen Opti­mis­mus aktu­ell«. Denn Arendt

ver­tei­digt einen empha­ti­schen Begriff des Poli­ti­schen, wo die­ses Poli­ti­sche längst abge­schrie­ben wur­de – und sich doch immer wie­der zurück­mel­det (…). In ihrem Werk wird die Tat­sa­che evi­dent, dass die Welt ver­än­dert wer­den kann, dass nichts so blei­ben muss, wie es ist, und dass, im Pathos der Glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­ker gespro­chen, eine ande­re Welt mög­lich ist. (75)

Der revo­lu­tio­nä­re Ges­tus ihres Den­kens lässt sich in mehr­fa­cher Hin­sicht unter die Kate­go­rie intel­lek­tu­el­len »Spreng­stoffs« fas­sen. Dazu gehört die Über­zeu­gung, dass der Mensch als Han­deln­der den Maß­stab aller (poli­ti­schen) Din­ge dar­stel­le – und nicht etwas Äußer­li­ches, sei­en es die Geset­ze oder die Ideen.

Kei­ner Rezep­ti­on, die als Teil eines vor­herr­schend restau­ra­ti­ven und reak­tio­nä­ren, auto­ri­täts­hö­ri­gen und staats­tra­gen­den Über­baus, der Demo­kra­tie in pra­xi nur gut­heißt, wenn sie auf Spar­flam­me gesetzt ist und auf Spar­flam­me bleibt – das heißt in weni­gen, ein­ge­heg­ten Reser­va­ten der Gesell­schaft, an Spe­zia­lis­ten dele­giert, berufs­mä­ßig aus­ge­führt und in inne­ren, abge­dun­kel­ten Räu­men der Macht statt an der lich­ten und frei zugäng­li­chen Öffent­lich­keit der Polis ver­han­delt wird – konn­te das je genehm sein noch genehm wer­den. Die Demo­kra­tie in der Bun­des­re­pu­blik wur­de gleich zu Beginn der Bun­des­re­pu­blik dazu ver­ur­teilt, sich als poli­ti­sche Hand­lungs-und Lebens­form gera­de nicht ent­wi­ckeln zu können.

Die neue poli­ti­sche Klas­se bestand über­wie­gend aus der alten – wirk­li­che Aus­nah­men bil­de­ten nur die weni­gen Unbe­las­te­ten, die im neu­en Staat aber stän­dig übler Nach­re­de und Dif­fa­mie­rung aus­ge­setzt wur­den und die frei­en, unab­hän­gi­gen Geis­ter, die man in der Rol­le von Poli­ti­kern aber nie ganz ernst zu neh­men gewillt war. Die­se poli­ti­sche Klas­se bekann­te sich von Beginn der Bun­des­re­pu­blik an nur halb­her­zig zur Demo­kra­tie. Sie nahm den repu­bli­ka­ni­schen Geist und damit das revo­lu­tio­nä­re Erbe der Demo­kra­tie nie an. Die Span­nung, die poli­tisch dar­aus ent­stand, durch­zieht Han­nah Are­ndts Werk sozu­sa­gen seis­mo­gra­phisch und lotet sie nach allen Rich­tun­gen hin aus. Die Span­nung besteht zwi­schen ihrer Erkennt­nis der Frei­heit als dem Sinn von Poli­tik und dem fak­ti­schen Demen­ti die­ses Sinns durch die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie. Es han­delt sich dabei, wie sie in Über die Revo­lu­ti­on schreibt,

um den Kampf des Vol­kes gegen den erbar­mungs­los zen­tra­li­sier­ten Staats­ap­pa­rat, der unter der Vor­ga­be, die sou­ve­rä­ne Nati­on zu ver­kör­pern, dar­an­ging, das Volk aller Macht zu berau­ben. (…) Das Recht, zu den öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten zuge­las­sen zu wer­den, wur­de und wird dem Volk wei­ter­hin ver­wehrt«. (76) Was liegt unter sol­chen Umstän­den näher, »als der (…) gefähr­li­chen Theo­rie zuzu­stim­men, der­zu­fol­ge zwar alle Macht vom Vol­ke stammt, das Volk aber die­se Macht nur am Wahl­tag besitzt, wonach sie Eigen­tum der Regie­ren­den wird?

Aber: »(…) poli­ti­sche Frei­heit (…) ist nie ver­wirk­licht, wenn das Recht auf akti­ve Teil­ha­be an den öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten den Bür­gern nicht garan­tiert ist.« (77)

Nach die­sen Wor­ten scheint es fast über­flüs­sig zu sein, am Kapi­tel­schluss noch ein­mal zu beto­nen, dass es genau die­se Ein­sich­ten (und eini­ge wei­te­re, die wir im Ver­lauf der Dar­stel­lung noch ken­nen­ler­nen wer­den) sind – die Are­ndts Den­ken so aktu­ell und wei­ter­hin »gefähr­lich« machen.

Anmer­kun­gen

1 Im Text fol­ge ich der Defi­ni­ti­on der Glo­bal Gover­nan­ce, die die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung (BpB) gege­ben hat: »Als Glo­bal Gover­nan­ce bezeich­net man alle Ent­schei­dungs-und Umset­zungs­me­cha­nis­men- und ‑pro­ze­du­ren auf glo­ba­ler Ebe­ne. Akteu­re der Glo­bal Gover­nan­ce sind natio­na­le Regie­run­gen, inter­na­tio­na­le (zum Bei­spiel UNO, Welt­wirt­schafts­fo­rum, Welt­bank) und regio­nal inter­na­tio­na­le (zum Bei­spiel die EU) Orga­ni­sa­tio­nen, mul­ti­na­tio­na­le Unter­neh­men, NGOs (Nicht Regie­rungs-Orga­ni­sa­tio­nen) aus der sog. Zivil­ge­sell­schaft, Think Tanks, Stif­tun­gen, Inter­es­sen­ver­bän­de, ein­fluss­rei­che Lob­by­or­ga­ni­sa­tio­nen und Medi­en, Kir­chen, reli­giö­se und welt­an­schau­li­che Grup­pen. Ich ver­wen­de den Begriff der Glo­bal Gover­nan­ce hier »als tech­nisch und tech­no­lo­gisch gestütz­te, infor­mel­le Welt­re­gie­rung.« https://​www​.bpb​.de/​v​e​r​a​n​s​t​a​l​t​u​n​g​e​n​/​n​e​t​z​w​e​r​k​e​/​t​e​a​m​g​l​o​b​a​l​/​6​7​4​5​7​/​g​l​o​b​a​l​-​g​o​v​e​r​n​a​nce – Zur Prä­zi­sie­rung gebrau­che ich fer­ner den Begriff der Glo­bal Cor­po­ra­te Gover­nan­ce. Damit soll der hohe Ver­schmel­zungs­grad zwi­schen den poli­ti­schen und groß­öko­no­mi­schen Macht-und Inter­es­sens­sphä­ren (Ein­fluss mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne, Schat­ten­ban­ken, Hedge-Fonds usw.) und wie bei­de ihre Macht dadurch aus­deh­nen, ange­zeigt wer­den. Die­ses Macht-und Herr­schafts­amal­gam stellt auf glo­ba­ler Ebe­ne die Ver­wirk­li­chung von Mus­so­li­nis Dik­tum: »Der Faschis­mus soll­te Kor­po­ra­tis­mus hei­ßen, weil er die per­fek­te Ver­schmel­zung der Macht von Regie­rung und Kon­zer­nen ist, dar. Sie­he dazu auch: Rai­ner Rupp, »Der Faschis­mus soll Kor­po­ra­tis­mus hei­ßen« – Die Alli­anz zwi­schen FBI und glo­ba­ler Finanz­eli­te, https://​www​.frei​den​ker​.org/​?​p​=​1​5​097, 31.1.2023.

