Der Sturm auf den Reichstag

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Chro­nik einer Psy-Op: Wie Ver­fas­sungs­schutz, Ber­li­ner Behör­den und Medi­en den »Angriff auf die Demo­kra­tie« inszenierten

Am 29. August 2020 wur­den in Ber­lin die Trep­pen des Reichs­ta­ges von Reichs­bür­gern gestürmt. Das Event hat­te weit­rei­chen­de poli­ti­sche Fol­gen: Es wur­de als »Angriff auf die Demo­kra­tie« gewer­tet, und die am glei­chen Tag statt­fin­den­de, weit­ge­hend fried­li­che, maß­nah­men­kri­ti­sche Demo auf der Stra­ße des 17. Juni voll­stän­dig damit asso­zi­iert. Infol­ge­des­sen konn­ten dem Label »Quer­den­ken« zuge­rech­ne­te Per­so­nen vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet und im Bewusst­sein der Öffent­lich­keit als demo­kra­tie­feind­li­che Row­dys ver­an­kert wer­den. Eine juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung des Reichs­tags­sturms blieb bis heu­te weit­ge­hend aus. Ledig­lich drei Prot­ago­nis­ten wur­den rechts­kräf­tig ver­ur­teilt. Für staat­li­che Akteu­re gab es kei­ner­lei juris­ti­sche Kon­se­quen­zen. Kri­ti­sche Stim­men sind der Ansicht, beim Sturm auf den Reichs­tag habe es sich um eine staat­li­che Insze­nie­rung gehan­delt. Fakt ist: Der Sturm auf den Reichs­tag wirft bis heu­te Fra­gen auf, und geht mit dem angeb­lich ver­ei­tel­ten Reichs­bür­ger-Coup gewis­ser­ma­ßen in die zwei­te Staf­fel. Die vor­lie­gen­de Recher­che ist der Ver­such einer zeit­his­to­ri­schen Auf­ar­bei­tung, basie­rend auf einer Ana­ly­se von Zeu­gen­aus­sa­gen, Video- und Quel­len­ma­te­ri­al. Da sich das Event nur begrei­fen lässt, wenn man es vor sich sieht, wird der Text von einem Doku­men­tar­film beglei­tet, der im Text ein­ge­bun­den ist. Er kann abschnitts­wei­se zur Lek­tü­re, oder als Gan­zes geschaut werden. 

»Was auch immer dann pas­siert, aber ich hab Lust auf den Reichs­tag zu stür­men!« »Die­ses gemein­sa­me Stür­men, das ist irgend­wie cool!« Die­se Sät­ze stam­men nicht von den Teil­neh­mern des berüch­tig­ten »Stur­mes auf den Reichs­tag« am 29. August 2020, son­dern von Teil­neh­mern einer Thea­ter­per­for­mance namens »Sturm auf den Reichs­tag« am 07. Novem­ber 2017, unter Lei­tung des renom­mier­ten Thea­ter­re­gis­seurs Milo Rau. Der Reichs­tag wur­de von 400 Sta­tis­ten – selbst­ver­ständ­lich rein sym­bo­lisch – gestürmt. Es ging bis auf den Vor­platz des Reichs­tags­ge­bäu­des, jedoch nicht bis hoch auf die Trep­pen­stu­fen. Bei den Teil­neh­mern der Akti­on war den­noch eine fast kind­li­che Begeis­te­rung spür­bar: Die Akti­on hat­te ein berau­schen­des, fast eksta­ti­sches Moment.

Ange­lehnt war die Per­for­mance an den 100. Jah­res­tag des Stur­mes auf den Win­ter­pa­last in St. Peters­burg, 1917. Das welt­be­rühm­te Foto, bei dem es sich bereits nicht um die »ech­te« Stür­mung des Win­ter­pa­las­tes, son­dern eine nach­ge­stell­te Insze­nie­rung han­del­te, soll­te im Kon­text des Reichs­tags­ge­bäu­des nach­ge­stellt wer­den. Die Revo­lu­ti­on als Kunstperformance.

Die Stürmung des Winterpalast im Rahmen der Oktoberrevolution. Szenische Nachstellung im Jahr 2020. Quelle: Wikipedia
Die Stür­mung des Win­ter­pa­last im Rah­men der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on. Sze­ni­sche Nach­stel­lung im Jahr 2020. Quel­le: Wikipedia

Bei Milo Raus »Sturm auf den Reichs­tag« 2017 kam es zu einer bemer­kens­wer­ten Koin­zi­denz: Ver­se­hent­lich rann­ten die Teil­neh­mer der Akti­on einen klei­nen Info­stand um, der vor dem Reichs­tag pos­tiert war, und beschä­dig­ten die­sen dabei leicht. Infol­ge­des­sen kam es zu einem Rechts­streit zwi­schen Milo Rau und dem Inha­ber des Info­stan­des, einem gewis­sen Rüdi­ger Hoff­mann – dem Anmel­der der Büh­nen­ver­an­stal­tung beim berüch­tig­ten »Sturm auf den Reichs­tag« drei Jah­re spä­ter. Milo Rau sag­te spä­ter dem Spie­gel in einem Inter­view, er befürch­te, sei­ne Akti­on hät­te Hoff­mann mög­li­cher­wei­se dazu inspi­riert, mal einen »ech­ten« Sturm auf den Reichs­tag durch­zu­füh­ren. Sei­ne Reichs­tags­stür­mung als Thea­ter­per­for­mance stün­de den poli­ti­schen Zie­len der Reichs­bür­ger-Bewe­gung jedoch dia­me­tral ent­ge­gen: Sie sei ein­ge­bun­den gewe­sen in eine soge­nann­te Citi­zens Assem­bly, bei der das frisch gewähl­te deut­sche Par­la­ment per­for­ma­tiv mit den Inter­es­sen eines »glo­ba­len drit­ten Stan­des«, eines neu­en Welt­bür­ger­tums kon­fron­tiert wer­den sollte.

Am 18. Sep­tem­ber 2010 kam es zu einer »ech­ten« – weder ange­kün­dig­ten, noch geneh­mig­ten – Reichs­tags­trep­pen­be­set­zung: Nach einer gro­ßen Anti-Atom­kraft-Demo mit etwa hun­dert­tau­send Teil­neh­mern besetz­ten eini­ge hun­dert am frü­hen Abend die Stu­fen des Reichs­tags, um ein kraft­vol­les State­ment für das Ende des nuklea­ren Zeit­al­ters zu set­zen. Die Regie­rung Mer­kel hat­te zuvor die Lauf­zei­ten der Kern­kraft­wer­ke ver­län­gert – eine Ent­schei­dung, die sie schon ein hal­bes Jahr spä­ter, ange­sichts wei­te­rer Mas­sen­pro­tes­te infol­ge von Fuku­shi­ma, revi­die­ren muss­te. Eine Ver­samm­lung im Regie­rungs­vier­tel war an die­sem Tag eigent­lich unter­sagt – die Teil­neh­mer der Demo flu­te­ten den­noch die Reichs­tags­wie­se, den Platz der Repu­blik und die Reichs­tags­trep­pen. Ein Medi­en­auf­schrei blieb aus. In der Bericht­erstat­tung zum Demo-Tag wur­de die Trep­pen­be­stei­gung nur am Ran­de oder gar nicht erwähnt. Der Weser Kurier schrieb:

Und noch einen klei­nen Tri­umph fei­ern die Atom­kraft­geg­ner. Obwohl Poli­zei und Ver­wal­tungs­ge­richt die gewünsch­te Kund­ge­bung auf der Wie­se vor dem Reichs­tag nicht erlaubt hat­ten, stürm­ten am Nach­mit­tag trotz­dem tau­sen­de Men­schen über die rot-wei­ßen Absperr­git­ter auf den Rasen und beset­zen die Trep­pe vor dem Par­la­ment. Die Poli­zei lässt sie weit­ge­hend gewähren.

Am 03. Juli 2020, zwei Mona­te vor dem berüch­tig­ten »Sturm auf den Reichs­tag«, erklom­men Green­peace-Akti­vis­ten den Reichs­tag und befes­tig­ten dort ein Ban­ner für das Ende der Koh­le­kraft. Der Volks­ver­pet­zer hat­te es nach dem »Sturm auf den Reichs­tag« äußerst eilig, klar­zu­stel­len, dass man die jewei­li­gen poli­ti­schen Ver­ein­nah­mun­gen des Reichs­tags­ge­bäu­des kei­nes­falls mit­ein­an­der ver­glei­chen kön­ne. Es lässt sich jedoch schwer­lich über­se­hen, dass der »Sturm auf den Reichs­tag« als Topos, als poli­ti­sches Sym­bol, bereits lan­ge vor 2020 exis­tier­te – und dies kei­nes­falls nur in rech­ten und Reichs­bür­ger-Krei­sen, wie heu­te ger­ne behaup­tet wird. Zudem wer­den jähr­lich welt­weit dut­zen­de Par­la­men­te oder Prä­si­den­ten­pa­läs­te aus unter­schied­lichs­ten Grün­den gestürmt, sei es wegen mut­maß­li­cher Wahl­fäl­schung, oder wie im Fal­le Sri Lan­kas, schlicht­weg aus Hun­ger. Ein gene­rel­les Framing von Par­la­ments­stür­men als »neu­rech­te Sym­bol­stra­te­gie«, wie es bei­spiels­wei­se die Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung ver­sucht, ist nicht nur Geschichts­klit­te­rung ange­sichts vor­an­ge­gan­ge­ner Trep­pen­be­set­zun­gen am Reichs­tag, son­dern auch ein gefähr­li­cher Stig­ma­ti­sie­rungs­ver­such von poli­ti­schen Revol­ten welt­weit, die in beson­de­ren Fäl­len, wie etwa Hun­ger in der Bevöl­ke­rung, durch­aus ihre demo­kra­ti­sche Berech­ti­gung haben kön­nen. Oder woll­te man etwa behaup­ten, die Men­schen, die aus Hun­ger den Prä­si­den­ten­pa­last Sri Lan­kas besetz­ten, hät­ten eine »neu­rech­te Sym­bol­stra­te­gie« betrie­ben? Fest­zu­hal­ten ist: Das The­ma ist kom­plex. Obwohl heut­zu­ta­ge nur in sel­tens­ten Fäl­len ein poli­ti­scher Umbruch tat­säch­lich durch eine Par­la­ments­be­set­zung bewirkt wird, haben Par­la­ments­stür­me stets hohe Sym­bol­kraft: Sie ste­hen für Umbruch, für Revo­lu­ti­on, für die Aberken­nung der Legi­ti­ma­ti­on gewähl­ter Volks­ver­tre­ter, für den Wil­len des Vol­kes zu dras­ti­schen poli­ti­schen Ver­än­de­run­gen. Seit 2020 lässt sich welt­weit der Ver­such beob­ach­ten, Par­la­ments­stür­me nicht nur als Pro­test gegen die jeweils gewähl­ten Volks­ver­tre­ter, son­dern als »Angriff auf die Demo­kra­tie« als sol­che zu bewerten.

