Jedes fünf­te Kind arm? Jedes vier­te? Egal, Pan­zer sind wichtiger

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Jedes Jahr gibt es neue Zah­len zur Armut, die den alten glei­chen, und immer wie­der gibt es Berich­te der Ber­tels­mann-Stif­tung dazu. Aber es ändert sich nichts, zumin­dest nicht zum Guten. Wenn es nächs­tes Jahr noch einen sol­chen Bericht geben soll­te, sind noch mehr Kin­der arm.

Die Ber­tels­mann-Stif­tung ist die­ses Jahr etwas zu früh dran, um das The­ma »Kin­der­ar­mut« in die Pres­se zu brin­gen. Das Gehe­ge für Sozi­al­the­men in der deut­schen Medi­en­land­schaft erstreckt sich näm­lich zwei­mal im Jahr über jeweils vier Wochen – vor Ostern und vor Weih­nach­ten. Den Rest des Jah­res wird eigent­lich kon­se­quent so getan, als wäre da nichts.

Und, wenn man strikt nach Nach­rich­ten­qua­li­tät geht: Dass über 40 Pro­zent der Kin­der von Allein­er­zie­hen­den (samt der Müt­ter) in Armut leben, ist nichts Neu­es. Die Ein­füh­rung von Hartz IV führ­te zu einem Sprung nach oben; aber schon davor lag die als »Armuts­ri­si­ko« beschö­nig­te Armut Allein­er­zie­hen­der bei 35,4 Pro­zent. Und auch das ist kon­stant: Über die Hälf­te aller in Armut leben­der Kin­der sind Kin­der Allein­er­zie­hen­der. Wir reden also von einem Zustand, der Gesell­schaft und Poli­tik seit lan­gem bekannt ist, an dem sich aber nichts zum Bes­se­ren ändert.

Glei­ches gilt für die regio­na­le Ver­tei­lung. Es sind die ehe­ma­li­gen Indus­trie­stand­or­te, an denen die Armut beson­ders groß ist; in Deutsch­land nicht anders als in Groß­bri­tan­ni­en. Im Ruhr­ge­biet führt Gel­sen­kir­chen, die eins­ti­ge Zechen­hoch­burg, mit 41,7 Pro­zent, gefolgt von Essen, Dort­mund, Hagen, Her­ne und Duis­burg mit jeweils knapp über 30 Pro­zent Kin­dern und Jugend­li­chen, die von Hartz IV leben müs­sen. Auch Bre­men und Bre­mer­ha­ven lie­gen in die­ser Grö­ßen­ord­nung. Und so ist es eben­falls seit Jah­ren, seit Jahrzehnten.

Die Begriffs­wahl »Kin­der­ar­mut« ent­stand übri­gens in den 2000ern nach der Ein­füh­rung von Hartz IV, als die ers­te Über­prü­fung des Regel­sat­zes anhand einer neu­en Ein­kom­mens- und Ver­brauchs­stich­pro­be statt­fand. Da stell­te sich näm­lich her­aus, dass der Regel­satz, also die monat­lich zu zah­len­de Leis­tung, deut­lich erhöht wer­den müss­te, wenn man, wie es das Gesetz ursprüng­lich vor­sah, den Ver­brauch der unte­ren 20 Pro­zent der Bevöl­ke­rung zum Maß­stab näh­me. Um das zu umge­hen, wur­de schwupps der Maß­stab auf die unters­ten 15 Pro­zent redu­ziert, und zusätz­lich wur­den rei­hen­wei­se Aus­ga­ben für unnö­tig erklärt und damit gestri­chen, wie Alko­hol, Tabak, Wirts­haus­be­su­che etc. Gestützt wur­de das durch eine ent­spre­chen­de publi­zis­ti­sche Kam­pa­gne, die der Bevöl­ke­rung ein­re­den soll­te, Eltern, die Hartz IV bezö­gen, wür­den zusätz­li­ches Geld ohne­hin nur versaufen.

