Das Getöse, mit dem die EU ihre neue Bezeichnung für den Gegenstand ihrer Zensur einführte, lässt Böses ahnen. Es geht längst nicht mehr um Wahrheit oder Lüge, es geht nur noch um die Absichten, die dem unterstellt werden, der Informationen verbreitet.
Wer sich mit Geschichte befasst, weiß, dass Ereignisse oft noch nach Jahrzehnten und Jahrhunderten verschieden gedeutet werden und die Ermittlung einer objektiven Wahrheit mühselig bleibt, selbst wenn das Ergebnis keinerlei Auswirkungen auf die Gegenwart mehr hat.
Die einzige Lehre, die sich daraus ziehen ließe, wäre, mit der Zuschreibung von absoluten Wahrheiten äußerst vorsichtig umzugehen und, sofern man selbst zu den politischen Akteuren gehört, immer auch die Möglichkeit eines eigenen Irrtums zu berücksichtigen und darauf zu achten, dass die politische Struktur nicht die Möglichkeit verliert, einen solchen Irrtum zu korrigieren.
Die Meinungsfreiheit ist, in einem funktionellen Zusammenhang gedacht, kein dekoratives Element, damit sich die Plebs ein wenig austoben kann, sondern notwendige Redundanz, die Korrekturen und Anpassungen an veränderte Umstände erst ermöglicht. In dem Augenblick, in dem ein einziger Blickwinkel die Position einer absoluten Wahrheit einnimmt, werden auch die damit verbundenen Fehler absolut, weil nicht korrigierbar, und der entscheidende Vorteil demokratischer Verfahren wird eliminiert.
Nun ist die EU‐Kommission keine demokratische Struktur, ihre Mitglieder sind ernannt, nicht gewählt, die meisten derart mit Dünkel getränkt, dass ihnen jedes Verständnis für Demokratie abgeht, und der EU‐Außenbeauftragte Josep Borrell könnte in diesem Zusammenhang geradezu als Ausstellungsstück A gute Dienste leisten, wenn es nicht noch die Konkurrenz durch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gäbe.
Treu dem Dunning‐Kruger‐Effekt, nach dem mit sinkender Intelligenz die Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit steigt, gibt es aus der Sicht von Borrell und der EU‐Behörden keinerlei Grund an der offiziellen Erzählung zu zweifeln, und jeder geäußerte Zweifel erhält nun ein neues Etikett: »Foreign Information Manipulation and Interference«, ausländische Informationsmanipulation und Einmischung, abgekürzt FIMI.
Diese Abkürzung dürfte die Insassen der EU noch länger begleiten; sie wurde nämlich geschaffen, um das Problem zu umgehen, dass öfter einmal das, was die Kommission gern als Desinformation brandmarken würde, der Wahrheit entspricht. Darum wird seit Neuestem auch das Verhalten, die Absicht mit bewertet. Wenn ich zum Beispiel völlig faktengetreu schreibe, dass Ursula von der Leyen ihre Handy‐Kommunikation mit Pfizer über den Erwerb von Millionen Dosen eines pharmazeutischen Präparats gelöscht hat und das den Verdacht der Korruption doch sehr nahe legt, dann ist das allein deshalb FIMI, weil es auf der Seite eines russischen Senders steht und das Motiv für diese Aussage nicht immerwährende Liebe und Bewunderung für Frau von der Leyen ist.
Man muss den Bericht der EU nicht lesen. Er ist nur ein Beispiel dafür, dass man aus allem pseudowissenschaftliches Geschwätz machen kann. Man muss auch Borrells Rede nicht hören, dessen Englisch mindestens so schlecht ist wie das der Ursula von der Leyen. Aber man kann anhand einiger Beispiele nachspüren, wie der Wahn konstruiert wird, in dem man in Brüssel so lebt:
Beinahe alle Desinformationsnarrative, die der Kreml nutzt, um den Einmarsch zu rechtfertigen und heimische Unterstützung zu mobilisieren, können auf 2013 bis 2014 und die Euromaidan‐Proteste zurückgeführt werden, in deren Zusammenhang der Kreml versuchte, die Ukraine als ›Nazistaat‹, als ›gescheiterten Staat‹ und als ›überhaupt kein Staat‹ darzustellen. Die Pro‐Kreml‐Medien haben über Jahre hinweg den Boden für den Einmarsch bereitet.