Das Reichs­tags­ge­bäu­de hat eine beson­de­re, sym­bo­li­sche Bedeu­tung für Deutsch­land. Es ist neur­al­gi­scher Punkt der geteil­ten Erin­ne­rung, Schick­sals­ort, Sehn­suchts­ort und »Herz der Demo­kra­tie«. Der sym­bol­träch­ti­ge Schrift­zug »Dem deut­schen Vol­ke« über dem West­por­tal, der immer wie­der eine magi­sche Anzie­hungs­kraft aus­zu­üben scheint, wur­de von Kai­ser Wil­helm, der das Par­la­ment ver­ach­te­te, erst wäh­rend des ers­ten Welt­kriegs, zwan­zig Jah­re nach der Erbau­ung des Reichs­tags geneh­migt. Am 09. Novem­ber 1918 rief der SPD-Poli­ti­ker Phil­ipp Schei­de­mann von einem Bal­kon der West­sei­te des Reichs­ta­ges das Ende der Mon­ar­chie und die deut­sche Repu­blik aus. Nach dem Reichs­tags­brand von 1933 gelang es den Natio­nal­so­zia­lis­ten mit der soge­nann­ten »Reichs­tags­brand­ver­ord­nung« in Deutsch­land ein tota­li­tä­res Sys­tem auf­zu­bau­en, poli­ti­sche Geg­ner zu ver­fol­gen und die Grund­rech­te außer Kraft zu set­zen. Nach Kriegs­en­de 1945 ent­stand das welt­be­rühm­te Foto des Kriegs­fo­to­gra­fen Jew­ge­ni Chal­dej, das einen sowje­ti­schen Sol­da­ten zeigt, der auf der Rui­ne des Reichs­ta­ges die sowje­ti­sche Flag­ge hisst. Im Jahr 1948 erbat Ernst Reu­ter am Reichs­tag mit sei­nem iko­ni­schen Satz »Ihr Völ­ker die­ser Welt (.), schaut auf die­se Stadt« die Hil­fe der Alli­ier­ten bei der Bela­ge­rung Ber­lins, wor­auf die Ber­li­ner Luft­brü­cke folg­te. Nach sei­nem jahr­zehn­te­lan­gen Dorn­rös­chen­schlaf wäh­rend der deut­schen Tei­lung war der Reichs­tag am 04.101990 Aus­tra­gungs­ort der ers­ten geein­ten Par­la­ments­sit­zung unter Hel­mut Kohl. Per Par­la­ments­ent­scheid wur­de im soge­nann­ten »Haupt­stadt­be­schluss« 1991 der Umzug des Regie­rungs­sit­zes von Bonn nach Ber­lin beschlos­sen, so dass der Reichs­tag nach einer wech­sel­haf­ten Geschich­te mit zwei Dik­ta­tu­ren schluss­end­lich 1999 zum Sitz des deut­schen Par­la­ments wer­den konn­te. Bevor es soweit war, hüll­te das Künst­ler­ehe­paar Chris­to und Jean­ne-Clau­de den Reichs­tag 1995 in silb­ri­gem Stoff – die Bil­der des Kunst­hap­pe­nings gin­gen um die Welt und mach­ten die ein­drück­li­che Form des Gebäu­des zu einem Kult-Objekt.

Das Reichs­tags­ge­bäu­de ist mehr als nur ein Par­la­ments­ge­bäu­de im kol­lek­ti­ven Bewusst­sein der Deut­schen. Es sym­bo­li­siert sowohl die Kost­bar­keit, als auch die Zer­brech­lich­keit der deut­schen Demo­kra­tie. Wem es gelingt, den Reichs­tag zu beset­zen, dem ist die Auf­merk­sam­keit sicher.

Jede Erklim­mung des Reichs­tags­ge­bäu­des ist heut­zu­ta­ge jedoch ledig­lich sym­bo­li­scher Natur: Mit sei­nen dop­pel­wan­di­gen, gepan­zer­ten Glas­tü­ren, gut bemann­tem Wach­per­so­nal, Sicher­heits­schleu­sen und der haus­ei­ge­nen, 180 Beam­ten star­ken Bun­des­tags­po­li­zei stellt das Reichs­tags­ge­bäu­de eines der am bes­ten geschütz­ten Gebäu­de Deutsch­lands dar. Doch Sym­bo­le sind äußerst wirk­mäch­tig und bedeu­ten je nach Kon­text etwas voll­kom­men ande­res: Wenn Milo Rau den Reichs­tag stürmt: Eine pro­gres­si­ve Thea­ter­per­for­mance. Wenn Umwelt­ak­ti­vis­ten den Reichs­tag stür­men: Ein legi­ti­mes poli­ti­sches State­ment. Wenn Reichs­bür­ger den Reichs­tag stür­men: Ein Angriff auf die Demo­kra­tie, eine Remi­nis­zenz an den Reichs­tags­brand von 1933, die Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes, die Ver­ächt­lich­ma­chung der frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grundordnung.

Was im Vor­feld des 29. August 2020 geschah

Luft­bild­auf­nah­me. Grün umran­det: Quer­den­ken-Demo auf der Stra­ße des 17. Juni, rot umran­det: Reichs­bür­ger-Büh­ne vor dem Reichs­tag. Quel­le: Netzfund.

Drei Tage vor dem 29. August 2020 waren zunächst alle Ver­samm­lun­gen in Ber­lin ver­bo­ten. Ber­lins Innen­se­na­tor Andre­as Gei­sel begrüß­te die Ent­schei­dung der Ber­li­ner Ver­samm­lungs­be­hör­de aus­drück­lich, was er unter ande­rem poli­tisch begrün­de­te:

Ich bin nicht bereit, ein zwei­tes Mal hin­zu­neh­men, dass Ber­lin als Büh­ne für Coro­na-Leug­ner, Reichs­bür­ger und Rechts­extre­mis­ten miss­braucht wird. Ich erwar­te eine kla­re Abgren­zung aller Demo­kra­tin­nen und Demo­kra­ten gegen­über den­je­ni­gen, die unter dem Deck­man­tel der Ver­samm­lungs- und Mei­nungs­frei­heit unser Sys­tem ver­ächt­lich machen.

Laut einem Kom­men­tar des Tages­spie­gels kann davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass Gei­sel das umstrit­te­ne Demo-Ver­bot selbst ange­wie­sen hat­te. Es wur­de schluss­end­lich am 28. August vom Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­richt und Ober­ver­wal­tungs­ge­richt kas­siert, da es hand­werk­li­che Män­gel ent­hielt und ein Demo-Ver­bot nicht poli­tisch begrün­det sein darf. Eine poli­ti­sche Klat­sche für Andre­as Gei­sel: Infol­ge der geschei­ter­ten Ver­bots­ver­fü­gung wur­de sogar von Medi­en, die Gei­sels poli­ti­scher Linie eigent­lich wohl­ge­son­nen sind, des­sen Eig­nung als Innen­se­na­tor infra­ge gestellt.

Am 29. August 2020 wur­den schluss­end­lich etwa 100 Ver­samm­lun­gen in Ber­lin zuge­las­sen: Die größ­te war die von »Querdenken711« ange­mel­de­te Ver­samm­lung auf der Stra­ße des 17. Juni, gefolgt von einer Quer­den­ken-Ver­samm­lung an der Fried­rich­stra­ße, einer Reichs­bür­ger-Ver­samm­lung vor der Rus­si­schen Bot­schaft und der Büh­nen­ver­an­stal­tung »Staa​ten​los​.info« von Rüdi­ger Hoff­mann direkt vor dem Reichstag.

Büh­ne der Reich­bür­ger-Ver­an­stal­tung von »Staa­ten­los«, 17. – 21. August 2020. Quel­le: Screen­shot

Der Bereich rund um den Reichs­tag gilt als befrie­de­ter Bereich. Im Unter­schied zur Bann­mei­le der Bon­ner Repu­blik, in der bis 1999 über­haupt kei­ne Ver­samm­lun­gen erlaubt waren, sind im befrie­de­ten Bereich Ver­samm­lun­gen mög­lich. Vor­aus­set­zung ist die Ein­ho­lung einer Son­der­er­laub­nis durch das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren. Das BMI kann Kund­ge­bun­gen bei­spiels­wei­se geneh­mi­gen, wenn im Reichs­tag gera­de sit­zungs­frei ist oder die Ver­samm­lung den Regie­rungs­be­trieb nicht gefähr­det. Spon­tan­ver­samm­lun­gen sind aus­ge­schlos­sen. Wie streng die Ver­ord­nung über befrie­de­te Berei­che ist, lässt sich dar­aus erse­hen, dass 2012 bei einem Pro­test­camp von Geflüch­te­ten auf dem Pari­ser Platz, der sich im befrie­de­ten Bereich befin­det, weder Zel­te, noch Iso­mat­ten und Schlaf­sä­cke zuge­las­sen waren.

Bei vor­be­straf­ten Reichs­bür­gern hin­ge­gen scheint man im Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren die Sache ein wenig locke­rer zu neh­men: Bereits eine Woche vor dem 29. August 2020 durf­te Rüdi­ger Hoff­mann schon ein­mal vier Tage lang sei­ne Büh­ne vor dem Reichs­tag auf­stel­len. Hoff­mann ist Ex-NPD-Mit­glied, wird dem Reichs­bür­ger­spek­trum zuge­ord­net und ist vor­be­straft wegen ver­such­ten Mor­des, weil er in den 1990er Jah­ren einen Molo­tow-Anschlag auf ein Asyl­be­wer­ber­heim orga­ni­sier­te. Sein Ver­ein staa​ten​los​.info wird vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet. Seit 2013 hielt er soge­nann­te »Mahn­wa­chen für Hei­mat und Welt­frie­den« ab und rief in schö­ner Regel­mä­ßig­keit ein­mal pro Jahr zum Sturm auf den Reichs­tag auf. Ab 2019 ver­such­te er, ein deut­sches Pen­dant zu den fran­zö­si­schen Gelb­wes­ten aufzubauen.