2 https://​www​.deutsch​land​funk​kul​tur​.de/​h​a​n​n​a​h​-​a​r​e​n​d​t​-​u​n​d​-​w​o​l​f​r​a​m​-​e​i​l​e​n​b​e​r​g​e​r​-​d​i​e​s​e​-​b​u​e​c​h​e​r​-​w​o​l​l​e​n​-​1​0​0​.​h​tml. Die­se Ent­wick­lung setz­te erst nach ihrem Tod 1975 in New York ein.

3 Ich umkrei­se das Pro­blem an die­ser Stel­le nur, da ich im Ver­lauf mei­ner Dar­stel­lung näher begrün­den wer­de, war­um ich die Dia­gno­se von Mar­chart tei­le und wor­in ich die Grün­de für die­se »Depo­li­ti­sie­rung« im Umgang mit Han­nah Are­ndts Werk sehe.

4 Oli­ver Mar­chart, Die Welt und die Revo­lu­ti­on, https://​www​.bpb​.de/​s​h​o​p​/​z​e​i​t​s​c​h​r​i​f​t​e​n​/​a​p​u​z​/​2​9​5​1​7​/​d​i​e​-​w​e​l​t​-​u​n​d​-​d​i​e​-​r​e​v​o​l​u​t​i​on/, S.2

5 Sie­he näher dazu: Bernd Schoe­pe, Can­cel Cul­tu­re macht Schu­le, insb. Kap. 3: Chan­ge-Manage­ment und die undurch­sich­ti­gen Stra­te­gien zur Umset­zung eines frag­wür­di­gen Wer­te-und Ein­stel­lungs­wan­dels für Schu­le und Unter­richt, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2021/12/NVBSCancel-Culture-macht-Schule-Endfassung‑B.S.- – -08.12.2021.pdf.

6 https://​www​.hsoz​kult​.de/​p​u​b​l​i​c​a​t​i​o​n​r​e​v​i​e​w​/​i​d​/​r​e​b​-​9​8​221

7 https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​U​L​B​e​V​Y​B​c​UTs, letz­ter Zugriff am 01.02.2023

8 https://​www​.stern​.de/​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​u​m​f​r​age – ver­trau­en-in-poli­tik-und-staat-sinkt-auf-his­to­ri­schen-tief­stand-32684944.

https://www.n‑tv.de/politik/Vertrauen-in-Politik-sinkt-vor-allem-in-den-Kanzler-article23036025.html

9 Adal­bert Reif, Inter­view mit Han­nah Are­ndt, in: Han­nah Are­ndt, Macht und Gewalt, Mün­chen 1996, S.125.

10 Rai­ner Maus­feld, Das Schwei­gen der Läm­mer. Wie Eli­ten­de­mo­kra­tie und Neo­li­be­ra­lis­mus unse­re Gesell­schaft und unse­re Lebens­grund­la­gen zer­stö­ren, Frankfurt/​M. 2018.

11 Sabi­ne Bepp­ler-Spahl (Hg.), Can­cel Cul­tu­re und Mei­nungs­frei­heit. Über Zen­sur und Selbst­zen­sur, Frankfurt/​M., 2022. Dar­auf, dass Can­cel Cul­tu­re nicht dem Schutz von Min­der­hei­ten dient, son­dern durch das Can­celn ganz etwas ande­res auf dem Spiel steht, hat der Schrift­stel­ler Mat­thi­as Poli­ty­cki in sei­nem Essay »Abschied von Deutsch­land« hin­ge­wie­sen: »Nichts Gerin­ge­res wird gera­de in der west­li­chen Welt ver­han­delt als unser Begriff von Frei­heit. Wo man­che noch glau­ben, es gin­ge ledig­lich um die Ver­ban­nung gewis­ser Wör­ter und For­mu­lie­run­gen, geht es in Wirk­lich­keit um die Art und Wei­se, wie wir in Zukunft leben wollen.«

12 Han­nah Are­ndt, Macht und Gewalt, Inter­view mit Adal­bert Reif, a.a.O., S. 124.

13 Bri­git­te Pick, Orwell und das Heu­te, https://​www​.nach​denk​sei​ten​.de/​?​p​=​8​8​386, 24.9.2022.

14 In Geor­ge Orwells »1984« heißt es: »Begreifst du denn nicht, dass Neu­sprech nur ein Ziel hat, näm­lich den Gedan­ken­spiel­raum ein­zu­en­gen? Zu guter Letzt wer­den wir Gedan­ken­de­lik­te buch­stäb­lich unmög­lich machen, weil es kei­ne Wör­ter mehr geben wird, um sie auszudrücken.«