Die nächs­te Run­de Ver­un­glimp­fung gab es dann, als bekannt wur­de, dass sich arme Kin­der kei­ne Musik­schu­le und kei­ne Sport­ver­ei­ne leis­ten kön­nen, und dann die spä­ter als Flin­te­nu­schi bekannt gewor­de­ne, inzwi­schen als Prä­si­den­tin der EU-Kom­mis­si­on amtie­ren­de Ursu­la von der Ley­en ein büro­kra­ti­sches Mons­trum namens Bil­dungs- und Teil­ha­be­pa­ket gebar, erneut mit der Begrün­dung, die Eltern wür­den zusätz­li­ches Geld ohne­hin nur ver­sau­fen (wobei man sich ange­sichts der Kar­rie­re von Flin­te­nu­schi durch­aus fra­gen kann, ob das nicht selbst dann bei den Eltern noch bes­ser auf­ge­ho­ben wäre als bei drei Dut­zend Beratergesellschaften).

Nach­dem arme Eltern der­art als grund­sätz­lich unver­ant­wort­lich gebrand­markt waren, was natür­lich nur ging, indem man die Allein­er­zie­hen­den, die die weit über­wie­gen­de Mehr­heit die­ser armen Eltern dar­stel­len, aus der Wahr­neh­mung ver­schwin­den ließ, weil »ver­sau­fen« und allein­er­zie­hend doch kei­ne so über­zeu­gen­de Kom­bi­na­ti­on sind, und damit end­gül­tig fest­stand, dass arme Eltern arm sind, weil sie es nicht bes­ser ver­dient haben, ermög­licht der Begriff »Kin­der­ar­mut« zumin­dest, noch gele­gent­lich über die­se Armut zu sprechen.

Die Ber­tels­mann-Stif­tung folgt die­sem Mus­ter, an des­sen Eta­blie­rung sie nicht unschul­dig war, auch brav.

Kin­der- und Jugend­ar­mut ist in der Regel immer auch Fami­li­en­ar­mut und muss daher im Zusam­men­hang mit der Situa­ti­on der Fami­lie betrach­tet wer­den. Kin­der und Jugend­li­che kön­nen nichts dafür, wenn sie in armen Ver­hält­nis­sen auf­wach­sen. Sie trifft kei­ne Schuld.

Sub­til, aber bös­ar­tig. Nur die Kin­der und Jugend­li­chen trifft kei­ne Schuld. Den Rest der Fami­lie, über­wie­gend die Müt­ter, dann eben doch, oder? Die Väter spie­len übri­gens gar kei­ne Rol­le, und die Gesell­schaft erst recht nicht. Dabei weist schon die regio­na­le Ver­tei­lung dar­auf hin, dass es der öko­no­mi­sche Zustand der Regi­on ist, der die ent­schei­den­de Rol­le spielt. Auch wenn, das muss an die­ser Stel­le auch gesagt wer­den, die »Armuts­ge­fähr­dung« im Süden der Repu­blik bei Wei­tem nicht so nied­rig ist, wie der bun­des­wei­te Armuts­be­richt und auch die­se Ber­tels­mann-Stu­die es verzeichnen.

Auch die Prei­se sind näm­lich nicht über­all gleich. Vor vie­len Jah­ren gab es eine Stu­die mit einem Ver­gleich der Lebens­hal­tungs­kos­ten inner­halb Bay­erns. Dabei ergab sich, dass selbst ohne Berück­sich­ti­gung der Mie­ten das Leben in Lands­hut um gan­ze 15 Pro­zent güns­ti­ger war als in Mün­chen. Und eine orts­spe­zi­fi­sche Armuts­gren­ze für Mün­chen, streng nach dem euro­päi­schen Kri­te­ri­um von 60 Pro­zent des gewich­te­ten Medi­an­ein­kom­mens, ergab plötz­lich eine Armuts­quo­te von mehr als 20 Prozent.

Aber das ist egal. Jedes Jahr von Neu­em. Das wäre anders, wür­den die Zah­len zu Armut, Woh­nungs­lo­sig­keit, zu jedem Aspekt des sozia­len Elends ein­mal im Monat auf der Vor­der­sei­te des Lokal­teils ver­öf­fent­licht, als Grad­mes­ser der poli­ti­schen Leis­tung. Jedes fünf­te Kind lebt in Armut, deutsch­land­weit, noch immer. Jedes Jahr, wenn die ent­spre­chen­den Berich­te erschei­nen, wird kurz ein­mal getönt, ja, da müs­se man tätig wer­den. Und im nächs­ten Jahr kom­men die­sel­ben Zah­len wieder.