Rüdi­ger Hoff­manns Reichs­bür­ger-Büh­ne war vom BMI groß­zü­gi­ger­wei­se für den gesam­ten Monat geneh­migt wor­den, wur­de jedoch am 21. August vor­zei­tig durch die Ber­li­ner Poli­zei auf­ge­löst, da die­se auf­grund der gerin­gen Teil­neh­mer­zahl der Auf­fas­sung war, es han­de­le sich hier­bei um gar kei­ne Ver­samm­lung. Der Bür­ger­meis­ter des Stadt­be­zirks Mit­te, Ste­phan von Das­sel, ließ nach vier Tagen Reichs­bür­ger­büh­ne vor dem Reichs­tag sei­ner Empö­rung auf Twit­ter frei­en Lauf: Er sei über die Ver­an­stal­tung erst rück­wir­kend infor­miert wor­den. Ganz beson­ders beküm­mer­ten den Grü­nen dabei offen­bar die ent­stan­de­nen Flur­schä­den auf der Reichs­tags­wie­se, die der Stadt­be­zirk Ber­lin-Mit­te auf eige­ne Kos­ten behe­ben musste.

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Umso mehr über­rascht es ange­sichts die­ser Vor­ge­schich­te, dass die so unge­lieb­te Reichs­bür­ger-Ver­an­stal­tung am dar­auf­fol­gen­den Wochen­en­de, dem 29. August, noch ein­mal vor dem Reichs­tag statt­fin­den duf­te, obwohl an die­sem Tag kei­ne Geneh­mi­gung des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums des Inne­ren für eine Ver­samm­lung im befrie­de­ten Bereich mehr vor­lag. Dies muss­te Ber­lins Innen­se­kre­tär Tors­ten Akmann spä­ter auf eine Anfra­ge des Abge­ord­ne­ten Mar­cel Luthe hin eingestehen:

Ein Zulas­sungs­be­scheid des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums des Innern, für Bau und Hei­mat zur Durch­füh­rung einer Ver­samm­lung am 29. August 2020 inner­halb des befrie­de­ten Bezirks des Deut­schen Bun­des­ta­ges lag der Ver­samm­lungs­be­hör­de nicht vor, eben­so wenig ein ent­spre­chen­der Ablehnungsbescheid.

Es wäre ein Leich­tes für den Ber­li­ner Senat gewe­sen, die Reichs­bür­ger-Ver­samm­lung wegen nicht vor­lie­gen­der Geneh­mi­gung sei­tens des BMI zu ver­bie­ten. Spä­ter dazu befragt, war­um dies nicht geschah, berief sich Gei­sel dar­auf, die Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­rich­te hät­ten schließ­lich das Ver­bot für alle Ver­an­stal­tun­gen an die­sem Tag gekippt. Nur: Für den befrie­de­ten Bereich reicht ein gekipp­tes Ver­bot allein nicht aus. Ein Spre­cher der Innen­be­hör­de behaup­te­te spä­ter, ein feh­len­der BMI-Bescheid legi­ti­mie­re kei­ne Auf­lö­sung einer Ver­samm­lung, doch Fach­leu­te wider­spre­chen die­ser Aus­le­gung vehe­ment, wie etwa der Hoch­schul­do­zent Oli­ver Töl­le, bis 2017 obers­ter Jus­ti­zi­ar der Ber­li­ner Polizei:

Wenn kei­ne Geneh­mi­gung des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums für eine sol­che Demons­tra­ti­on im befrie­de­ten Bezirk vor­liegt, ist die Ver­samm­lung ille­gal. Zumin­dest hät­te die Poli­zei jeden­falls eine sol­che Kund­ge­bung von Beginn an aus dem Bereich des Reichs­tags nach gel­ten­dem Recht abdrän­gen und ihr einen ande­ren Platz außer­halb des Bereichs zuwei­sen können.

Die Ver­an­stal­tung Rüdi­ger Hoff­manns war aus­ge­stat­tet mit einer Büh­ne, einem Mit­ar­bei­ter-Zelt, umfang­rei­cher Ton­tech­nik und einer sepa­rat ste­hen­den Groß­lein­wand. Die Poli­zei hät­te am gesam­ten vor­he­ri­gen Abend die Gele­gen­heit gehabt, den Auf­bau der Büh­ne zu unter­bin­den. Es drängt sich die Fra­ge auf, aus wel­chem Grund die Ber­li­ner Behör­den aus­ge­rech­net am 29. August 2020 den ordent­li­chen Dienst­weg ver­letz­ten und die Reichs­bür­ger-Büh­ne vor dem Reichs­tag zulie­ßen, ohne dass es hier­für jemals juris­ti­sche Kon­se­quen­zen gab. Eine Ver­let­zung des Dienst­wegs ist in Deutsch­land kein Kava­liers­de­likt: So wur­de etwa der Ober­re­gie­rungs­rat Ste­phan Kohn wegen einer Ver­let­zung des Dienst­wegs im Febru­ar 2021 von sei­ner Tätig­keit im BMI sus­pen­diert.

Mas­si­ve Mobi­li­sie­rung zum Sturm auf den Reichs­tag vor dem 29. August 2020 in den sozia­len Medien

Die Dul­dung einer Reichs­bür­ger-Büh­nen­ver­an­stal­tung direkt vor dem Reichs­tag erscheint noch frag­wür­di­ger in Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass es im Vor­feld sowohl für den 01. Mai, den 01. August als auch den 29. August recht unmiss­ver­ständ­li­che Hin­wei­se auf Twit­ter, Tele­gram und You­Tube gab, dass der Reichs­tag zum Ziel einer Stür­mung wer­den könn­te. Der Poli­zei waren die­se Vor­gän­ge bekannt. Es gab sogar eine Tele­gram-Grup­pe namens »Sturm auf den Reichs­tag« mit 126 Mit­glie­dern. Hin­ter dem Admin der Grup­pe, einem gewis­sen »Anony­mous Ber­lin« ver­mu­ten Beob­ach­ter der Sze­ne den Rechts­extre­mis­ten Chris­toph Kastius.

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Chris­toph Kas­ti­us ist, eben­so wie Rüdi­ger Hoff­mann, ein vor­be­straf­ter Reichs­bür­ger und QAnon-Anhän­ger, der 2011 mit einer Axt im Job­cen­ter auf­tauch­te. Bereits 2015 rief er zum Sturm auf den Reichs­tag auf, zudem wur­de gegen ihn wegen einer Mord­dro­hung ermit­telt. Auf einem sei­ner You­Tube-Kanä­le ver­öf­fent­lich­te er ein Video, in dem er mit einer Sen­se posier­te und erklärte, Frei­heit erbet­te­le man sich nicht, man müs­se sie sich erkämp­fen: »Des­halb alle am 29.08. um 10 Uhr zum Reichs­tag! Und rein in die Bude! Rein in die Bude und die Natio­nal­ver­samm­lung for­dern!« Das Video ist inzwi­schen gelöscht, konn­te aber gesi­chert wer­den. Auch für den 01. Mai und den 01. August rief Kas­ti­us mit Mobi­li­sie­rungs­vi­de­os zur Stür­mung des Reichs­tags auf.

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https://​twit​ter​.com/​S​c​h​w​a​r​z​e​P​a​l​m​e​n​/​s​t​a​t​u​s​/​1​2​8​9​1​4​7​2​2​9​5​9​7​5​6​4​929
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Auf einem eben­falls Kas­ti­us zuge­ord­ne­ten You­Tube-Kanal namens »Anony­mous« mit 3000 Abon­nen­ten, erschien am 13. August 2020 ein Mobi­li­sie­rungs­vi­deo für den Reichs­tag am 29. August – mit Guy-Faw­kes-Mas­ke des Hack­ti­vist-Kol­lek­tivs Anony­mous. Der You­Tube-Account @anonymousdeutschland mit 3000 Abon­nen­ten wur­de im Win­ter 2022 gelöscht, das Video konn­te jedoch eben­falls gesi­chert werden.

Das Anony­mous-Label ist prak­tisch: Jeder kann sich »Anony­mous« nen­nen. Her­vor­ge­gan­gen 2010 aus dem Image­board »4chan« und der Hack­ti­vist-Sze­ne, war die Anony­mous-Bewe­gung noch nie poli­tisch homo­gen. Von links- bis rechts­ra­di­ka­len Accounts agiert hin­ter der Anony­mi­tät der Mas­ke das gesam­te poli­ti­sche Spek­trum. »Anony­mous Ger­ma­ny«, auch bekannt unter »Anon­Leaks /​AnonNewsDE«, ist dem Spek­trum der maß­nah­men­be­für­wor­ten­den, regie­rungs­treu­en Anti­fa zuzu­ord­nen. Das Kol­lek­tiv hack­te die Web­sei­te von Atti­la Hild­mann, unter­wan­der­te die Par­tei Widerstand2020 mit Fan­ta­sie­pro­fi­len, leak­te Unter­la­gen der FDP und arbei­te­te sich seit 2020 vor­ran­gig an soge­nann­ten »Schwurb­lern« ab: So leak­ten sie die Mit­glie­der­lis­te der Par­tei »Die­Ba­sis«, gaben sich auf Tele­gram nach des­sen BILD-Raus­wurf als Juli­an Rei­chelt aus, und kün­dig­ten unter den Hash­tags #OpKal­te­Wut / #OpT­in­foil / #OpJus­ti­tia Aktio­nen gegen soge­nann­te Quer­den­ker an. Anony­mous Ger­ma­ny ist nicht auf Tele­gram und distan­ziert sich von »QAnon«, doch auf Tele­gram exis­tie­ren diver­se Anony­mous-Kanä­le, die QAnon-Inhal­te ver­brei­ten. Sowohl QAnon als auch Anony­mous sind per­fek­te Werk­zeu­ge für Geheim­diens­te, um gewünsch­te Inhal­te dis­kret in bestimm­ten Echo­kam­mern zu plat­zie­ren. Bei dem Anon, der in den Wochen vor dem 29. August 2020 zum Sturm auf den Reichs­tag auf­rief, han­delt es sich aller Wahr­schein­lich­keit nach um den Reichs­bür­ger Chris­toph Kas­ti­us. Ob Kas­ti­us für den Ver­fas­sungs­schutz arbei­tet, ist nicht bekannt, doch sel­bi­ges wirft er Rüdi­ger Hoff­mann, dem Anmel­der des 29. August 2020, vor – mit der Begrün­dung, die­ser bekä­me an allen wich­ti­gen Daten vor dem Reichs­tag sei­ne Büh­ne geneh­migt, wohin­ge­gen er selbst dar­an immer wie­der schei­te­re. Bei­de sind vor­be­straft, bei­de haben eine Vor­ge­schich­te regel­mä­ßi­ger Auf­ru­fe zum »Sturm auf den Reichs­tag«, bei­de sind in die Gescheh­nis­se zum 29. August 2020 verwickelt.