15 Ber­tolt Brecht, Die Lösung, aus: Buc­kower Ele­gi­en, in: Ders.: Gesam­mel­te Wer­ke in 20 Bän­den, Bd. 10: Gedich­te 3, Frankfurt/​M. 1968. Sie­he auch: Micha­el And­rick, https://​www​.ber​li​ner​-zei​tung​.de/​p​o​l​i​t​i​k​-​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​o​l​a​f​-​s​c​h​o​l​z​-​w​a​e​h​l​t​-​s​i​c​h​-​e​i​n​-​n​e​u​e​s​-​v​o​l​k​-​l​i​.​3​0​5​208, 9.1.2023. Aus­zug And­rick: »Scholz geht (…) vom Grund­satz aus, den Brecht 1953 der DDR-Regie­rung iro­nisch andich­te­te: dass ‚das Volk // Das Ver­trau­en der Regie­rung ver­scherzt habe // Und es nur durch ver­dop­pel­te Arbeit // zurück­er­obern kön­ne.’ (…) Die­se Hal­tung ist exem­pla­risch am Ent­wurf zum ‚Demo­kra­tie­för­der­ge­setz’ abzu­le­sen: Nicht die poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen und Akteu­re, denen die gro­ße Mehr­heit nicht mehr ver­traut, sind das Pro­blem der Repu­blik; das Pro­blem ist die Bevöl­ke­rung. Denn Sie, wer­ter Leser, und ich haben eine ‚Viel­zahl demo­kra­tie-und men­schen­feind­li­cher Phä­no­me­ne’ zu ver­ant­wor­ten, als da wären: ‚die gegen das Grund­ge­setz gerich­te­te Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes’, die ‚Ver­brei­tung von Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien, Des­in­for­ma­ti­on und Wis­sen­schafts­leug­nung, Hass und Het­ze im Inter­net’, kurz: unse­ret­we­gen neh­men (…) ‚mul­ti­ple Dis­kri­mi­nie­run­gen und Bedro­hun­gen’ immer wei­ter zu.«

16 Tariq Ali, Hei­ner Flass­beck, Rai­ner Maus­feld, Wolf­gang Stre­eck, Peter Wahl, Die extre­me Mit­te. Wer die west­li­che Welt beherrscht. Eine War­nung. Wien, 2020.

17 Julia Kris­t­e­va, Das weib­li­che Genie I, Han­nah Are­ndt, Ham­burg 2021.

18 https://​www​.infosper​ber​.ch/​p​o​l​i​t​i​k​/​w​e​l​t​/​_​_​t​r​a​s​h​e​d​-​5​25/, 20.10.2022. https://​www​.rubi​kon​.news/​a​r​t​i​k​e​l​/​s​t​i​l​b​l​u​t​e​n​-​u​n​d​-​s​c​h​e​i​n​g​e​f​e​c​hte, 23.1.2023.

19 Auf der ande­ren Sei­te hat sich eine trotz schwie­ri­ger Arbeits-und Finan­zie­rungs­be­din­gun­gen blü­hen­de, viel­ge­stal­ti­ge alter­na­ti­ve Online-Medi­en­sze­ne her­aus­ge­bil­det, die – wäh­rend die Main­stream-Medi­en aus­nahms­los tief in der Kri­se ste­cken – mehr Inter­es­se, Zuspruch und Unter­stüt­zung fin­den, weil ein unab­hän­gi­ger und mit Idea­lis­mus betrie­be­ner gesell­schafts­kri­ti­scher Jour­na­lis­mus die mäch­ti­gen Nar­ra­ti­ve hin­ter­fragt, erschüt­tert und immer stär­ker her­aus­for­dert, und das auch hono­riert wird. Solan­ge man sich nicht in den gro­ßen Redak­ti­ons­bü­ros in Deutsch­land und andern­orts dar­an erin­nert, dass Jour­na­lis­mus heißt, etwas zu brin­gen, von dem ande­re – nach Orwell – nicht wol­len, dass es ver­öf­fent­licht wird (alles ande­re nennt er »Public Rela­ti­ons«) wird die Kri­se des Main­stream-Jour­na­lis­mus fortdauern.

20 Bernd Schoe­pe, Die Pan­de­mie ist – nicht – zu Ende. I: Von der Post-Coro­na-Zeit in den tota­li­tä­ren Reset? Annä­he­run­gen an ein merk­wür­di­ges Interregnum.

https://​www​.gew​-ans​bach​.de/​2​0​2​2​/​0​7​/​d​i​e​-​p​a​n​d​e​m​i​e​-​i​s​t​-​n​i​c​h​t​-​z​u​-​e​n​de/

21 Are­ndt zitiert nach »Am Abgrund der Moder­ne«, Inter­view von Anto­nia Gru­nen­berg mit Cathe­ri­ne New­mark, 9.7.2015 https://​www​.phi​lo​mag​.de/​a​r​t​i​k​e​l​/​a​m​-​a​b​g​r​u​n​d​-​d​e​r​-​m​o​d​e​rne.

New­mark wei­ter: »Die­se Abwen­dung vom Poli­ti­schen bei gleich­zei­ti­gem Mach­t­op­por­tu­nis­mus gegen­über faschis­ti­schen bzw. tota­li­tä­ren Herr­schafts­sys­te­men, das ist es, was Are­ndt als fata­le Ten­denz nicht nur der Phi­lo­so­phie, son­dern der gesam­ten euro­päi­schen Intel­li­genz diagnostiziert.«

22 Damit ist gemeint, dass die »Pan­de­mie« als poli­tisch ver­ab­re­de­ter und nach einer Art »Dreh­buch« aus­ge­ar­bei­te­ter und in Sze­ne gesetz­ter Aus­nah­me­zu­stand einen Ver­such dar­stellt, »die gegen­wär­ti­ge Ten­denz von Ver­fall und Des­in­te­gra­ti­on umzu­keh­ren und die durch die IT-Revo­lu­ti­on geschaf­fe­nen Mög­lich­kei­ten zu nut­zen, und sei es nur zur Abwehr der Gefahr einer demo­kra­ti­schen Alter­na­ti­ve« – und die­ser Ver­such – nicht die Seu­chen­ge­fahr – nicht vor­bei ist. Kees van der Pijl, Die bela­ger­te Welt, Rat­z­ert 2021, S. 55. Auf Kees van der Pijls Buch gehe ich aus­führ­li­cher in Kap. 3 ein.

23 Han­nah Are­ndt, Fern­seh­ge­spräch mit dem fran­zö­si­schen TV-Jour­na­lis­ten Roger Errera, aus­ge­strahlt am 6.7.1974, pro­to­kol­lier­ter Text des Inter­views in: Han­nah Are­ndt, Ich will ver­ste­hen – Selbst­aus­künf­te zu Leben und Werk, Mün­chen 2005, S. 125.

