Die politische Ordnung, die wir bisher gekannt haben, existiert nicht mehr. Seit dem Beginn des militärischen Konflikts in der Ukraine ist die Welt nicht wieder zu erkennen. Welche Veränderungen rief der Krieg hervor, welche Entwicklung nahm er und was sind seine Perspektiven?
Atemberaubender Wandel
Nirgendwo wird der Wandel, den dieser Krieg hervorgerufen hat, deutlicher als in der Haltung der Grünen und so manch anderer selbsterklärter Friedensaktivisten. Aus huldvoll lächelnden Friedensaposteln, die den Krieg durch bewusste Ernährung und Konfliktvermeidung aus der Welt tanzen wollten, sind die schärfsten Kriegsbefürworter geworden. Da erinnert sich auch Außenministerin Baerbock ganz gerne wieder der Heldentaten ihres Großvaters, der die Rote Armee bereits damals an der Oder hatte aufhalten wollen. Schluss mit dem antifaschistischen Gesäusel!
Der Russe hat den Frieden gebrochen. Das brachte das Weltbild vieler friedensbewegter Linke, besonders aber der Grünen, aus dem Tritt. Denn bisher galt für sie immer der Westen als derjenige, den man der Kriegstreiberei bezichtigen konnte. Das tat man immer wieder gern. Das war komfortabel, konnte man sich doch als besserer Mensch darstellen, weil man für den Frieden eintrat, ohne dafür allzu große Nachteile hinnehmen zu müssen.
Doch schneller als man sich versah, interessierte sich im Westen und in Teilen des Lagers der Friedensaktivisten unter diesen veränderten Bedingungen niemand mehr für das eigene Geschwätz von gestern. Ab sofort gilt es, die westlichen Werte zu verteidigen gegen die anstürmende Gefahr aus dem Osten – mal wieder. Aus den Paulussen der Friedfertigkeit wurden die Saulusse der Wertemission. Und schon fielen eigene Beschränkungen schneller als die Dominosteine.
Wollte Baerbock zu Beginn des Ukraine‐Konfliktes nur Helme und Verbandszeug liefern, so ist sie in weniger als einem Jahr bei Kampfpanzern angelangt. Die Bremse ist gelöst, das Aufrüstungskarussell dreht sich immer schneller. Kaum sind die Kampfpanzer genehmigt, fordert die Ukraine Kampfjets, Raketen und U‑Boote. Schon schließt Frankreich die Lieferung von Kampfflugzeugen nicht mehr aus (1). Der Krieg scheint zu eskalieren.
Westliche Irrtümer
Aber bringen mehr Waffen die Ukraine und den Westen dahinter dem Sieg näher? Führen sie Russland in den Ruin, den Baerbock sich so sehr wünscht? Diese Frage ist für den militärischen Laien schwer zu beantworten, zumal die Nachrichtenlage sehr fragwürdig ist. Die westlichen Medien sind weitgehend getrieben von dem Wunsch, die russische Niederlage herbei zu schreiben. Ob das aber der Wirklichkeit entspricht, ist zu bezweifeln. Bisher haben sich die meisten Prophezeiungen sogenannter Experten nicht bewahrheitet.
Die russische Wirtschaft ist nicht unter den Sanktionen zerbrochen. Die Raketenarsenale Russlands sind noch lange nicht erschöpft, wie das bereits für das Frühjahr 2022 von den westlichen Experten in Aussicht gestellt worden war. Die ukrainischen Geländegewinne des Sommers haben nicht zu der Offensive geführt, die die Russen selbst von der Krim vertreiben sollte. Die russische Gesellschaft steht weiter hinter Putin, der erwünschte Regime‐Change fällt wohl fürs Erste aus.