Auch der Anmel­der der Quer­den­ken-Ver­samm­lun­gen auf der Fried­rich­stra­ße, Nils Weh­ner, berich­te­te, dass er bereits vor dem 01. August auf Tele­gram Anfra­gen bekam, ob er nicht dabei wäre, im geeig­ne­ten Moment von einem sei­ner Umzugs­fahr­zeu­ge aus zu einem »Sturm auf den Reichs­tag« auf­zu­ru­fen. Dies lehn­te er sei­ner Aus­sa­ge nach kate­go­risch ab und ver­stän­dig­te sowohl den Quer­den­ken-Orga­ni­sa­tor Micha­el Ball­weg, als auch die Poli­zei dar­über. Auf sei­ne Bit­te hin, die Poli­zei möge ein Auge auf sol­che Vor­gän­ge hal­ten, hieß es sei­tens die­ser lapi­dar, laut Ver­samm­lungs­recht kön­ne jeder an einer öffent­li­chen Ver­samm­lung teilnehmen.

Nach­dem trotz feh­len­der BMI-Geneh­mi­gung und ein­schlä­gi­ger War­nun­gen an die Poli­zei am 29. August 2020 die Reichs­bür­ger-Büh­ne vor dem Reichs­tag zuge­las­sen wur­de, drängt sich die Fra­ge auf, ob soviel Fahr­läs­sig­keit noch als Fahr­läs­sig­keit bezeich­net wer­den kann, oder hier schon poli­ti­sche Absicht mit im Spiel ist. Laut einem Bericht der Zeit­On­line wuss­ten sowohl der Ver­fas­sungs­schutz und als auch die Ber­li­ner Poli­zei im Vor­feld genau­es­tens über die Auf­ru­fe im Inter­net Bescheid, am 29. August den Reichs­tag, alter­na­tiv das Kanz­ler­amt zu stür­men. In einer sol­chen Gemenge­la­ge könn­te man anneh­men, dass die Ber­li­ner Poli­zei das Reichs­tags­ge­bäu­de dann wenigs­tens kei­nen ein­zi­gen Augen­blick lang unbe­wacht las­sen wür­de – allein, es kam anders. 

Die Chro­no­lo­gie des Stur­mes auf den Reichstag

Am 28. August 2020, einen Tag vor dem Sturm auf den Reichs­tag, fand vor der Rus­si­schen Bot­schaft eine Kund­ge­bung der Ber­li­ner Gelb­wes­ten statt. Mit dabei: Eine bis dato noch voll­kom­men unbe­kann­te Heil­prak­ti­ke­rin aus der Eifel namens Tama­ra Kirsch­baum, die am fol­gen­den Tag zum Sturm auf den Reichs­tag auf­ru­fen soll­te. Sie hielt eine Anspra­che vor der Botschaft:

Wir wer­den mor­gen ver­eint dafür sor­gen, dass die­se BRD-Fake-Regie­rung abge­wi­ckelt wird. Wir wol­len den Frie­dens­ver­trag! Wir sind Sou­ve­rän, wir wol­len frei sein und wir las­sen uns nicht mehr unter­but­tern! Es reicht! Es reicht ein­fach! [Ein Zwi­schen­ru­fer: ›Schon längst!‹] Schon längst, ja. Ich, hof­fe, dass mor­gen alle zu den Bot­schaf­ten kom­men und sich hier mel­den und sagen: Hier Bit­te­schön, wir brau­chen jetzt unse­ren Frie­dens­ver­trag, wir for­dern ihn. Und die kom­men­den Wor­te möch­te ich auch an die Rus­si­sche Bot­schaft wen­den (sie dreht sich gen Rus­si­sche Bot­schaft): ja, ihr dürft ger­ne zuhö­ren, ich weiß, dass ihr da seid: Wir bit­ten euch, mor­gen auf uns auf­zu­pas­sen. Wir wer­den mor­gen für unse­re Frei­heit kämpfen.

Die Wor­te wirk­ten, als hät­te Kirsch­baum schon eine recht kla­re Vor­stel­lung davon, was am nächs­ten Tag gesche­hen wür­de. Im Anschluss an ihre Rede wur­de sie von zwei Repor­tern der BILD-Zei­tung inter­viewt, die zufäl­lig bei der recht klei­nen Reichs­bür­ger-Kund­ge­bung zuge­gen waren. Welch glück­li­che Fügung für die BILD, bereits einen Tag vor­her aus­ge­rech­net die Frau inter­viewt zu haben, die am nächs­ten Tag zum Sturm auf den Reichs­tag auf­ru­fen sollte.

Am 29. August 2020 nahm schließ­lich ein bemer­kens­wer­ter Tag im Ber­li­ner Regie­rungs­vier­tel sei­nen Lauf. Gemäß Video­be­wei­sen befan­den sich bereits ab 10 Uhr mor­gens Poli­zis­ten auf dem Dach des Paul-Löbe-Hau­ses. Sie pos­tier­ten dort eine Richt­mi­kro­fon-Kame­ra, die ganz­tä­gig auf die Flä­che vor dem Reichs­tag gerich­tet war. Zwei bis drei Beam­te obser­vier­ten von der Kame­ra­war­te aus über den gesam­ten Tag hin­weg den Platz, zum Zeit­punkt des Stur­mes waren es sogar sieben.

Poli­zis­ten auf dem Dach des Paul-Löbe-Hau­ses, 29.08.2020. Screen­shot

Die Büh­nen­ver­an­stal­tung von Staa​ten​los​.info direkt vor dem Reichs­tag war zunächst nur mäßig besucht, den­noch gab es rund um die Ver­an­stal­tung bereits eine erheb­li­che Poli­zei­prä­senz: Die Schei­de­mann­stra­ße süd­lich vom Reichs­tag war dop­pel­spu­rig mit Poli­zei­fahr­zeu­gen zuge­parkt. Ein Dut­zend Beam­te stand zu die­sem Zeit­punkt noch vor dem Reichs­tag. Eine Poli­zei­ket­te mit etwa 5 Metern Abstand sicher­te die West­sei­te der Ver­an­stal­tung. Auf der Reichs­tags­wie­se befand sich quer über die gesam­te Wie­se ver­teilt eine Hun­de­staf­fel mit etwa zwölf Hun­de­füh­rern, im Bereich der Besu­cher­con­tai­ner war­te­te eine wei­te­re Grup­pe Polizisten.

Über­sichts­plan der Poli­zei­prä­senz rund um den Reichs­tag am 29.08.20, frü­her Nachmittag

Die Stim­mung der Büh­nen­ver­an­stal­tung vor dem Reichs­tag war über den gesam­ten Tag hin­weg recht gela­den. Wie­der­keh­ren­de Tal­king Points: Das »deut­sche Volk« müs­se sich end­lich gegen die glo­ba­le Sata­nis­ten-Eli­te weh­ren, Deutsch­land sei kein sou­ve­rä­ner Staat, son­dern ein Vasall der Alli­ier­ten. Eli­ten-Pädo­phi­len-Rin­ge kon­trol­lier­ten die Welt und voll­zö­gen gera­de einen Impf-Geno­zid an der Bevöl­ke­rung. Von der Büh­ne aus wur­de mit teils mar­tia­li­schem Pathos ange­kün­digt, heu­te sei gro­ße Tag gekom­men, an dem »das deut­sche Volk« sein Gebäu­de zurück­er­obern wür­de, unter fre­ne­ti­schem Jubel der Ver­samm­lungs­teil­neh­mer. Bei einer erheb­li­chen Poli­zei­prä­senz vor Ort und einer Laut­spre­cher­an­la­ge, die das Gelän­de so laut beschall­te, dass eini­ge Teil­neh­mer sich sogar dar­über beklag­ten, hät­te man anneh­men kön­nen, die Poli­zei hät­te doch von alle­dem etwas mit­be­kom­men müs­sen? Die­se behaup­te­te rück­bli­ckend, vom Sturm auf den Reichs­tag voll­kom­men über­rascht wor­den zu sein. Wie die Live­streams der Ver­an­stal­tung bele­gen, ist die­se Behaup­tung als unwahr zurück­zu­wei­sen. Über den gesam­ten Nach­mit­tag hin­weg wur­de immer wie­der von Red­nern auf der Büh­ne gefor­dert, dass man unbe­dingt heu­te in den Reichs­tag rein­müs­se, dass es sich heu­te ent­schei­den würde.

Gegen 16 Uhr kam es zu einem »Aus­bruch« von etwa 50 Ver­samm­lungs­teil­neh­mern auf die Reichs­tags­wie­se. Die Poli­zei kes­sel­te umge­hend. Mit im Kes­sel: Tama­ra Kirsch­baum, die Heil­prak­ti­ke­rin, die am Tag vor­her bereits von der BILD-Zei­tung inter­viewt wur­de. An ihrer Sei­te ein Mann in gel­ber Wes­te namens Gun­nar Wunsch, der spä­ter das Gerücht ver­brei­te­te, Donald Trump sei in der Bot­schaft. Außer­dem mit im Kes­sel befan­den sich meh­re­re Repor­ter, von Spie­gelTV, N23 und der BILD-Zei­tung, die live aus dem Kes­sel ins Stu­dio sen­de­te. Ver­ein­zelt gab es kör­per­li­chem Wider­stand gegen Poli­zei­be­am­te, die Jour­na­lis­ten schnit­ten eif­rig mit. Nach der klei­nen Show durf­ten die zuvor Gekes­sel­ten wie­der unbe­hel­ligt aufs Ver­samm­lungs­ge­län­de vor dem Reichs­tag zurück­keh­ren. Auf der Büh­ne gab es eine Fest­nah­me. Die exklu­si­ven Auf­nah­men von Spie­gelTV flos­sen in den Bericht »Kampf um die Stra­ße – Hygie­ne­de­mo Teil 2″ ein.