Das ist ein kleines, einführendes Beispiel. Die Realität zählt nicht, nur ihre Darstellung. Es war die Entscheidung Kiews, die Proteste in der damaligen Südostukraine in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Nicht »Moskau« hat Freikorps mit einer eindeutigen Ideologie aufgebaut, wie Asow und Aidar, und sie losgeschickt, die Bevölkerung des Donbass zu unterwerfen. Tatsächlich war die russische Politik von der Entwicklung im Donbass überrascht. Aber nachdem es diesen ukrainischen Bürgerkrieg nach EU‐Lesart inzwischen nie gegeben hat, bald neun Jahre ukrainischen Beschusses nur ein »russisches Narrativ« sind und es selbstverständlich nie einen Aufmarsch ukrainischer Truppen an der Donbass‐Front Anfang 2022 gab, sind es selbstverständlich die »Pro‐Kreml‐Medien«, die letztlich schuld sind.
So, wie russische Medien auch »Hasssprache und Aufrufe zum Genozid« regelmäßig veröffentlichen, zumindest nach Überzeugung der EU. Ein konkretes Beispiel dafür wird im Bericht allerdings nicht geliefert. Das würde auch zumindest eine langwierige Suche erfordern; ukrainische und mittlerweile selbst deutsche Exemplare lassen sich allerdings mühelos finden.
Selbst die chinesischen Staatsmedien hätten, so der Bericht, »ausgewählte Pro‐Kreml‐Verschwörungserzählungen verstärkt, beispielsweise über vermeintliche militärische US‐Biolabore in der Ukraine«.
Das ist ein hübsches Beispiel, wie man die Wahrheit als Kriterium entsorgt. Diese Labore finden sich nicht nur als Budgetpositionen des US‐Verteidigungshaushalts wieder, ein Dokument, über das der Kreml sicher keine Kontrolle ausübt; einzelne Kooperationen, wie die Forschungsprojekte des Bernhard‐Nocht‐Instituts oder des Friedrich‐Löffler‐Instituts mit diesen ukrainischen Laboren, finden sich auch auf deren Website, wie auch beim Finanzier dieser Projekte, dem deutschen Verteidigungsministerium. Man muss also festhalten, dass es diese Labore gab, dass sie aus dem Militärhaushalt finanziert wurden und dass die Forschung im Auftrag des Militärs stattfand, und zwar nicht nur im Auftrag des US‐amerikanischen. Trotzdem erklärt die EU schon die Existenz der Labore selbst zur »Verschwörungserzählung«.
Auch die westliche Beteiligung am Anschlag auf die Brücke von Kertsch im Oktober vergangenen Jahres ist nur FIMI des Kreml, so wie die Verwicklung der USA und Großbritanniens in die Sprengung von Nord Stream. Was natürlich wesentlich einfacher ist, wenn man diesen neuen Begriff nutzt, weil das Kriterium »wahr oder falsch« gar nicht mehr benötigt wird. Es ist eher andersherum. Nachdem das einzige Kriterium für FIMI darin besteht, dass eine bestimmte Information nach Meinung der EU »dem Kreml nützt«, kann noch die lauterste Wahrheit, wenn sie der EU nicht genehm ist, zum Gegenstand der Verfolgung werden.
Ein weiteres hübsches Beispiel zum Umgang mit der Wahrheit liefert der Fall der in Polen niedergegangenen Rakete. So schreibt der Bericht darüber:
Der 15. November war ein Schlüsseltag, der in den folgenden Tagen opportunistische Vorfälle auslöste. An diesem Tag explodierte eine Rakete bei Prjewodow in Polen. Das russische FIMI‐Ökosystem verstärkte Screenshots von einem Facebook‐Post, der von einem gelöschten Konto veröffentlicht wurde, das dem ehemaligen Stadtratsvorsitzenden von Lublin gehören sollte, und erklärte, die Explosion der Rakete sei eine ukrainische Provokation.
Das war damals ein ziemlich dramatischer Moment, da Kiew lautstark behauptete, es handele sich um eine russische Rakete, und nur durch Glück in Polen jemand die Überreste fotografiert hatte, wodurch klar wurde, dass es eine ukrainische Rakete aus einem S‑300‐Luftabwehrsystem war. Die Rakete war verändert worden, weil Luftabwehrraketen so gebaut sind, dass sie mit Abstand vom Boden explodieren. Außerdem hätte dieses Raketenmodell eine Fernzündung ermöglicht, die nicht stattfand. Es waren also einige Dinge daran eigenartig, auch ohne besagtes Posting und unabhängig von der Frage, ob es vom ehemaligen Stadtratsvorsitzenden von Lublin stammte oder nicht. Den USA jedenfalls war die Nummer zu heiß, sie erklärten sehr schnell, es habe sich um eine ukrainische Rakete gehandelt.