Über­haupt, der gan­ze Bericht erzählt eine Geschich­te von ges­tern. Die zugrun­de­lie­gen­den Zah­len sind von 2021. Zwi­schen die­sen Zah­len und heu­te liegt ein Jahr mit hoher Infla­ti­on, die gera­de für die Armen eben mehr als die offi­zi­el­len zehn Pro­zent betra­gen hat, weil Nah­rungs­mit­tel und Ener­gie einen beson­ders gro­ßen Anteil der Aus­ga­ben aus­ma­chen. Allein die­se Ent­wick­lung dürf­te den Anteil armer Kin­der auf min­des­tens ein Vier­tel erhöht haben, was dann für Orte wie Gel­sen­kir­chen hie­ße, dass die Hälf­te der Kin­der arm ist.

Ein Vier­tel der Kin­der, die von Hartz IV leben müs­sen, hat kei­nen Com­pu­ter. Die Stu­die erwähnt das, ohne ins Gedächt­nis zu rufen, dass gera­de erst im letz­ten Jahr die­ser feh­len­de Com­pu­ter hieß, den in die Distanz ver­leg­ten Schul­un­ter­richt kom­plett zu ver­pas­sen. Noch so ein Signal, wie gleich­gül­tig die Gesell­schaft der Armut gegen­über ist – schon die ers­te Über­le­gung, Unter­richt über das Inter­net abzu­hal­ten, hät­te damit ver­bun­den sein müs­sen, wie man Rech­ner und Anschlüs­se für die Kin­der sicher­stellt, die kei­nen haben. Aber ein Com­pu­ter pro Kind ist nach wie vor nicht Teil des Bedarfs.

67,6 Pro­zent der Fami­li­en, die von Grund­si­che­rung leben, fah­ren nicht ein­mal für eine Woche in den Urlaub, stellt die Stu­die fest. Tat­säch­lich bräuch­ten die meis­ten mehr als eine Woche; drei Wochen sei­en die Vor­aus­set­zung zur Erho­lung, wird all­ge­mein gesagt. Inter­es­san­ter­wei­se ist im Kin­der- und Jugend­hil­fe­ge­setz sogar Fami­li­en­ur­laub vor­ge­se­hen, aber an kei­nem Ort wur­de die­ser Anspruch bis­her umge­setzt. Es wäre möglich.

Über­haupt wäre vie­les mög­lich, so man denn woll­te. Garan­tiert hät­ten die Kin­der und die Allein­er­zie­hen­den eine Lob­by wie das Kie­wer Regime, mit Für­spre­chern in jeder Redak­ti­on und einem Hau­fen Inter­net­trol­le, in drei Wochen wäre das Ding gewuppt. Ein, zwei Kit­sch­re­den der Sor­te Anna­le­na »da hun­gern Kin­der« dazu, noch eine Hand­voll Talk­run­den, in denen sämt­li­che Gäs­te in unter­schied­li­chen Ton­la­gen beteu­ern, welch wich­ti­ge Her­aus­for­de­rung es doch für das Land wäre, dass alle Kin­der gut her­an­wach­sen, welch bedeu­ten­de euro­päi­sche Wer­te doch Men­schen­wür­de, Bil­dung und Kul­tur sei­en, die man unbe­dingt gegen die mate­ri­el­le Not ver­tei­di­gen müs­se – fertig.

Ja, wenn man Armut mit Pan­zern bekämp­fen könn­te. Lei­der ist das Wort »Kin­der­ar­mut« aber noch in einem ganz ande­ren Sin­ne pas­send für Deutsch­land. Das Land ist arm an Kin­dern. Was unmit­tel­bar mit der Armut von Kin­dern ver­knüpft ist, auch wenn immer so getan wird, als wäre das eher ein Pro­dukt einer moder­nen Gesell­schaft. Die Gebur­ten­ra­te der DDR war wesent­lich höher, und sie sank sofort ins Boden­lo­se, als die sozia­le Sicher­heit schwand. Migran­ten übri­gens haben genau in der ers­ten Gene­ra­ti­on mehr Kin­der als Deut­sche. Sobald klar ist, dass die aus­ge­dehn­ten Fami­li­en­netz­wer­ke als sozia­le Unter­stüt­zung aus­fal­len, die staat­li­che aber eher dar­auf aus­ge­rich­tet ist, von der Kin­der­auf­zucht abzu­hal­ten, fällt auch da die Geburtenrate.