Gegen 16.30 Uhr hat­te Atti­la Hild­mann einen Auf­tritt auf der Reichs­bür­ger-Büh­ne. Er ver­kün­de­te, an die­sem Tag wür­de »Welt­ge­schich­te« geschrie­ben, er sei stolz auf auf die hier Ver­sam­mel­ten. Euro­päi­sche Spe­zi­al­trup­pen sei­en auf dem Weg nach Ber­lin. Die Poli­zei möge die Tore der Git­ter zum Reichs­tag öff­nen, »damit die Deut­schen end­lich zu dem Gebäu­de kom­men, das dem deut­schen Vol­ke gewid­met ist«. Die Men­ge skan­dier­te: »Öff­net die Tore! Öff­net die Tore!« Hild­mann fuhr fort:

Die NWO plant einen Völ­ker­mord an sie­ben Mil­li­ar­den Men­schen. (.) Und die NWO wird nicht in Neu­see­land oder Aus­tra­li­en besiegt, die NWO wird hier und heu­te auf deut­schem Boden besiegt, denn Deutsch­land kennt die­sen Feind bes­ser als jeder ande­re! Und die­ses Gebäu­de hier ist dem deut­schen Volk gewid­met, und wisst ihr was? Spä­tes­tens am Abend wer­den wir es zeigen!

Nach die­sen Wor­ten brach unter den Ver­samm­lungs­teil­neh­mern fre­ne­ti­scher Jubel aus. Der Ver­samm­lungs­lei­ter, Rüdi­ger Hoff­mann, rief in teils recht emo­tio­na­len State­ments dazu auf, »mehr Mas­se« auf die Ver­an­stal­tungs­flä­che zu bekommen:

Die Poli­zei räumt die Rus­si­sche Bot­schaft. Kommt alle auf die­sen Platz! Wenn ihr nicht kommt sind wir tot! Sie wol­len uns alle töten! (.) Kommt auf die­sen Platz! Sagt allen Bescheid, sie sol­len kom­men!« Im Namen Got­tes, steht end­lich auf und kommt auf die­sen Platz! (.) Die Poli­zei rie­gelt ab, dass wir hier nicht her­aus­kom­men. Sie wol­len die Regie­rung schüt­zen. Sie wol­len alles tun, dass ihr nicht auf das Par­la­ment kommt! Des­we­gen tut alles, geht alle in eure sozia­len Netz­wer­ke, geht in eure Tele­fo­ne, ruft auf, kommt alle zum Platz!

Ande­re Red­ner der Büh­nen­ver­an­stal­tung äußer­ten sich in ähn­li­cher Deut­lich­keit:

Das ist unser Haus! Jedem ein­zel­nen von euch gehört die­ses Haus! Das steht dort, dem deut­schen Vol­ke. Das seid ihr! (.) Ich hof­fe tat­säch­lich, dass wir heu­te Abend fei­ern kön­nen, oder spä­tes­tens mor­gen, aber noch ist das nicht soweit. Ich hof­fe, dass hier geöff­net wird und die Freun­de von dort [Stra­ße des 17. Juni] den Weg hier­her fin­den wer­den, auf die­se Wie­se, vor die­ses Haus, wo es sich ent­schei­den wird!

Es wird schlimm wer­den, wenn die­se Wie­se heu­te nicht voll wird, und wir nicht in unser Par­la­ment gehen kön­nen, wenn hier wei­ter rum­ge­ei­ert wird. (.) Es geht um unser Leben, wenn wir das heu­te nicht schaf­fen, sind wir am Arsch!

Eine wei­te­re Red­ne­rin behaup­te­te nun jubelnd und vor Freu­de hüp­fend, vor der Rus­si­schen Bot­schaft hät­ten die Poli­zis­ten ihre Hel­me aus­ge­zo­gen. Sie sei­en »auf unse­rer Sei­te«. Sie füg­te mit Begeis­te­rung hin­zu, auch die Poli­zis­ten auf der Reichs­tags­wie­se direkt hin­ter der Ver­an­stal­tung hät­ten ihre Hel­me aus­ge­zo­gen. Im Live­stream ist zu erken­nen, dass die besag­ten Poli­zei­be­am­ten ihre Hel­me tat­säch­lich abge­setzt hat­ten und vor dem Bauch trugen.

Poli­zis­ten auf der Reichs­tag­wie­se hin­ter der Ver­an­stal­tung ohne Hel­me. Screen­shot

An der Trep­pe zum Reichs­tag befand sich bereits ab 16.30 Uhr kein ein­zi­ger Poli­zei­be­am­ter mehr. Dafür waren wei­ter­hin in den Stra­ßen ent­lang des Reichs­ta­ges – der Paul-Löbe-Alle und der Schei­de­mann­stra­ße – zahl­rei­che Poli­zei­fahr­zeu­ge und Ein­satz­kräf­te pos­tiert. Eini­ge Men­schen auf dem Platz began­nen, auf­ge­regt zu tele­fo­nie­ren: Alle soll­ten bit­te auf die­sen Platz kom­men, man hät­te nur noch die­se eine Chan­ce. Von der Büh­ne aus erschall­te nun eine wei­te­re Durch­sa­ge: »Har­te Ver­hand­lun­gen« mit der Poli­zei hät­ten erge­ben, dass noch 150 wei­te­re Per­so­nen auf das Ver­an­stal­tungs­ge­län­de durf­ten. War­um hielt die Poli­zei einen Teil­neh­mer­zu­strom, unge­ach­tet zahl­rei­cher unmiss­ver­ständ­li­cher Äuße­run­gen von der Büh­ne her, zu die­sem Zeit­punkt für eine gute Idee?

Gegen 18 Uhr mach­ten sich Tama­ra Kirsch­baum und Gun­nar Wunsch mit etwa zwan­zig ande­ren Men­schen, aus­ge­stat­tet mit Mega­fo­nen, auf den Weg zum Bran­den­bur­ger Tor, um Men­schen auf das Gelän­de vor dem Reichs­tag zu locken. Zahl­rei­che Poli­zis­ten stand see­len­ru­hig dane­ben, als Trau­ben von Men­schen einen geöff­ne­ten Absperr­zaun am Sim­son­weg in Rich­tung Reichs­tag pas­sier­ten und Tama­ras Team­mit­glie­der auf der Stra­ße des 17. Juni Sät­ze wie die­se in ihre Mega­fo­ne brüllten:

Lasst uns unser Haus zurück­ho­len! Es steht dran wem’s gehört: Dem deut­schen Vol­ke! Lasst uns die Noma­den da raus­wer­fen! Weg mit denen! Das Haus gehört uns!

Man fragt sich, ob nicht spä­tes­tens jetzt der Moment gewe­sen wäre, einen Anruf an die Kol­le­gen vor dem Reichs­tag zu täti­gen und für eine deut­lich sicht­ba­re Poli­zei­prä­senz vor dem Gebäu­de zu sor­gen. Nichts der­glei­chen geschah – statt­des­sen füll­te sich der Platz vor dem Reichs­tag nur kon­ti­nu­ier­lich wei­ter mit Men­schen. Eine Kund­ge­bung vor der Fried­rich­stra­ße lös­te die Poli­zei zuvor wegen »Nicht-Ein­hal­tung der Hygie­ne­re­geln« auf. Für den Bereich vor dem Reichs­tag wur­den für die Län­ge des gesam­ten Tages hin­ge­gen kei­ne Hygie­ne­re­geln durch­ge­setzt – sie schie­nen dort aus uner­find­li­chen Grün­den schlicht­weg kei­ne Rol­le zu spie­len. Kurz vor dem Sturm auf den Reichs­tag wur­de die zuvor geöff­ne­te Absper­rung am Sim­son­weg von Poli­zei­haupt­kom­mis­sar Kars­ten Bonack und sei­ner Ein­satz­hun­dert­schaft wie­der geschlos­sen, so dass nie­mand mehr Rich­tung Stra­ße des 17. Juni zurück­keh­ren konn­te. Ob gewollt oder ver­se­hent­lich, die poli­zei­li­che Len­kungs­tak­tik der Ver­samm­lungs­teil­neh­mer am Reichs­tag glich einer Mau­se­fal­le: Erst ermög­lich­te sie einen Zustrom auf das Reichs­tags­ge­län­de, dann ver­hin­der­te sie einen Abstrom.

Kurz vor 19 Uhr hat­te der Rechts­extre­me und Holo­caust-Leug­ner Niko­lai Ner­ling einen Auf­tritt auf der Reichs­tags­büh­ne. Er plau­der­te ein wenig aus dem Näh­käst­chen von sei­nem Grill-Abend mit dem Quer­den­ken-Lei­ter Micha­el Ball­weg. Er hät­te zwar eigent­lich ver­spro­chen, dass er dar­über nicht spre­chen wer­de – aber was küm­me­re ihn sein Geschwätz von ges­tern. Die­se klei­ne Sto­ry am Ran­de dien­te der Pres­se den Beleg, dass die bei­den Ver­an­stal­tun­gen, Quer­den­ken und die Reichs­bür­ger­büh­ne, eben doch untrenn­bar zusam­men­ge­hör­ten, wenn die Prot­ago­nis­ten bei­der Ver­an­stal­tun­gen sich sogar pri­vat zum Gril­len tra­fen. Auch mach­te er eine Anspie­lung auf sei­ne Über­zeu­gung der Holo­caust­leug­nung: Er sei Micha­el Ball­weg dank­bar für »die sechs Mil­lio­nen, die jetzt auf der Stra­ße des 17. Juni ste­hen«, nur um sich im nächs­ten Moment zu kor­ri­gie­ren: Sechs Mil­lio­nen könn­ten es ja gar nicht sein, da so vie­le Men­schen auf der Stra­ße des 17. Juni kei­nen Platz hät­ten, »maxi­mal ein paar hun­dert­tau­send, sagen wir es mal so«. Micha­el Ball­weg lie­ße sich auch ger­ne bei ihm in Sachen deut­sche Geschich­te bera­ten. Cle­ve­rer kann man eine Asso­zia­ti­ons­ket­te nicht ein­fä­deln: Quer­den­ken, Reichs­bür­ger, Reichs­tags­sturm, Ner­ling und Ball­weg als Grill-Freun­de mit glei­chen Ansich­ten über »die deut­sche Geschichte«.

