Frei­heit und Unsicherheit

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John Bar­clay defi­nier­te in sei­nem pro­phe­ti­schen Roman Arge­nis (1621) das Para­dig­ma der Sicher­heit, das die euro­päi­schen Regie­run­gen spä­ter nach und nach über­neh­men soll­ten, wie folgt: »Ent­we­der gib den Men­schen ihre Frei­heit oder gib ihnen Sicher­heit, wofür sie die Frei­heit auf­ge­ben wer­den.« Frei­heit und Sicher­heit sind also zwei gegen­sätz­li­che Para­dig­men des Regie­rens, zwi­schen denen sich der Staat jedes Mal neu ent­schei­den muss. Will er sei­nen Unter­ta­nen Sicher­heit ver­spre­chen, muss der Sou­ve­rän ihre Frei­heit opfern, und umge­kehrt, wenn er Frei­heit will, muss er ihre Sicher­heit opfern. Michel Fou­cault hat jedoch gezeigt, wie die Sicher­heit (la sure­té publi­que) zu ver­ste­hen ist, die die phy­sio­kra­ti­schen Regie­run­gen, begin­nend mit Ques­nay, im Frank­reich des 18. Jahr­hun­derts als ers­te aus­drück­lich zu ihren Auf­ga­ben zähl­ten. Damals – genau wie heu­te – ging es nicht dar­um, Kata­stro­phen zu ver­hin­dern, die im Euro­pa jener Jah­re vor allem aus Hun­gers­nö­ten bestan­den, son­dern dar­um, sie gra­de erst zuzu­las­sen, um dann sogleich zu inter­ve­nie­ren und sie in die für sie nütz­li­che Rich­tung zu brin­gen. Das Regie­ren erhält hier sei­ne ety­mo­lo­gi­sche Bedeu­tung zurück, näm­lich »kyber­ne­tisch«: Ein guter Lot­se (kiber­nes) kann Stür­me nicht ver­mei­den, wo sie aber auf­tre­ten, muss er trotz­dem in der Lage sein, das Schiff nach sei­nen Inter­es­sen zu len­ken. Aus die­ser Per­spek­ti­ve ging es vor allem dar­um, den Bür­gern ein Gefühl der Sicher­heit zu ver­mit­teln, sie glau­ben zu machen, dass die Regie­rung über ihren See­len­frie­den und ihre Zukunft wacht.

Was wir heu­te erle­ben, ist eine extre­me Ent­fal­tung die­ses Para­dig­mas und gleich­zei­tig sei­ne recht­zei­ti­ge Umkeh­rung. Die Haupt­auf­ga­be der Regie­run­gen scheint dar­in zu bestehen, unter den Bür­gern ein Gefühl der Unsi­cher­heit und sogar der Panik zu ver­brei­ten, das mit der extre­men Ein­schrän­kung ihrer Frei­hei­ten ein­her­geht, die gera­de in die­ser Unsi­cher­heit ihre Recht­fer­ti­gung fin­det. Die sich ent­ge­gen­ste­hen­den Para­dig­men sind heu­te nicht mehr Frei­heit und Sicher­heit, son­dern, um es mit Bar­clays Wor­ten zu sagen: »Gib den Men­schen Unsi­cher­heit, und sie wer­den die Frei­heit auf­ge­ben«. Es ist daher nicht mehr von Belang, dass sich die Regie­run­gen als fähig erwei­sen, Pro­ble­me und Kata­stro­phen zu meis­tern: Die Unsi­cher­heit und der Not­fall, die heu­te die ein­zi­ge Grund­la­ge ihrer Legi­ti­mi­tät sind, dür­fen kei­nes­falls besei­tigt wer­den, son­dern – wie wir heu­te mit der Erset­zung des Krie­ges gegen das Virus durch den Krieg zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne sehen – nur auf eine Art und Wei­se arti­ku­liert wer­den, die kon­ver­giert, aber jedes Mal anders ist. Eine sol­che Regie­rung ist im Wesent­li­chen anar­chisch in dem Sin­ne, dass sie kei­ne Prin­zi­pi­en hat, an die sie sich hal­ten kann, außer dem Aus­nah­me­zu­stand, den sie pro­du­ziert und perpetuiert.

Es ist jedoch wahr­schein­lich, dass die kyber­ne­ti­sche Dia­lek­tik zwi­schen Anar­chie und Aus­nah­me­zu­stand eine Schwel­le errei­chen wird, über die hin­aus kein Lot­se mehr in der Lage sein wird, das Schiff zu steu­ern, und die Men­schen wer­den in dem nun unver­meid­li­chen Schiff­bruch sich erneut über die Frei­heit befra­gen müs­sen, die sie so unklu­ger­wei­se geop­fert haben.

In ita­lie­nisch erschie­nen zuerst bei Quod­li­bet

Bild: Stein­re­li­ef eines am Köl­ner Rhein­ufer gebor­ge­nen Relik­tes aus dem 1. Jahr­hun­dert. Es zeigt ein Schiffs­heck mit einem römisch geklei­de­tem Steu­er­mann an der Ruder­pin­ne. Die ihm zuge­wandt sit­zen­den Knech­te auf der Ruder­bank wur­den durch Bär­te und Klei­dung als »Bar­ba­ren« (Ein­hei­mi­sche) dar­ge­stellt. Begleit­text und Ort der Aus­stel­lung: Römisch Ger­ma­ni­sches Muse­um in Köln (Howi)

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