24 »Der PARIA akzep­tier­te die sozia­le Stel­lung eines Außen­sei­ters und hielt an dem Anders­sein fest, das die bür­ger­li­che Gesell­schaft ihm oder ihr unver­än­dert auf­er­leg­te. Der Par­venu hin­ge­gen war bemüht, sei­nen oder ihren Außen­sei­ter­sta­tus zu über­win­den und das Anders­sein los­zu­wer­den, indem er die Dif­fe­renz über­haupt leug­ne­te oder die Iden­ti­fi­zie­rung mit den Wert­vor­stel­lun­gen und dem Ver­hal­ten der ‚nicht­jü­di­schen christ­li­chen Gesell­schaft‘, deren Aner­ken­nung er oder sie such­te, über­trieb. Unter die­sen Umstän­den war die ‚Juden­fra­ge‘ eine Fra­ge sozia­ler Aner­ken­nung: wie konn­te man ein voll­wer­ti­ges Mit­glied der bür­ger­li­chen Gesell­schaft sein (…), ohne gleich­zei­tig zu ver­leug­nen, wer man war?«

Sey­la Ben­ha­bib, Han­nah Are­ndt, Die melan­cho­li­sche Den­ke­rin der Moder­ne, Frankfurt/​M. 2006, S. 77.

25 Are­ndt, Ich will ver­ste­hen, a.a.O., S.139 f.

Wel­che Bedeu­tung der Paria unter den Bedin­gun­gen der moder­nen Mas­sen­ge­sell­schaft für Are­ndt hat­te, macht fol­gen­de Aus­sa­ge deut­lich: »Die Men­schen­wür­de, die Ach­tung vor dem mensch­li­chen Ange­sicht, die der Paria instinkt­ar­tig ent­deckt, ist die ein­zig natür­li­che Vor­stu­fe für das gesam­te mora­li­sche Welt­ge­bäu­de der Vernunft.«

26 Are­ndt, ebd. S.37. In einer Dis­kus­si­on 1972 sag­te sie:

»Sie fra­gen mich also, wo ich ste­he. Ich ste­he nir­gend­wo. Ich schwim­me wirk­lich nicht im Strom des gegen­wär­ti­gen oder irgend­ei­nes ande­ren poli­ti­schen Den­kens. Aller­dings nicht des­halb, weil ich beson­ders ori­gi­nell sein will – es hat sich viel­mehr ein­fach so erge­ben, dass ich nir­gend­wo rich­tig hin­ein­pas­se.« Ebd., S.111.

27 Are­ndt, Rosa Luxem­burg, in: Dies., Men­schen in fins­te­ren Zei­ten, Mün­chen 2012, S.46 – 74.

28 Ebd., Ber­tolt Brecht, S.259 – 310.

29 https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Blücher, zuletzt zuge­grif­fen am 20.01.2023. Sie­he dazu auch die Dar­stel­lung, die Mar­chart in »Die Welt und die Revo­lu­ti­on« gibt.

30 Are­ndt, Vita acti­va, Mün­chen 1981, S.166.

31 https://​jochen​teuf​fel​.com/​2​0​2​0​/​1​2​/​0​5​/​h​a​n​n​a​h​-​a​r​e​n​d​t​-​u​b​e​r​-​d​i​e​-​n​a​t​a​l​i​t​a​t​-​b​z​w​-​d​a​s​-​g​e​b​o​r​e​n​s​e​i​n​-​d​a​s​s​-​m​a​n​-​i​n​-​d​e​r​-​w​e​l​t​-​v​e​r​t​r​a​u​e​n​-​h​a​b​e​n​-​u​n​d​-​d​a​s​s​-​m​a​n​-​f​u​r​-​d​i​e​-​w​e​l​t​-​h​o​f​f​e​n​-​d​a​r​f​-​i​s​t​-​v​i​e​l​l​e​i​c​h​t​-​n​i​r​g​e​n​d​s​-​k​n​a​p​p​e​r​-​u​n​d​-​s​c​h​o​n​e​r​-​a​u​s​g​e​d​r​u​c​k​t​-​a​l​s​-​i​n​-​d​en/

Sey­la Ben­ha­bib stellt Are­ndts Umgang mit Heid­eg­gers exis­ten­zi­al­on­to­lo­gi­schen Kate­go­rien im Kap. IV »Der Dia­log mit Mar­tin Heid­eg­ger: Are­ndts Onto­lo­gie der Vita Acti­va, S.169 – 189, dar. In: Dies., Han­nah Are­ndt, Die melan­cho­li­sche Den­ke­rin der Moder­ne, a.a.O.

32 Are­ndt, Die Frei­heit, frei zu sein, Mün­chen 2018, S.38.

33 Im bereits in einem ande­ren Zusam­men­hang zitier­ten Inter­view mit Adal­bert Reif, a.a.O., S.119.

34 In »Macht und Gewalt« heißt es in der Anmer­kung 30 auf S.26: »Der Fall Lenin ist kom­pli­zier­ter (als der von Marx und Engels hin­sicht­lich der Rol­le der Räte inner­halb ihrer Theo­rie, Anm. B.S.) Den­noch war es schließ­lich Lenin, der die Sowjets ent­mach­te­te und alle Macht der Par­tei gab.« Agi­ta­to­risch voll­zog Lenin den Bruch mit dem Räte­kom­mu­nis­mus in sei­ner Schrift mit dem bezeich­nen­den Titel »Der ›Lin­ke Radi­ka­lis­mus‹, die Kin­der­krank­heit im Kom­mu­nis­mus«. Spä­tes­tens unter Sta­lin hat­te sich die Macht der Räte dann völ­lig auf­ge­löst. Damit war die ent­schei­den­de Wei­chen­stel­lung zu einem Staats­so­zia­lis­mus erfolgt, der für die Kri­tik der Räte­kom­mu­nis­ten theo­rie­im­ma­nent alle wich­ti­gen Bedin­gun­gen dafür erfüll­te, um als Staats­ka­pi­ta­lis­mus im Gewand blo­ßer kom­mu­nis­ti­scher Rhe­to­rik abge­lehnt und bekämpft zu wer­den. Der räte­kom­mu­nis­ti­sche Stand­punkt lau­te­te, dass der Staat in Gestalt der bol­sche­wis­ti­schen Ein-Par­tei­en-Dik­ta­tur die Funk­ti­on der Kapi­ta­lis­ten­klas­se ledig­lich über­nom­men habe; weder sei es zu einer Befrei­ung der Arbei­ter­klas­se gekom­men, noch habe sich grund­sätz­lich etwas an ihrer Lohn­ab­hän­gig­keit und damit an ent­frem­de­ten Arbeits­ver­hält­nis­sen geän­dert. Daher kann auch kein Zwei­fel dar­an bestehen, dass die Erwerbs­ar­beit in den sog. staats­so­zia­lis­ti­schen Sys­te­men die hete­ro­no­me Aus­beu­tung des Men­schen nach Marx nicht besei­tigt, son­dern per­p­etu­iert hat.