Gun­nar Wunsch war zu die­sem Zeit­punkt mit sei­nem Mega­fon auf den Platz der Repu­blik zurück und ver­kün­de­te laut­stark, Donald Trump befän­de in der ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft, die­ser hät­te nur noch eine hal­be Stun­de Zeit. Er erwar­te eine sicht­ba­re Wil­lens­be­kun­dung des deut­schen Vol­kes, um den lang­ersehn­ten Frie­dens­ver­trag zu unter­schrei­ben. Die­se Infor­ma­ti­on hät­te er aus der »hohen Diplo­ma­tie« erhal­ten, und er sei legi­ti­miert, sie zu ver­brei­ten. Er sei auch legi­ti­miert, gleich »dort hoch« – er zeig­te auf den Reichs­tag – zu gehen. Man müs­se da rein – schließ­lich sei doch nie­mand mehr hier, und es stün­de doch nir­gend­wo geschrie­ben, dass es ver­bo­ten sei, dort hoch­zu­ge­hen. Die Poli­zei hät­te sich extra zurück­ge­zo­gen. Alle Men­schen soll­ten jetzt unbe­dingt am Reichs­tag bleiben.

Poli­zei­auf­ge­bot am Sim­son­weg weni­ge Sekun­den vor dem Sturm auf den Reichs­tag. Quel­le: Screen­shot

Wäh­rend­des­sen sam­mel­ten sich an der Absper­rung am Sim­son­weg, süd­lich vom Reichs­tag, meh­re­re Ein­satz­hun­dert­schaf­ten inklu­si­ve Hun­de­staf­fel in Bereit­schafts­po­si­ti­on. Die Video-Blog­ge­rin Miri­am Hope echauf­fier­te sich in ihrem Live-Stream dar­über, dass über­all Poli­zei sei, die sie nicht mehr auf die Quer­den­ken-Demo zurücklasse.

Kurz vor 19 Uhr über­schlu­gen sich vor der Büh­ne die Ereig­nis­se: Im Zelt neben der Büh­ne erlitt der stell­ver­tre­ten­de Ver­samm­lungs­lei­ter einen Schwä­che­an­fall und war nicht mehr in der Lage, Ein­fluss auf das Gesche­hen zu neh­men. Tama­ra Kirsch­baum trat ans Mikro­fon und hielt ihre berüch­tig­te Rede:

So Leu­te. Wir schrei­ben heu­te hier in Ber­lin Welt­ge­schich­te. Guckt euch um, die Poli­zei hat die Hel­me abge­setzt. Vor die­sem Gebäu­de und Trump ist in Ber­lin! Die gan­ze Bot­schaft ist her­me­tisch abge­rie­gelt, wir haben fast gewon­nen. Wir brau­chen Mas­se! Wir müs­sen jetzt bewei­sen, dass wir alle hier sind! Wir gehen jetzt da rauf und holen uns heu­te, hier und jetzt unser Haus zurück! Wir wer­den gleich die­se komi­schen klei­nen Din­ger brav nie­der­le­gen und gehen da hoch und set­zen uns fried­lich auf Trep­pe und zei­gen Prä­si­dent Trump, dass wir den Welt­frie­den wol­len und dass wir die Schnau­ze gestri­chen voll haben. Wir haben gewonnen!

Weni­ge Sekun­den spä­ter setz­ten sich die Men­schen in Bewe­gung. Wäh­rend Tama­ra Kirsch­baums Auf­tritt befand sich der rech­te Video-Strea­mer »Akti­vist Mann« in der Men­ge und folg­te die­ser jubelnd auf die Trep­pe. Ein Zusam­men­schnitt sei­nes Vide­os, das auf Twit­ter von »Anti­fa Zecken­biss« ver­brei­tet wur­de, ging bereits eine Stun­de nach dem Reichs­tags­sturm viral. Im Zusam­men­schnitt sind pro­mi­nent Kars­ten Bonack und zwei Kol­le­gen zu sehen, die spä­ter zusam­men vom Bun­des­prä­si­den­ten geehrt wur­den. De fac­to befan­den sich die­se drei zum Zeit­punkt des Stur­mes jedoch nicht vor dem Reichs­tag, son­dern stan­den bei den war­ten­den Ein­satz­hun­dert­schaf­ten an der Schei­de­mann­stra­ße. Sie eil­ten erst zum Reichs­tag, als die Trep­pe besetzt war.

Die Men­ge oben auf der Trep­pe gröhl­te und film­te, eini­ge blick­ten in den Reichs­tag hin­ein. Gegen 19 Uhr bil­de­ten die Poli­zis­ten eine Ket­te auf der Trep­pe. Es folg­ten tumult­ar­ti­ge Sze­nen, wäh­rend die Men­schen­men­ge von der Trep­pe gedrängt wur­de. Beschä­di­gun­gen am Reichs­tags­ge­bäu­de gab es dabei laut Ein­satz­be­richt der Poli­zei kei­ne. Tama­ra Kirsch­baum konn­te wei­ter­hin unmit­tel­bar vor Poli­zei­be­am­ten mit ihrem Mega­fon agie­ren, obwohl sie es war, die zum Sturm auf den Reichs­tag auf­ge­ru­fen und damit eigent­lich eine straf­ba­re Hand­lung began­gen hat­te. Auch zu ande­ren Fest­nah­men und Per­so­na­li­en­fest­stel­lun­gen kam es kaum: Die am Sturm betei­lig­ten Per­so­nen konn­ten sich danach wie­der unge­hin­dert auf dem Gelän­de bewe­gen, bis schließ­lich gegen 20 Uhr die gesam­te Flä­che von der Poli­zei geräumt wurde.

Poli­zis­ten auf dem Dach des Paul-Löbe-Hau­ses. Screen­shot

Wäh­rend­des­sen film­te das poli­zei­li­che Kame­ra­team vom Dach des Paul-Löbe-Hau­ses see­len­ru­hig die Sze­ne­rie. Zum Zeit­punkt des Stur­mes befan­den sich sie­ben Beam­te, davon zwei in Zivil, und eine Kame­ra auf dem Dach.

Nah­auf­nah­me der Beam­ten auf dem Paul Löbe Haus. Screen­shot

Der Mann mit der gel­ben Wes­te, Gun­nar Wunsch, der zuvor ver­kün­det hat­te, Trump sei in der Ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft, wur­de zu die­sem Zeit­punkt mit drei Poli­zis­ten gesich­tet. Ob es sich dabei um eine Fest­nah­me oder ein freund­li­ches Gespräch unter Kol­le­gen han­del­te, ist nicht zu erkennen.

Gun­nar Wunsch, der Mann mit der gel­ben Wes­te, im Gespräch mit Poli­zei­be­am­ten nach dem Sturm. Screenshot

Ers­te Zeu­gen­aus­sa­gen nach dem Sturm

In den Kom­men­tar­spal­ten unter den auf You­Tube aus­ge­strahl­ten Live­streams des »Events« war die Stim­mung ambi­va­lent. Ein Augen­zeu­ge berich­te­te, er hät­te sich vor Ort gefühlt wie in einer Fal­le. Es sei offen­sicht­lich nur dar­um gegan­gen, die medi­al gewünsch­ten Bil­der zu erzeugen.

Anony­mer Kom­men­tar unter einem Live­stream des Sturms auf You­Tube. Screenshot

Ande­re Kom­men­ta­to­ren und Augen­zeu­gen wie­sen dar­auf hin, wie auf­fal­lend güns­tig man­che Medi­en sich pos­tiert hat­ten: Dem­nach hat­te bei­spiels­wei­se das ZDF sei­nen Kame­ra­stand schon 90 Minu­ten vor dem Reichs­tags­sturm mit Blick auf den Reichs­tag aufgebaut.

Auch Atti­la Hild­mann mel­de­te sich nach dem Vor­fall am Reichs­tag zu Wort. Er bezeich­ne­te den Ver­an­stal­ter, Herrn Hoff­mann, als »suspekt«. Die­ser hät­te ihn über­re­det, am Reichs­tag zu spre­chen. Er sei in eine Fal­le gelockt wor­den, und eigent­lich hät­te er wohl das Signal für die Reichs­tags­stür­mung geben sol­len – aber so dumm sei er ja nicht. Es han­de­le sich beim Sturm auf den Reichs­tag um eine »Fal­se Flag« des Deep Sta­te, trotz­dem sei­en dabei his­to­ri­sche Bil­der entstanden.

Die polit­me­dia­le Auf­ar­bei­tung des »Stur­mes auf den Reichstag«

Die Bil­der vom Sturm auf den Reichs­tag gin­gen unmit­tel­bar nach dem Ereig­nis um die Welt. Zwi­schen dem Ereig­nis und der Quer­den­ken-Demons­tra­ti­on auf dem 17. Juni wur­de eine Ver­bin­dung her­ge­stellt, und fast aus­schließ­lich Bil­der vom Sturm auf den Reichs­tag, statt von der Stra­ße des 17. Juni ver­brei­tet, unter­malt vom Nar­ra­tiv eines wüten­den Mobs, der sich gewalt­sam Zutritt zum Gebäu­de ver­schaf­fen woll­te. Auf­ge­hal­ten wor­den sei die­ser zu Beginn ledig­lich von drei hel­den­haf­ten Poli­zei­be­am­ten, die ganz allein vor dem Gebäu­de stan­den und dem Sturm trotz­ten, weil nie­mand mit einem Sturm auf das Gebäu­de hät­te rech­nen kön­nen. Die BILD-Zei­tung über­trug die Bil­der von Räu­mung des Reichs­tags­ge­län­des live ins Stu­dio: BILD-Chef­re­por­ter Peter Hell war mit sei­nem Kame­ra­team direkt vor Ort. Der Tenor der Bericht­erstat­tung lau­te­te: Die Demons­tran­ten hät­ten ver­sucht, in das Gebäu­de hin­ein zu gelan­gen. Direkt vor Ort inter­view­te Hell den Poli­zei­spre­cher Thi­lo Cablitz. Auf die Fra­ge, wie es zu dem Sturm habe kom­men kön­nen, ant­wor­te­te die­ser, man kön­ne nicht über­all prä­sent sein. Die­se Lücke hät­ten die Demons­tran­ten genutzt, um auf das Reichs­tags­ge­bäu­de zu gelan­gen. Auch Spie­gelTV, die Welt und das ZDF waren jeweils mit einem Repor­ter­team vor Ort: Das Team von Frontal21 des ZDF stand zufäl­lig genau zum Zeit­punkt des Stur­mes in der Schei­de­mann­stra­ße und konn­te exklu­si­ve Auf­nah­men davon erstel­len.