Im Gegenteil hat sich die russische Armee von ihren Rückschläge erholt. Dabei ist nicht einmal sicher, ob es sich um solche handelt, denn dazu müsste man wissen, wie die Pläne der russischen Führung ausgesehen haben. Zwar tun die westlichen Kommentatoren des Krieges immer so, als wüssten sie genau, was Putin vorhat. Aber die Ereignisse scheinen ihnen nicht recht zu geben und es ist unwahrscheinlich, dass Putin sie in seine Pläne eingeweiht haben dürfte.
Offensichtlich gehen die Russen anders an den Krieg heran, als man sich das im Westen vorstellt. Der Westen schließt von sich auf Russland und erkennt nicht, dass man in Moskau anders denkt und dementsprechend anders handelt.
Geänderte Strategien
Nach einer Pattsituation seit dem Sommer 2022 ist die russische Armee wieder in der Offensive. Die ukrainischen Verteidigungslinien im Donbass zerbröckeln unter der russischen Artillerie. Die ursprüngliche Strategie der Russen scheint sich geändert zu haben. Jetzt führt man wirklich Krieg.
Die Maßnahmen bis zum vergangenen Sommer erwecken den Eindruck, dass man der Ukraine die militärischen Fähigkeiten Russlands andeuten wollte, um zu einem relativ unblutigen Ergebnis zu kommen, mit dem beide Seiten hätten leben können. Dem diente die Aufforderung Putins an das ukrainische Militär, sich von der politischen Führung zu distanzieren und mit Russland über die Zukunft des Landes zu verhandeln. In seiner Rede zu Beginn des Einmarsches appellierte er an die gemeinsame Vergangenheit in Armee und Staat der Sowjetunion, den gemeinsamen Ursprung als slawische Brudervölker.
Unterstrichen wurde dieser Appell von dem schnellen Vorstoß auf Kiew, der die hohe Beweglichkeit und Wirkungskraft der russischen Verbände offenbarte. Die Stadt einzunehmen oder gar zu zerstören, war vermutlich nie beabsichtigt, auch wenn der Westen darüber phantasierte. Der Rückzug, der vom Westen als Sieg der Ukraine bejubelt wurde, war vielmehr das Zuckerbrot, das man für die ukrainische Verhandlungsbereitschaft in Istanbul verteilte.
Der Westen interpretierte dieses Vorhalten als Schwäche Russlands, was zu der verstiegenen Vorstellung führte, Russland besiegen zu können, wenn man die Ukraine mit ausreichend Waffen versorgte. Dementsprechend bot man der Ukraine, die schon in Istanbul am Verhandlungstisch saß, die Ausweitung der Waffenlieferungen an. Die Ukraine brach die Verhandlungen mit Russland ab, denn sie bekam, was sie brauchte, um den Krieg weiterzuführen. Als dann im Sommer mit Unterstützung westlicher Geheimdienste und Aufklärungsdaten Geländegewinne der ukrainischen Armee erzielt wurden, verfielen die Ukraine und der Westen in Siegestaumel.
Russland musste erkennen, dass seine ursprüngliche Strategie, die kriegerische Auseinandersetzung als sogenannte Sonderoperation auf niedrigem Niveau zu halten, nicht zum erwünschten Ergebnis führte. Es folgte die Vorbereitung der militärischen Offensive durch die Mobilisierung zusätzlicher Kräfte und Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion. Dies scheint nun auch der Westen erkannt zu haben, weshalb auch er mittlerweile immer weniger von der Niederlage Russlands spricht, dafür öfter von der zu erwartenden russischen Offensive im Frühjahr. Der Optimismus scheint zu schwinden.
Gegensätzliche Entwicklungen
Obwohl die neue russischen Strategie ihre volle Wirksamkeit noch nicht entfaltet hat, scheint der Widerstand der ukrainischen Armee im Donbass immer schwächer zu werden. Zwar hat der Westen die Ukraine mit Waffen geflutet, doch handelte es sich dabei hauptsächlich um veraltetes Material aus sowjetischer Produktion. Dieses scheint nun weitgehend aufgebraucht oder die Front nicht in genügendem Umfang zu erreichen durch die Schläge der russischen Luftstreitkräfte gegen die ukrainische Infrastruktur.