Im Räte­sys­tem »sieht Are­ndt einen Ansatz für einen neu­en Staats­be­griff, ein föde­ra­les Sys­tem, das von unten beginnt, sich nach oben fort­setzt und schließ­lich zu einem Par­la­ment führt, wobei die Räte die Nach­tei­le einer nach Par­tei­en orga­ni­sier­ten Volks­ver­tre­tung, die durch Klas­sen­in­ter­es­sen bestimmt sind, über­win­den.« Bru­no Heidl­ber­ger, Rezen­si­on zu Richard J. Bern­stein: Den­ke­rin der Stun­de: Han­nah Are­ndt, https://​www​.social​net​.de/​r​e​z​e​n​s​i​o​n​e​n​/​2​8​0​2​7​.​php

35 Eli­sa­beth Young-Brühl, Han­nah Are­ndt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/​M. 2018, S.554.

36 Schmid-Are­ndt, Das Recht auf Revo­lu­ti­on, Radio-Gespräch (1965) https://​www​.han​na​ha​rendt​.net/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​/​h​a​n​/​a​r​t​i​c​l​e​/​v​i​e​w​/​2​9​6​/​423, S. 2 – Als Audio:

https://​www​.br​.de/​m​e​d​i​a​t​h​e​k​/​p​o​d​c​a​s​t​/​n​a​c​h​t​s​t​u​d​i​o​/​h​a​n​n​a​h​-​a​r​e​n​d​t​-​d​a​s​-​r​e​c​h​t​-​a​u​f​-​r​e​v​o​l​u​t​i​o​n​/​1​3​0​6​191

37 Are­ndt, Macht und Gewalt, a.a.O., S.25.

38 Ver­ges­sen wir nicht, dass his­to­risch-ety­mo­lo­gisch der Ter­ror also ein Abkömm­ling der Revo­lu­ti­on und der vitiö­sen Dyna­mik ist, die die Revo­lu­ti­on aus sich gebar, wodurch geschicht­lich immer wie­der neu­es Leid geschaf­fen wurde.

39 https://​www​.pari​s​ci​ty​vi​si​on​.com/​d​e​/​p​a​r​i​s​/​m​u​s​e​e​n​/​l​o​u​v​r​e​-​m​u​s​e​u​m​/​e​u​g​e​n​e​-​d​e​l​a​c​r​o​i​x​-​d​i​e​-​f​r​e​i​h​e​i​t​-​f​u​h​r​t​-​d​a​s​-​v​olk

40 Are­ndt, Das Recht auf Revo­lu­ti­on, a.a.O.

41 Eli­sa­beth Young-Brühl, a.a.O., S… ?

42 Gott­hold Ephra­im Les­sing, Nathan der Wei­se, 2.Akt, 10.Auftritt (Al Hafi): »Wer über­legt, der sucht/​/​Bewegungsgründe nicht zu dür­fen. Wer/​/​Sich knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht/​/​Entschließen kann, der lebet and­rer Sklav/​/​auf immer.«

43 Han­nah Are­ndt, Über die Revo­lu­ti­on, Mün­chen 2011, S. 305.

44 Karl Jas­pers schrieb in »Wohin treibt die Bun­des­re­pu­blik? dazu: »Man will Ruhe im neu­en Staat, so wie er ist. Die Men­schen, die im Tiefs­ten immer unent­schie­den, nie sie selbst sind, wol­len ihre Behag­lich­keit. Daß etwas in den Fun­da­men­ten des Staa­tes nicht in Ord­nung sein soll­te, ist ihnen ein frem­der Gedan­ke der sub­ver­si­ven Kri­ti­ker, der ‚Nega­ti­ven‘.« Karl Jas­pers, Mit­ver­ant­wort­lich. Ein phi­lo­so­phisch poli­ti­sches Lese­buch, Güters­loh o.J., S.304.

Are­ndt dage­gen schrieb an Dolf Stern­ber­ger: »Mir hat die gute alte Zeit schon nicht gefal­len, als sie noch 25 Jah­re jün­ger war«. – Zu den öko­no­mi­schen Grün­den der Restau­ra­ti­on und Refa­schi­sie­rung in der BRD, die von Are­ndt nicht the­ma­ti­siert wur­den, sie­he Lia­ne Kilic im Mag­ma-Maga­zin lin­ker Wider­stand https://​mag​ma​-maga​zin​.su/​2​0​2​2​/​1​2​/​l​i​a​n​e​-​k​i​l​i​n​c​/​w​a​s​-​h​a​t​-​a​l​l​e​s​-​d​a​z​u​-​b​e​i​g​e​t​r​a​g​e​n​-​d​a​s​s​-​d​i​e​-​n​a​z​i​-​i​d​e​o​l​o​g​i​e​-​i​n​-​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​-​w​i​e​d​e​r​-​s​o​-​l​e​i​c​h​t​-​f​u​s​s​-​f​a​s​s​e​n​-​k​a​nn/ , 5.12.2022.

45 Josef Fosche­poth, Ver­fas­sungs­wid­rig! Das KPD-Ver­bot im Kal­ten Bür­ger­krieg, Göt­tin­gen 2017.

46 Are­ndt, Den­ken ohne Gelän­der. Tex­te und Brie­fe, Mün­chen 2006, S. 226.

47 Ebd., S.227 f.

48 Ebd., S. 228.

49 Ebd., S. 229 f.

50 New York Times, 25. Mai 1969, zitiert nach Eli­sa­beth Brühl-Young, a.a.O., S. 575.

51 Are­ndt, Macht und Gewalt, a.a.O., S.80. In his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve for­mu­liert, hört sich die­se Kri­tik so an: »Das Par­tei­en­sys­tem, das bis heu­te die ein­zi­ge Form ist, in wel­cher die Volks­sou­ve­rä­ni­tät im Natio­nal­staat zur Gel­tung kom­men kann, ist auch von eben die­sem Volks eigent­lich mit sei­nem Ent­ste­hen (im 19.Jahrhundert, Anm. B.S.) mit eini­gem Miß­trau­en betrach­tet wor­den, und es hat in vie­len Fäl­len (…) unter Zustim­mung brei­tes­ter Volks­mas­sen mit der Errich­tung einer Par­tei­en­dik­ta­tur und der Abschaf­fung gera­de der spe­zi­fisch demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen (…) geendet.«