Weitaus weiter verbreitet als das von der EU‐Studie zitierte Facebook‐Posting war das Foto, durch das man die Rakete identifizieren konnte. Aber dieses Bild kann man nicht erwähnen, wenn man in dem Rahmen einer »Desinformationsgeschichte« bleiben will.
In Zusammenhang mit Protesten unter dem Titel #StopKillingDonbass schreibt das Papier, es sei »fälschlich behauptet worden, dass die Streitkräfte der Ukraine und »paramilitärische Einheiten von Neonazis« Gräuel gegen Zivilisten begängen, darunter auch Kinder«. Fälschlicherweise? Selbst die Soros‐NGO Human Rights Watch hat inzwischen eingestanden, dass die Ukraine Schmetterlingsminen in Donezk verteilt hat, eine geächtete Munition in Wohngebieten …
Nein, selbst wenn es unzählige Belege gibt, von Fotografien bis hin zu den medizinischen Berichten der Opfer – wahr ist, was die EU für wahr erklärt. Weil es ja, so der Grundgedanke des Übergangs von der »Desinformations«-Beschuldigung zu FIMI, gar nicht darauf ankommt, ob die Aussage wahr ist, sondern nur darauf, dass sie im Gegensatz zur NATO‐Erzählung steht.
Dementsprechend wurden fünf Hauptnarrative ausgemacht, mit deren Wahrheitsgehalt man sich nicht näher befasste: 1. Der Westen ist der Aggressor gegen Russland; 2. Die Ukraine ist der Aggressor gegen Russland; 3. Die Sanktionen gegen Russland gingen nach hinten los. 4. Der Westen ist heuchlerisch und 5. Die Ukraine ist ein Staat von Nazis und Terroristen.
Für jedes einzelne dieser Narrative lassen sich Belege auch in westlichen Medien finden. Aber das ist eben der entscheidende Haken, den die EU‐Bürokratie mit dieser Studie schlägt:
»Die Information, die von diesen Netzwerken verbreitet wird, muss nicht belegbar falsch oder irreführend sein, um einen FIMI‐Vorfall darzustellen, was FIMI breiter anlegt als die klassische Definition von Desinformation.«
Offenkundig sind die Institutionen der EU bei ihren Verfolgungsversuchen gelegentlich auf das Hindernis gestoßen, dass die verfolgten Aussagen schlicht der Wahrheit entsprachen. Es ist die ukrainische Armee, die den Donbass und auch das Atomkraftwerk Energodar beschießt. Dieses Problems wünscht man sich zu entledigen. Die Erfindung des neuen Begriffs soll die Verfolgung der Wahrheit absichern:
Die Betonung des Verhaltensaspekts des Problems stimmt nicht nur konzeptuell mit den Forschungspraktiken der FIMI‐Analysegemeinschaft überein, sondern ermöglicht es uns auch, unseren Werkzeugkasten der Gegenmaßnahmen zusätzlich zum Fokus auf strategische Kommunikation wie der Widerlegung und Vorabwiderlegung irreführender oder falscher Narrative zu erweitern.
Womit, wird nicht genauer ausgeführt. Aber die vergangenen Monate haben bereits belegt, was alles auf dem Programm steht; begonnen mit der Sanktionierung von Medien über Kontensperrungen und Internetblockaden bis hin zur Strafverfolgung einzelner Autoren. Irgendwie werden sie es schon hinbekommen, aus der neuen Erfindung FIMI einen Straftatbestand zu basteln, der dann EU‐weit eingeführt werden soll.
Ob und wie weit das dann gelingt, ist allerdings völlig unerheblich. Denn das ist längst nicht mehr nur eine Einschränkung der Meinungsfreiheit; dieser letzte Schachzug erklärt im Grunde jede Aussage, die der EU/NATO‐Erzählung widerspricht, zur Majestätsbeleidigung. Allein die Absicht zu widersprechen, stellt bereits das Vergehen dar. Wenn es noch eines Belegs für die maßlose Überheblichkeit der Brüsseler Eurokraten bedürfte, hier ist er.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker‐Verbandes, von dessen Website freidenker.org der Artikel übernommen wurde, Erstveröffentlichung am 08.02.2023 auf RTDE
Bild: Arbeiterzeitung vom 28. April 1920, aus der die Zensur Berichte über den Generalstreik der Eisenbahner löschte. (wikimedia commons, Quelle: Zbornik sećanja aktivista jugoslovenskog revolucionarnog radničkog pokreta, knjiga prva (str. 84), Beograd 1960)