Immer häufiger und drängender fordert deshalb die Ukraine westliches Material. Unter gewaltigen Opfern hatte sie im Donbass versucht, in die Offensive zu gehen, damit im Westen der Eindruck entstand, dass die Ukraine die Wende im Krieg herbeiführen kann. Unter diesen Umständen war man im Westen auch gerne bereit, das nötige Material zu stellen. Die Ukraine setzte ihre verlustreichen Angriffe gegen die russischen Stellungen fort, um die Aussicht auf den Sieg am Leben zu halten und den erwünschten Durchbruch zu erringen.
Die Russen jedoch hatten sich auf besser gesicherte Stellungen im Süden auf die linke Seite des Dnjepr und im Norden hinter den Fluss Oksol zurückgezogen. Sie ließen die Ukrainer kommen und an den russischen Abwehrstellungen verbluten. Bekanntlich muss der Einsatz des Angreifers an Material und Personal dreimal so hoch sein wie der des Verteidigers. Dementsprechend waren die Verluste der ukrainischen Armee, wollten sie den Eindruck von Vormarsch aufrecht erhalten, die beste Garantie für weitere westliche Lieferungen.
Die zunehmend erkennbaren Verluste und die damit verbundenen Forderungen der Ukrainer nach zusätzlichen und wirkungsvolleren Waffen bringen den Westen in Zugzwang. Vermutlich erkennt man, dass die Ukrainer einer erwarteten russischen Offensive nicht werden standhalten können. Man wird sie also unterstützen müssen, sollen sie weiterhin Russland schwächen.
Andererseits will man nicht zu viel von dem abgeben, was man vielleicht selbst noch braucht. Denn es wird immer deutlicher, dass die westlichen Waffen in ihrer Wirksamkeit nicht das halten, was man ihnen nachsagt. Auch genügen die eigenen Materialvorräte nicht den Ansprüchen einer Kriegsführung, wie der Westen sie in einer Auseinandersetzung mit Russland zu erwarten hätte. Man war es gewohnt, Kriege zu führen gegen wirtschaftlich und militärisch unterlegene Gegner.
Wenn auch nach den Bekenntnissen von Merkel und Hollande der Westen die Zeit seit dem Minsker Abkommen genutzt hat, um die Ukraine aufzurüsten, so scheint sich aber auch Russland auf diesen Konflikt vorbereitet zu haben. Vermutlich sah man sich 2014 noch nicht in der Lage, ihn erfolgreich führen zu können, hat ihn aber wohl von da an als unausweichlich angesehen. Darauf deuten die scheinbar unerschöpflichen Materialvorräte Russlands hin, die höher sind, als der Westen vermutet zu haben scheint.
Unterschiedliche Kriegsphilosophien
Nun sind aber die Waffen nur so wirksam wie das Personal, das sie bedient. Die ukrainische Armee erleidet erhebliche Verluste, wie selbst von der Leyen unbedacht ausgeplappert hat. Um die Illusion eines greifbaren Sieges für den Westen aufrecht zu erhalten, hat die Ukraine die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt. Noch jetzt führt sie weiterhin Kräfte in die Schlacht um Artjomowsk, obwohl selbst westliche Militärs zum Rückzug auf besser gesicherte Stellungen raten.
Mit menschlichen Opfern versucht die ukrainische Führung auszugleichen, was an Material fehlt. Die Waffen der Ukraine waren weitgehend sowjetischer Herkunft. Diese sind ihren Soldaten vertraut, aber veraltet gegenüber den neueren russischen Modellen. Die Waffen des Westens sind den Ukrainern weniger vertraut, weshalb sie erst an diesen ausgebildet oder mit ungewohnten Waffen in der Hand ins kalte Wasser geworfen werden müssen.