52 Brühl-Young, a.a.O., S. 576.

53 Das 1965 erschie­ne­ne Buch wur­de spä­ter in der Bun­des­re­pu­blik bezeich­nen­der­wei­se nicht wie­der auf­ge­legt und ist heu­te nur noch ver­ein­zelt zu hohen Samm­ler-und Lieb­ha­ber­prei­sen anti­qua­risch erhält­lich. Eine Zusam­men­fas­sung wich­ti­ger Aus­sa­gen des Buches fin­det sich hier: https://​www​.gewal​ten​tei​lung​.de/​w​o​h​i​n​-​t​r​e​i​b​t​-​d​i​e​-​b​u​n​d​e​s​r​e​p​u​b​l​ik/

54 Jas­pers zitiert nach: https://​www​.frei​tag​.de/​a​u​t​o​r​e​n​/​s​p​a​h​l​k​e​/​d​e​r​-​n​e​u​s​t​e​-​a​n​g​r​i​f​f​-​a​u​f​-​d​i​e​-​d​e​m​o​k​r​a​tie – Was die Ein­mü­tig­keit mit Are­ndt in der Ableh­nung der Kol­lek­tiv­schuld­the­se angeht, sei hier bloß auf den oft zitier­ten Pas­sus aus »Macht und Gewalt« ver­wie­sen: »Nun, wo alle schul­dig sind, ist es kei­ner; gegen die Ent­de­ckung der wirk­lich Schul­di­gen oder Ver­ant­wort­li­chen, die Miß­stän­de abstel­len kön­nen, gibt es kei­nen bes­se­ren Schutz als kol­lek­ti­ve Schuld­be­kennt­nis­se.« Are­ndt, a.a.O., S. 65. – Man ist geneigt zu fra­gen, ob sol­che Reak­ti­ons­bil­dun­gen auf Unrecht und Unrechts­er­fah­run­gen auch eine Auf­ar­bei­tung des Unrechts der Coro­na-Poli­tik ver­un­mög­li­chen werden.

55 Ebd.

56 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_tätig_waren

57 Jas­pers, a.a.O., S. 319.

58 Are­ndt, Besuch in Deutsch­land (1950), Mün­chen 1993, S. 24.

59 Jas­pers, a.a.O., S. 366. – Are­ndt stellt in dem Zusam­men­hang die hypo­the­ti­sche Fra­ge, was aus Deutsch­land gewor­den wäre, wenn die viel­leicht 100.000 durch das Nazi-Regime nicht kom­pro­mit­tier­ten, unbe­schol­te­nen Bür­ger nach 1945 alle poli­ti­schen Ämter besetzt hätten.

60 Oli­ver Mar­chart, Die Welt und die Revo­lu­ti­on, a.a.O., S. 3.

61 Dabei agiert die Bun­des­re­pu­blik aber­mals nicht aus einer Posi­ti­on der Stär­ke, son­dern der
Schwä­che her­aus: Wie der Gene­ral a.D. Harald Kujat in einem Inter­view mit der schwei­ze­ri­schen Zeit­schrift »Zeit­ge­sche­hen im Fokus« kri­ti­siert, wer­den »die deut­schen Sicher­heits­in­ter­es­sen und Gefah­ren durch eine Aus­wei­tung des Krie­ges zu wenig beach­tet«, was für Kujat, der der ehe­ma­li­ge Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr und Vor­sit­zen­der des NATO-Mili­tär-Aus­schus­ses gewe­sen ist, »von einem Man­gel an Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein oder, um einen alt­mo­di­schen Begriff zu ver­wen­den, von einer höchst unpa­trio­ti­schen Hal­tung« zeu­ge. In dem Zusam­men­hang spie­le laut Kujat »auch die Art und Wei­se eine Rol­le, wie eini­ge Ver­bün­de­te ver­su­chen, die Bun­des­re­gie­rung öffent­lich nun auch zur Lie­fe­rung von Leo­pard 2‑Kampfpanzern zu drän­gen. Das hat es in der NATO bis­her nicht gege­ben.« Kujat ist der Ansicht, dies zei­ge, »wie sehr Deutsch­lands Anse­hen im Bünd­nis durch die Schwä­chung der Bun­des­wehr« (u.a. durch Waf­fen­wei­ter­ga­be an die Ukrai­ne) »gelit­ten hat und mit wel­chem Enga­ge­ment eini­ge Ver­bün­de­te das Ziel ver­fol­gen, Deutsch­land gegen­über Russ­land beson­ders zu expo­nie­ren«. https://​zeit​ge​sche​hen​-im​-fokus​.ch/​d​e​/​n​e​w​s​p​a​p​e​r​-​a​u​s​g​a​b​e​/​n​r​-​1​-​v​o​m​-​1​8​-​j​a​n​u​a​r​-​2​0​2​3​.​h​tml.

62 https://​www​.zeit​.de/​n​e​w​s​/​2​022 – 12/29/mehrheit-der-bevoelkerung-gegen-ende-der-corona-massnahmen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F https://​www​.focus​.de/​g​e​s​u​n​d​h​e​i​t​/​c​o​r​o​n​a​v​i​r​u​s​/​p​a​n​d​e​m​i​e​-​l​a​n​g​z​e​i​t​b​e​f​r​a​g​u​n​g​-​d​i​e​-​m​e​i​s​t​e​n​-​d​e​u​t​s​c​h​e​n​-​w​o​l​l​e​n​-​w​e​i​t​e​r​-​m​a​s​k​e​n​-​u​n​d​-​i​s​o​l​a​t​i​o​n​s​p​f​l​i​c​h​t​_​i​d​_​1​8​0​4​5​2​7​9​5​.​h​tml

Sie­he dazu auch Anmer­kung 64.