Der gan­ze Umgang mit Armut in Deutsch­land rich­tet sich nicht am Inter­es­se der Bevöl­ke­rung aus, zu der eben auch der arme Teil gehört, son­dern an dem der Kapi­tal­eig­ner; bei Hartz IV ging es schlicht dar­um, die Löh­ne zu drü­cken, was ja auch gelang, und die diver­sen Migra­ti­ons­wel­len die­nen dem sel­ben Zweck, mit dem zyni­schen Hin­ter­ge­dan­ken, dass es bil­li­ger ist, das Men­schen­ma­te­ri­al fer­tig zu impor­tie­ren. Zuletzt gab es eine Rei­he von Punk­ten, an denen das Pro­ble­me mach­te, weil sich die Stre­cke vom Analpha­be­ten zum Metall­fach­ar­bei­ter eben doch über ein Jahr­zehnt hin­zieht; aber wenn die deut­sche Indus­trie­ge­sell­schaft ein­mal geschred­dert ist – um einen Holz­pflug zu zie­hen, muss man nicht lesen können.

Man kann den dies­jäh­ri­gen Durch­lauf des The­mas »Kin­der­ar­mut« durch­aus als Abschieds­vor­stel­lung betrach­ten. Die aktu­el­le Bun­des­re­gie­rung tut ihr Bes­tes, das The­ma Armut gleich­zei­tig aus sei­nem Nischen­da­sein zu befrei­en, indem die Grup­pe der Armen ziel­ge­rich­tet aus­ge­wei­tet wird, und es gleich­zei­tig im schwar­zen Loch der Bericht­erstat­tung zu ver­sen­ken. Denn wer wird noch über Kin­der berich­ten, denen die Geburts­ta­ge von Freun­den ent­ge­hen, weil sie kei­ne Geschen­ke kau­fen kön­nen, wenn die Ampel es end­lich geschafft hat, Euro­pa in Brand zu set­zen? Beim jet­zi­gen Tem­po jeden­falls fin­det die Weih­nachts­run­de Sozi­al­the­men bereits nicht mehr statt.

Und wenn man den Grad der Unmensch­lich­keit betrach­tet, des Anti­hu­ma­nis­mus, der sich in dem Kriegs­ge­schrei, dem erbar­mungs­lo­sen Ver­hei­zen der Ukrai­ner, dem blan­ken Ras­sis­mus gen Russ­land und der Zer­stö­rung des deut­schen Wohl­stands glei­cher­ma­ßen aus­drückt, muss man fest­stel­len, dass die Kalt­schnäu­zig­keit, mit der bald 20 Jah­re lang der­ar­ti­ge Berich­te über arme Kin­der zu den Akten gelegt und ver­ges­sen wur­den, Vor­ah­nung wie Vor­be­rei­tung waren.

Denn Mensch­lich­keit ist instink­tiv; Kin­der ken­nen Mit­ge­fühl und haben einen Sinn für Gerech­tig­keit, ohne sie gelehrt zu bekom­men. Es ist die Unmensch­lich­keit, die ein­ge­übt wer­den muss. Die Gleich­gül­tig­keit gegen­über der Armut und die Bereit­schaft, zur Erhal­tung eines glo­ba­len Raub­re­gimes in den Krieg zu zie­hen, sind Schrit­te auf ein und dem­sel­ben Weg in den Abgrund. Die Kar­rie­re der Ursu­la von der Ley­en von der Erfin­de­rin des Bil­dungs- und Teil­ha­be­pa­kets zu Flin­te­nu­schi zur obers­ten euro­päi­schen Kriegs­trei­be­rin besitzt eine tie­fe inne­re Logik.

Dag­mar Henn ist Mit­glied des Deut­schen Frei­den­ker-Ver­ban­des, von des­sen Web­site frei​den​ker​.org der Arti­kel über­nom­men wur­de. Erst­ver­öf­fent­li­chung am 29.01.2023 auf RT DE

Bild: Pix­a­bay

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