Trotz dieser widrigen Umstände scheinen sie aber den Russen gewachsen zu sein, wie uns unsere Medien weismachen wollen. Das schließen sie daraus, dass die Russen nur langsam vorankommen. Aber unsere Medien wollen nicht wahrhaben, was die Russen immer wieder erklären. Sie stehen nicht unter Zeitdruck. Die russische Führung schont ihr Personal, soweit das in einem Krieg möglich ist. Das aber sind Sichtweisen, die den westlichen Meinungsmachern fremd zu sein scheinen und die auch nicht zu dem eigenen Bild des menschenverachtenden Russen passen.
Denn anderes als in den Stellungskriegen des 1. Weltkriegs ist der moderne Soldat heute kein Kanonenfutter mehr. Er ist vielmehr ein Spezialist in der Handhabung moderner Waffen, der eine lange Ausbildungszeit durchlaufen hat. Damit ist er nicht so leicht zu ersetzen wie das Kanonenfutter vor Verdun. Einen Karabiner konnte jeder bedienen, sogar bereits zu Krüppeln Geschossene.
Ehe die russische Armeeführung ihre Soldaten zum Sturmangriff einsetzt, haben ihre Artillerie und Luftwaffe vorher das Terrain für den Angriff vorbereitet, um die Verluste möglichst gering zu halten. Denn Granaten sind leichter zu ersetzen als Soldaten. Die Waffen, die die Ukraine nun fordert und die der Westen immer mehr zu liefern bereit zu sein scheint, werden ihre Wirkung nicht entfalten, wenn die Soldaten nicht mehr vorhanden sind, die sie bedienen sollen.
Flugzeuge und Raketen können aus der Luft die Bevölkerung am Boden terrorisieren, aber sie können nicht den Boden selbst sichern. Das können nur Soldaten und eine Bevölkerung, die zur Verteidigung ihres Lebensraums bereit ist. Die Bevölkerung des Donbass hat das seit 2014 unter Beweis gestellt. Sollte die Ukraine wider Erwarten den Donbass und die Krim zurückerobern, wer soll diese Gewinne am Boden absichern, wenn die ukrainischen Soldaten weitgehend verheizt sind?
Nicht umsonst hat Putin zu Beginn des Krieges erklärt, dass es nicht Russlands Absicht ist, die Ukraine zu besetzen. Aus der Erfahrung des Großen Vaterländischen Kriegs, aber auch aus Afghanistan und Syrien wissen die Russen, dass die Besetzung eines Landes, dessen Bevölkerung den Besatzern feindlich gegenüber steht, auf Dauer nicht durchzuhalten ist oder nur unter erheblichen Kosten und Opfern.
Gefährliches Spiel
Der Westen will nicht zu offensichtlich zur Kriegspartei werden, aber er verhält sich so, und sein Personal brüstet sich sogar damit. Wenn auch manche im Westen glauben, sich in der Unterstützung der Ukraine völkerrechtlich auf gesichertem Terrain zu befinden, so wird ihnen das nichts nutzen, wenn Russland das anders sieht und entsprechende Maßnahmen ergreift. Man sollte die Zurückhaltung Russlands nicht wieder falsch interpretieren und sich zu sehr in Sicherheit wiegen.
Mit dessen Einmarsch in der Ukraine hatte auch niemand im Westen wirklich gerechnet. Wenn auch im Vorfeld viel in den westlichen Medien über die russische Bedrohung geredet worden war, so hatte man im Westen doch nicht wirklich geglaubt, dass Russland mit dem militärischen Eingreifen im Donbass ernst machen würde. Russland ist eine Atommacht und verfügt über Waffen, denen der Westen wenig entgegen zu setzen hat. Eine weitere Fehleinschätzung könnte tödlich sein.
Verweise
Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse
Bild: Maryinka, Donbass (https://t.me/craZybear2022)