63 Syl­vie Weber, https://​www​.rubi​kon​.news/​a​r​t​i​k​e​l​/​f​a​k​t​e​n​c​h​e​c​k​e​r​-​i​n​-​d​e​r​-​b​r​e​d​o​u​i​lle:, 10.1.2023: « ‚Wie soll man die­se Men­schen mit Fak­ten errei­chen und in die Gesell­schaft inte­grie­ren?’ Ja, wie oft hat man sich das in den letz­ten drei Jah­ren gefragt? Als selbst die evi­denz­be­frei­tes­ten Maß­nah­men befolgt wur­den. Man den­ke dabei exem­pla­risch an das im Win­ter 2021 erlas­se­ne Rodel­ver­bot, im Kreis schwim­men in Bädern, Vor­ga­ben über die Lauf­rich­tung auf Wan­der­we­gen oder die voll­kom­men sinn­freie Mas­ken­pflicht beim Toi­let­ten­gang im Restaurant.«

64 https://​www​.rubi​kon​.news/​a​r​t​i​k​e​l​/​d​e​r​-​c​o​r​o​n​i​s​mus – Die Trif­tig­keit von Mey­er­hö­fers The­se, belegt eine Umfra­ge, die in den Medi­en gleich nach Weih­nach­ten 2022 publik wur­de, unmit­tel­bar nach­dem der Covid-19-»Chef-Virologe« Chris­ti­an Dros­ten die Pan­de­mie für »been­det« erklärt hat­te. Das Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tut You­Gov hat dar­auf­hin in einer Umfra­ge dies­be­züg­lich die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung zu ermit­teln ver­sucht. Das You­Gov-Ergeb­nis: 64% der Befrag­ten wider­spra­chen der bis­lang in den Mas­sen­me­di­en fast als päpst­lich gehan­del­ten Mei­nung Dros­tens. Sie­he dazu auch die Links in Anmer­kung 62.

https://​web​.de/​m​a​g​a​z​i​n​e​/​n​e​w​s​/​c​o​r​o​n​a​v​i​r​u​s​/​m​e​h​r​h​e​i​t​-​b​e​v​o​e​l​k​e​r​u​n​g​-​c​o​r​o​n​a​-​m​a​s​s​n​a​h​m​e​n​-​3​7​5​9​8​548

65 »Die wirk­sams­te Mani­pu­la­ti­on unse­res Geis­tes zielt nicht dar­auf, bestimm­te ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gun­gen in uns zu ver­an­kern, son­dern dar­auf, uns der Befä­hi­gung zu berau­ben, über­haupt Über­zeu­gun­gen aus­zu­bil­den.« Han­nah Are­ndt, zitiert nach Rai­ner Maus­feld, Die Angst der Macht­eli­ten vor dem Volk, https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Folien_Angst%20der%20Eliten_HH_IPPNW.pdf _ Zur feh­len­den Aus­bil­dung von Über­zeu­gun­gen sie­he auch in Ele­men­te und Ursprün­ge tota­ler Herr­schaft, S.538: »Es ist mehr als ein Zei­chen all­ge­mein mensch­li­cher Schwä­che oder spe­zi­fisch deut­schen Oppor­tu­nis­mus, daß die Alli­ier­ten nach der Nie­der­la­ge von Nazi­deutsch­land ver­geb­lich nach einem ein­zi­gen über­zeug­ten Nazi in der Bevöl­ke­rung fahn­de­ten, und dies besagt nichts gegen die Tat­sa­che, daß ver­mut­lich acht­zig Pro­zent des deut­schen Vol­kes irgend­wann ein­mal über­zeug­te Anhän­ger oder Sym­pa­thi­sie­ren­de der Nazis gewe­sen waren. Dar Nazis­mus als Ideo­lo­gie war so voll­stän­dig in der Orga­ni­sa­ti­on der Bewe­gung des Rei­ches ‚rea­li­siert‘ wor­den, daß von sei­nem Inhalt als einem Sys­tem bestimm­ter Dok­tri­nen mit einer von der Rea­li­tät unab­hän­gi­gen geis­ti­gen Exis­tenz nichts übrig­ge­blie­ben war.«

66 https://​www​.deutsch​land​funk​kul​tur​.de/​g​e​d​a​n​k​e​n​l​o​s​i​g​k​e​i​t​-​a​l​s​-​p​h​i​l​o​s​o​p​h​i​s​c​h​e​r​-​k​e​r​n​b​e​g​r​i​f​f​-​1​0​0​.​h​tml, 24.3.2011.

67 https://​www​.deutsch​land​funk​.de/​a​b​s​t​r​a​k​t​e​-​a​r​b​e​i​t​-​u​n​d​-​d​e​s​t​r​u​k​t​i​v​e​-​s​e​h​n​s​u​c​h​t​-​1​0​0​.​h​t​m​l71 Eichmann/​Arendt, 13.3.2011.

68 Are­ndt, Gedan­ken zu Les­sing, in Dies., Men­schen in fins­te­ren Zei­ten, a.a.O., S. 33.

69 Are­ndt, Fern­seh­ge­spräch mit Thi­lo Koch (24.1.1964) in Dies., Ich will ver­ste­hen, a.a.O., S.43. Sie­he dazu auch: Deutsch­land­funk, Gedan­ken­lo­sig­keit als phi­lo­so­phi­scher Kern­be­griff, a.a.O.

70 Ebd.

71 Ebd., S. 44 f.

72 http://​www​.ausch​witz​-pro​zess​-frank​furt​.de/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​?​i​d​=​146

73 Hier zwei Aus­zü­ge aus dem schö­nen Buch von Kleß­mann: »Hier geht es um die Geschich­te einer von Anfang an schwie­ri­gen und span­nungs­ge­la­de­nen Bezie­hung und deren Ursa­chen zu Leb­zei­ten Goe­thes. Sein Tod hat die Deut­schen nicht ver­söhn­li­cher gestimmt, im Gegen­teil. Denn nun wur­de mit der Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Brie­fe und Gesprä­che über­haupt erst bekannt, wie wenig der Dich­ter von sei­nen Lands­leu­ten gehal­ten hat­te (…), S.7. »Heu­te, dank einer ein­ge­hen­den, den kleins­ten Spu­ren und Ver­äs­te­lun­gen nach­ge­hen­den Goe­the-Wis­sen­schaft, lie­gen uns die gro­ßen und die klei­nen Zusam­men­hän­ge klar zuta­ge. Aber was wuß­te damals Deutsch­land von dem, den es einst als sei­nen größ­ten Dich­ter wür­di­gen soll­te? Von der Tätig­keit des Natur­for­schers erst spät, und von die­sem Goe­the hat es bis heu­te wenig wis­sen wol­len. Sei­ne natur­wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en, sei­ne For­schun­gen zur Urpflan­ze oder zur Far­ben­leh­re wur­den und wer­den belä­chelt. Und gera­de die­se hoch­mü­ti­ge Zurück­wei­sung hat das nega­ti­ve Bild, das Goe­the nun sei­ner­seits von sei­nen Lands­leu­ten (…) – wenn Goe­the von den ‚Deut­schen‘ spricht, meint er die spä­ter so genann­ten ‚Bil­dungs­bür­ger‘ (…), Pro­ble­me mit denen, die man das ‘ein­fa­che Volk‘ nann­te, gab es hin­ge­gen nicht – gewann, ent­schie­den bestä­tigt. Die­sen emi­nent viel­fäl­tig begab­ten Künst­ler, groß als Lyri­ker, Roman­cier, Dra­ma­ti­ker, Essay­ist, Natur­for­scher und Zeich­ner, von einem geis­ti­gen Rang, der in die­ser die Gren­zen über­win­den­den Bega­bungs­fül­le alles, was vor und nach ihm war, ver­zwer­gen läßt: Ihm gaben die Deut­schen zwar gern den alber­nen Titel eines ‚Dich­ter­fürs­ten‘, doch tat­säch­lich such­ten sie ihn klein­zu­re­den, zu redu­zie­ren auf ein For­mat, das ihnen kom­men­su­ra­bel schien (…).« Eck­art Kleß­mann, Goe­the und sei­ne lie­ben Deut­schen, Ansich­ten einer schwie­ri­gen Bezie­hung, Frankfurt/​M. 2010, S. 7 und S. 41 f.