In den dar­auf­fol­gen­den Tagen über­schlu­gen sich Poli­ti­ker und Medi­en­ver­tre­ter in eben­so erwart­ba­ren, wie aus­tausch­ba­ren Wort­hül­sen der Betrof­fen­heit über das Ereig­nis. Der dama­li­ge Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer erklär­te, »dass Chao­ten und Extre­mis­ten das Par­la­ments­ge­bäu­de für ihre Zwe­cke miss­brauch­ten, sei uner­träg­lich«, ohne zu erwäh­nen, dass die sei­tens sei­ner Behör­de erfor­der­li­che Geneh­mi­gung für die Ver­an­stal­tung gar nicht vor­lag, und er allen Grund gehabt hät­te, sei­ne Empö­rung direkt an die Ber­li­ner Behör­den zu addres­sie­ren. Der dama­li­ge Bun­des­fi­nanz­mi­nis­ter Olaf Scholz kri­ti­sier­te, Nazi-Sym­bo­le, Reichs­bür­ger- und Kai­ser­reich-Flag­gen hät­ten vor dem Par­la­ment nichts zu suchen. Der Vor­sit­zen­de der CDU-Frak­ti­on, Burk­hard Dreg­ger erklär­te, die Poli­zei sei »schlecht auf­ge­stellt gewe­sen«. Der SPD-Gene­ral­se­kre­tär Lars Kling­beil mein­te, nach den Gescheh­nis­sen vom Wochen­en­de müs­se jedem klar sein, mit wem er da mit marschiere.

Am 30. August, einen Tag nach dem Sturm auf den Reichs­tag, gab die Poli­zei Ber­lin eine Pres­se­mit­tei­lung (Nr. 2051) her­aus, in der sie unter ande­rem erklärte:

Um kurz nach 19 Uhr ström­te eine Viel­zahl an Per­so­nen aus dem Bereich Bran­den­bur­ger Tor kom­mend in Rich­tung Wie­se vor dem Reichs­tag. Um dies zu len­ken bezie­hungs­wei­se zu unter­bin­den, soll­ten für den Bereich Sim­son­weg Ecke Schei­de­mann­stra­ße Ein­satz­kräf­te zusam­men­ge­zo­gen wer­den. Die­se Pha­se nutz­te eine grö­ße­re Per­so­nen­grup­pe von etwa 300 bis 400 Per­so­nen, über­wand auf­ge­stell­te Absperr­git­ter und gelang­te so auf die Außen­trep­pe des Reichs­ta­ges. Wie durch den Pres­se­spre­cher der Poli­zei Ber­lin bereits im Ein­satz­ge­sche­hen mit­ge­teilt wur­de, haben die zur äuße­ren Siche­rung des Reichs­tags am Ort befind­li­chen Ein­satz­kräf­te unver­züg­lich reagiert und inter­ve­niert. Ein Ein­drin­gen in den Reichs­tag war den Per­so­nen daher nicht möglich.

Am Mon­tag, 31. August wur­den die »drei Hel­den vom Reichs­tag« – Poli­zei­haupt­kom­mis­sar Kars­ten Bonack, Poli­zei­ober­kom­mis­sar Tino Bes­ter und Poli­zei­kom­mis­sar Enes Ergin – im Schloss Bel­le­vue von Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er geehrt, sogar ein Bun­des­ver­dienst­kreuz stand zur Debat­te. Stein­mei­er nutz­te den Anlass zu einer Grund­satz­re­de für den »Kampf gegen rechts«:

Wir dul­den kei­ne anti­de­mo­kra­ti­sche Het­ze und kei­ne Her­ab­wür­di­gung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land am Bun­des­tag. Rechts­extre­mis­ti­sche Pöbe­lei­en und Gewalt bei der Demons­tra­ti­on am ver­gan­ge­nen Sams­tag in Ber­lin haben zurecht vie­le Men­schen erschreckt und empört. Wir wer­den sol­che Aus­schrei­tun­gen nicht hin­neh­men. Wer sich über die Coro­na-Maß­nah­men ärgert, oder ihre Not­wen­dig­keit anzwei­felt, kann und darf dage­gen demons­trie­ren. Mein Ver­ständ­nis endet aber dort, wo Demons­tran­ten sich vor den Kar­ren von Demo­kra­tie­fein­den und poli­ti­schen Het­zern span­nen las­sen. Wer auf den Stra­ßen den Schul­ter­schluss mit Rechts­extre­mis­ten sucht, aber auch wer nur gleich­gül­tig neben Neo­na­zis, Frem­den­fein­den und Anti­se­mi­ten her­läuft, wer sich nicht ein­deu­tig und aktiv abgrenzt, macht sich mit ihnen gemein.

Die meis­te Kri­tik der beim Sturm auf den Reichs­tag poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen erfuhr der dama­li­ge Ber­li­ner Innen­se­na­tor Andre­as Gei­sel. Zahl­rei­che Abge­ord­ne­te kri­ti­sier­ten sein sub­op­ti­ma­les Manage­ment des Demo­ta­ges in Ber­lin. Der par­tei­lo­se Abge­ord­ne­te Mar­cel Luthe mein­te, die Bil­der vor dem Reichs­tag hät­te nur ent­ste­hen kön­nen, weil die poli­ti­sche Füh­rung ihre Haus­auf­ga­ben nicht gemacht hät­te. Der Poli­zei sei es nicht gelun­gen, ent­schlos­sen gegen Neo­na­zi­ka­der vor­zu­ge­hen und Bun­des­recht durch­zu­set­zen. Für die­se »Schlam­pe­rei« trü­ge der Innen­se­na­tor die allei­ni­ge poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung, denn die Geset­zes­la­ge sei gemäß Luthe klar: Eine nicht geneh­mig­te Ver­samm­lung hät­te gar nicht erst eine Büh­ne bekom­men dür­fen, wenn der Innen­se­na­tor sei­nen Job gemacht hät­te. Dem­zu­fol­ge sei die Ent­ste­hung der Bil­der »ent­we­der poli­zei­tak­ti­schem Unver­mö­gen oder poli­ti­scher Absicht geschul­det«. Innen­se­na­tor Andre­as Gei­sel wies Vor­wür­fe zurück, die Ber­li­ner Poli­zei sei nicht aus­rei­chend vor­be­rei­tet gewesen:

Ich bedau­re zutiefst, dass es die­se Bil­der gege­ben hat. Es ist nicht so, dass der Deut­sche Bun­des­tag schutz­los gewe­sen ist. Das hat auch der Bun­des­tags­prä­si­dent, Herr Schäub­le ges­tern Abend in einem Inter­view noch­mals deut­lich gemacht. Dort stand Poli­zei, deren Lini­en ist durch­bro­chen wor­den. Dann stan­den drei Poli­zis­ten auf den Stu­fen des Reichs­ta­ges und kurz danach kamen die ent­spre­chen­den Entlastungskräfte.

In einem Inter­view des RBB-Info­ra­dio wur­de Gei­sel gefragt, war­um offen­bar nie­mand einen Sturm auf das Par­la­ments­ge­bäu­de in Erwä­gung gezo­gen hät­te. Gei­sel antwortete:

Das ist in Erwä­gung gezo­gen wor­den. Selbst­ver­ständ­lich ist das Par­la­ment geschützt wor­den. Es hat in der Stra­ße Unter den Lin­den kurz vor der Rus­si­schen Bot­schaft, gewalt­tä­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen gege­ben. Fla­schen­wür­fe, Stein­wür­fe, ver­letz­te Men­schen, über 200 Fest­nah­men. Die Poli­zei dort brauch­te Ver­stär­kung und dann hat es eine Ver­schie­bung von Kräf­ten gege­ben. Wie gesagt, das war ein Moment von einer, zwei Minu­ten, und das ist aus­zu­wer­ten, weil, wie gesagt, die­se Bil­der auf den Stu­fen des Reichs­tags sind beschä­mend. Aber es war nicht so, dass der Deut­sche Bun­des­tag nicht geschützt gewe­sen war. (…) Es ist ja nicht so, dass alles frei war und kei­ne Poli­zei da war, son­dern die Demons­tran­ten haben die­se Poli­zei­ket­te über­rannt und die Ent­las­tung durch die ande­ren Poli­zis­ten erfolg­te unmit­tel­bar danach.

Die­se Aus­sa­gen Gei­sels waren nach­weis­lich gelo­gen, da sämt­li­che Video­streams vom Reichs­tags­sturm zei­gen, dass im Augen­blick des Stur­mes der Reichs­tag voll­kom­men unge­si­chert war – und dies bereits spä­tes­tens 16.30 Uhr – also min­des­tens schon seit zwei­ein­halb Stun­den vor dem Sturm, und nicht nur für ein Zeit­fens­ter von »ein, zwei Minu­ten«. Eine »Poli­zei­ket­te«, von der Gei­sel fabu­lier­te, hat­te es zum betref­fen­den Zeit­punkt vor dem Reichs­tags­ge­bäu­de nicht gege­ben. Es stan­den zwar zwei Beam­te unten am Vor­platz des Reichs­ta­ges, die­se wur­den jedoch nicht über­rannt, son­dern ent­fern­ten sich im Moment des Stur­mes unauf­fäl­lig vom Ort des Gesche­hens. Gei­sel behaup­te­te zudem, der Reichs­tag sei zu kei­nem Zeit­punkt unge­schützt gewe­sen, aber man habe Kräf­te abzie­hen müs­sen zur Rus­si­schen Bot­schaft, die dann am Reichs­tag nicht zur Ver­fü­gung stan­den. Die Ein­satz­hun­dert­schaft, die gedul­dig war­tend süd­lich vom Reichs­tag am Sim­son­weg stand und wie auf Kom­man­do zum Reichs­tag lief, sobald die Trep­pe besetzt war, erwähn­te Gei­sel mit kei­nem Wort.