74 Anselm Lenz / Ull­rich Mies, Der Aus­nah­me­zu­stand als Regel, in: Ull­rich Mies (Hg.), Schö­ne Neue Welt 2030, Vom Fall der Demo­kra­tie und dem Auf­stieg einer tota­li­tä­ren Ord­nung, Wien 2021, S. 36.

75 Mar­chart, a.a.O., S. 13.

Bild: Por­trait von Han­nah Are­ndt und Mary McCar­thy (wiki­me­dia com­mons)

2 thoughts on “Han­nah Are­ndt, das »gefähr­li­che Den­ken« und Wir: Eine Relek­tü­re Han­nah Are­ndts aus Anlass der »Zeitenwende«-Proklamation durch die deut­sche Politik

  1. Die Erklä­run­gen zum angeb­lich nicht vor­han­de­nen Anti­kom­mu­nis­mus der Han­nah Are­ndt sind so ein­di­men­sio­nal, daß alle Vor­be­hal­te, die ich mit dem Beginn des Arti­kels ob sei­ner Ziel­rich­tung ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen bereits hat­te, bei wei­tem über­trof­fen wur­den. In der schlich­ten Sim­pli­fi­zie­rung »Bol­sche­wis­mus ungleich Kom­mu­nis­mus« eine ratio­na­le Erklä­rung für die »Feind­schaft« gegen­über Sta­lin und der sowje­ti­schen Aus­ge­stal­tung des Sozia­lis­mus zu fin­den, ist nie­der­schmet­ternd einfältig.

    Are­ndts Wand­lung zur gehäs­si­gen Anti­kom­mu­nis­tin erfolg­te erst nach der berüch­tig­ten »Geheim­re­de« Chrust­schows 1956 (die der His­to­ri­ker Gro­ver Furr als grob gestrick­tes Kon­strukt aus Lügen ent­larvt hat – was bür­ger­li­che Geschichts­wis­sen­schaft­ler eben­so leicht hät­ten erar­bei­ten kön­nen, so sie denn gewollt hät­ten. Und ich erlau­be mir hier eine wei­te­re Rand­be­mer­kung: Noske hat die Ermor­dung Luxem­burgs und Lieb­knechts nicht gebil­ligt. Er hat sie ange­ord­net. Ich erwäh­ne dies, weil hier der bis heu­te lodern­de, tief­ver­wur­zel­te Hass der Sozi­al­de­mo­kra­tie auf den Kom­mu­nis­mus her­vor­tritt. Der Autor des Arti­kels soll­te sei­nen Haff­ner noch­mal aus dem Regal nehmen. )

    Nach mei­ner Erin­ne­rung ein­schlä­gi­ger Lite­ra­tur zum The­ma hat­te Are­ndt noch bis in die Jah­re kurz nach Ende des 2.Weltkrieges sowohl die Per­son als auch die Poli­tik Sta­lins wohl­wol­lend beschrie­ben. Ob die Wand­lung unre­flek­tiert naiv oder absichts­voll bös­ar­tig erfolg­te, wür­de nur sie allein beant­wor­ten können. 

    Auf jeden Fall hat sie mit der ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Gleich­set­zung von Mör­dern und Opfern – nichts ande­res näm­lich beinhal­tet die Wort­schöp­fung »Tota­li­ta­ris­mus« als Aus­druck der angeb­lich gemein­sa­men Quel­le von Faschis­mus und Kom­mu­nis­mus – der Revo­lu­ti­on einen Bären­dienst erwie­sen, die sie lt. des Autors die­ses Arti­kels doch so befür­wor­tet hat. Ich will mei­nen Ärger über die, gelin­de gesagt, unprä­zi­se his­to­ri­sche Dar­stel­lung des Sozia­lis­mus in der UdSSR und der Poli­tik unter Sta­lin in kon­struk­ti­ve Bah­nen len­ken und gebe Ihnen fol­gen­de His­to­ri­ker und Poli­to­lo­gen als Quel­len­stu­di­um an die Hand:
    Dome­ni­co Losur­do, Italien
    Ludo Mar­tens, Belgien
    Gro­ver Furr, USA
    Micha­el Kubi, Deutschland

    In den Wer­ken und Arti­keln die­ser Autoren fin­den Sie eine Viel­zahl wei­te­rer Lite­ra­tur von Geschichts­wis­sen­schaft­lern, die sich mit der Rea­li­tät des Sozia­lis­mus und des gesell­schaft­li­chen Umfel­des in der UdSSR aus­ein­an­der­set­zen und nicht die Ver­satz­stü­cke eines Roy Med­we­dew, eines Robert Con­quest und ande­rer repetieren.

    Mit freund­li­chen Grüßen

    1. Dan­ke für den Kom­men­tar. Die Redak­ti­on bemüht sich auf der Mag­Ma das sich links und c‑kritisch ver­ste­hen­de Spek­trum auch in Dia­log und Dis­kus­si­on zu set­zen, was auch ein Neben­ein­an­der unter­schied­li­cher Posi­tio­nen mit­sich bringt. Ihr war natür­lich bewusst, dass Are­ndt sehr kri­tisch gese­hen wird und v.a. gegen die Tota­li­ta­ris­mus­the­se gibt es auch eini­ge Arti­kel. Übri­gens bemüht sich die Redak­ti­on dar­um die jüngs­te Arbeit Furrs in dt. Über­set­zung zugäng­lich zu machen, sofern Autor ein­ver­stan­den. Von daher bit­tet die Redak­ti­on eben um Ver­ständ­nis für das Neben­ein­an­der ver­schie­de­ner Strän­ge und bedankt sich zugleich für den guten Ein­stieg in die ja erwünsch­ten Diskussionen.

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