In einer am Mon­tag, 31.08. statt­fin­den­den Pres­se­kon­fe­renz des Innen­aus­schus­ses setz­ten Innen­se­na­tor Gei­sel, die Ber­li­ner Poli­zei­prä­si­den­tin Bar­ba­ra Slo­wik und Ein­satz­lei­ter Ste­phan Kat­te ihre Wahr­heits­ver­dre­hun­gen über den Reichs­tags­sturm fort. Die Ber­li­ner Poli­zei­prä­si­den­tin Bar­ba­ra Slo­wik ver­si­cher­te, man wer­de künf­tig »noch deut­li­cher, noch enger Absperr­li­ni­en zum Reichs­tag schüt­zen« – was in Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass zum Moment des Reichs­tags­stur­mes dort seit Stun­den über­haupt nie­mand stand, kei­ne beson­de­re Her­aus­for­de­rung dar­stel­len dürf­te. Des Wei­te­ren behaup­te­te sie, Demons­tran­ten hät­ten süd­lich vom Tier­gar­ten kom­mend »Absperr­git­ter nie­der­ge­ris­sen« und die Beam­ten wären damit beschäf­tigt gewe­sen, die­se zu sichern. Video­auf­nah­men kurz vor dem Sturm zei­gen jedoch, wie Trau­ben von Men­schen vom Sim­son­weg kom­mend unge­hin­dert die Schei­de­mann­stra­ße gen Reichs­tag pas­sie­ren, obwohl fak­tisch genug Beam­te zur Absi­che­rung vor Ort gewe­sen wären. Von etwa 17:30 Uhr bis 18:30 Uhr hal­ten die Beam­ten die Men­schen an der geöff­ne­ten Absper­rung nicht auf, son­dern ste­hen reg­los dane­ben, als die­se in Scha­ren zum Reichs­tag strö­men. Der Ein­satz­lei­ter der Poli­zei, Ste­phan Kat­te, gab selbst zu, es sei­en »grund­sätz­lich Kräf­te genug« vor Ort gewe­sen: 250 Poli­zis­ten hät­ten sich rund um den Reichs­tag im Ein­satz befun­den. Natür­lich habe die Poli­zei von Auf­ru­fen, den Reichs­tag zu stür­men, seit Jah­ren gewusst, so Kat­te. »Aber die wie­der­ho­len sich in einer Viel­fäl­tig­keit, dass wir auch abwä­gen müs­sen, wie ernst­haft das an der einen oder ande­ren Stel­le ist.« Der Ver­ein »Staa​ten​los​.info«, der die Ver­an­stal­tung vor dem Reichs­tag abhielt, sei der Poli­zei schon lan­ge bekannt.

Von Kri­tik an ihrer Hand­ha­bung des Ber­li­ner Pro­test­ge­sche­hens zeig­ten sich Herr Gei­sel, Frau Slo­wik und Herr Kat­te bemer­kens­wert unbe­ein­druckt. Sie erklär­ten ihr Bedau­ern, ver­wie­sen jedoch auf kurz­fris­ti­ge, unglück­li­che Umstän­de. Man habe nicht ahnen kön­nen, dass die Auf­for­de­run­gen zum Sturm des Reichs­ta­ges dies­mal wirk­lich ernst wer­den würden.

Am Diens­tag nach dem Sturm auf den Reichs­tag inter­view­te das RBB-Info­ra­dio Poli­zei­haupt­kom­mis­sar Kars­ten Bonack. Er schil­der­te sei­nen Ein­druck, der »Mob« auf der Trep­pe hät­te wirk­lich vor­ge­habt, in den Reichs­tag zu gelan­gen. Das hät­te es zu ver­hin­dern gegol­ten. Man stel­le sich nur vor, an dem berühm­ten Bal­kon, an dem Phil­ipp Schei­de­mann die Repu­blik aus­ge­ru­fen hat­te, wären Reichs­kriegs­flag­gen auf­ge­taucht. Zum Ein­satz­kon­zept ins­ge­samt kön­ne er kei­ne Anga­ben machen. Auf die Fra­ge, ob man schon im Vor­feld die Befürch­tung haben muss­te, dass es zu einem Sturm auf den Reichs­tag kom­men könn­te, ant­wor­te­te er:

Nein, also, es kam für uns abso­lut über­ra­schend. Für uns am Ort sel­ber gab es kei­nen Hin­weis, expli­zit wo man jetzt sagen könn­te, naja, schon seit einer hal­ben Stun­de reden die von der Erstür­mung des Reichs­ta­ges. Das war nicht der Fall. Und somit war wirk­lich eine Situa­ti­on, mit der wir so nicht gerech­net haben.

Dies ist ent­we­der eine Falsch­aus­sa­ge, oder man muss anneh­men, dass Poli­zei­haupt­kom­mis­sar Kars­ten Bonack für eine Gefah­ren­ab­wä­gung in kom­ple­xen Ein­satz­la­gen hoch­gra­dig unge­eig­net ist. Den gesam­ten Nach­mit­tag lang wur­de von der Reichs­bür­ger­büh­ne aus offen und laut­stark ange­kün­digt, dass man das Reichs­tags­ge­bäu­de »zurück­er­obern« wer­de. Auch ist schwer vor­stell­bar, dass man den ver­ant­wort­li­chen Poli­zei­haupt­kom­mis­sar für den Bereich rund um den Reichs­tag nicht über die im Netz kur­sie­ren­den Auf­ru­fe zum Sturm auf den Reichs­tag am 29. August infor­miert hatte.

Sicher nur eine Rand­no­tiz, aber durch­aus erwäh­nens­wert in die­sem Zusam­men­hang ist, dass Herr Bonack neben sei­ner Haupt­tä­tig­keit als Poli­zei­be­am­ter auch Schau­spie­ler ist. Er trat in der Poli­zei-Rea­li­ty-Sen­dung »Ach­tung Kon­trol­le!« auf. Zu sei­ner Ver­tei­di­gung ist zu sagen, dass es sich hier­bei ledig­lich um einen Neben­job han­delt – haupt­be­ruf­lich ist Herr Bonack Poli­zist. Als Poli­zei­haupt­kom­mis­sar sichert er mit sei­ner Ein­satz­trup­pe den anspruchs­vol­len Abschnitt A54 und hat wohl beacht­li­che Erfol­ge bei der Ein­däm­mung der Dro­gen­kri­mi­na­li­tät am Kott­bus­ser Tor vor­zu­wei­sen, wie in einer SternTV-Repor­ta­ge fest­ge­hal­ten wur­de. Auch bei Räu­mun­gen lin­ker Wohn­pro­jek­te darf der Spe­zia­list für beson­de­re Ein­satz­la­gen mit »Street Credibility«-Faktor nicht fehlen.

Eine Woche spä­ter, am Mitt­woch, 09. Sep­tem­ber 2020 wur­de die staat­li­che Hul­di­gung der drei hel­den­haf­ten Beam­ten im Bun­des­tag fort­ge­setzt: Im Bun­des­tag dank­te der dama­li­ge Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le den drei Poli­zei­be­am­ten stell­ver­tre­tend für die gesam­te Poli­zei. In der Pres­se wur­de kom­men­tiert, dass Abge­ord­ne­te der AfD die Ehrung der drei Beam­ten sabo­tier­ten, da die­se osten­ta­tiv nicht klatsch­ten und auf ihren Plät­zen sitzenblieben.

Am glei­chen Tag fand der Ver­fas­sungs­schutz-Aus­schuss des Ber­li­ner Abge­ord­ne­ten­hau­ses statt, in dem Behör­den­lei­ter Micha­el Fischer jeg­li­che Ver­säum­nis­se des Ver­fas­sungs­schut­zes am 29. August 2020 weit von sich wies. Der Reichs­tags­sturm sei nicht vor­her­seh­bar gewe­sen. Ver­ba­le Auf­ru­fe zum Sturm auf den Reichs­tag sei­en zwar in die Lage­be­wer­tung der Poli­zei im Vor­feld des 29. August mit ein­ge­flos­sen, die­se sei­en jedoch »sze­ne­ty­pisch« gewe­sen. Die Poli­zei hät­te von der rus­si­schen Bot­schaft kom­men­de Demons­tran­ten auf­hal­ten müs­sen und sei daher an zwei Fron­ten gefor­dert gewe­sen. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass der Reichs­tag schon Stun­den vor dem besag­ten, angeb­li­chen »Zustrom« von der Rus­si­schen Bot­schaft unbe­wacht war, ist die­ses Argu­ment als eben­so halt­los zurück­zu­wei­sen, wie ähn­li­che, zuvor im Ber­li­ner Innen­aus­schuss getä­tig­te Verlautbarungen.

Der Jour­na­list Boris Reit­schus­ter erkun­dig­te sich bezüg­lich der auf dem Dach des Paul-Löbe-Hau­ses pos­tier­ten Kame­ra und Poli­zei­be­am­ten bei der Pres­se­stel­le des Bun­des­tags. Er erhielt auf sei­ne Anfra­ge die viel- und nichts­sa­gen­de Ant­wort, die Beam­ten hät­ten dort »eine eige­ne Auf­ga­be wahr­ge­nom­men«. Für wei­te­re Fra­gen ver­wei­se man auf die Pres­se­stel­le der Ber­li­ner Polizei.

Kri­ti­sche Stim­men aus den »eige­nen Rei­hen« im Hin­blick auf die Poli­zei­tak­tik des 29. August kamen unter ande­rem aus der Gewerk­schaft der Poli­zei (GdP): »Wir brau­chen nicht dar­über zu reden, dass am gest­ri­gen Demo-Sams­tag poli­zei­lich gese­hen nicht alles opti­mal lief«, so der Ber­li­ner GdP-Vize Ste­phan Kelm. Auch Pro­fes­sor Micha­el Kna­pe, ein ehe­ma­li­ger Direk­tor der Ber­li­ner Poli­zei, sprach von kla­ren tak­ti­schen Feh­lern der Ein­satz­lei­tung vor dem Reichs­tag. Man hät­te im Min­des­ten eine Hun­dert­schaft vor dem Gebäu­de posi­tio­nie­ren müs­sen, um so die Chan­cen­lo­sig­keit einer Stür­mung von vorn­her­ein zu ver­deut­li­chen. Gemäß der »Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft kri­ti­sche Poli­zis­ten« habe es sich bei der Reichs­tags­stür­mung »mit hoher Wahr­schein­lich­keit um eine staat­li­che Insze­nie­rung gehan­delt«, so der Spre­cher der Arbeits­ge­mein­schaft, Tho­mas Wüp­pe­sahl, in einem Inter­view mit Sput­nik. In einem auf der Web­sei­te der BAG Kri­ti­sche Poli­zis­ten erschie­ne­nen Kom­men­tar hieß es:

Den Ein­satz­ab­schnitt ›Äuße­re Sicher­heit des Dt. Bun­des­tags‹ gibt man einem erfah­re­nen Poli­zei­füh­rer. Das ist nicht irgend­ein Stre­cken­ab­schnitt oder Ver­gleich­ba­res zum Üben. (…) Die Ver­ant­wor­tung liegt selbst­re­dend zu aller­erst bei den Teil­neh­me­rIn­nen die­ser Kami­ka­ze-Akti­on; jedoch dicht gefolgt von die­sem Poli­zei­ein­satz­ab­schnitt und evtl. auch V‑Mann-Füh­re­rIn­nen, wie schon beim NSU und ande­ren casi. (…) Und damit spre­chen wir in fach­lich iro­ni­scher bis zyni­scher Form unse­re herz­li­chen Glück­wün­sche dafür aus, dass durch stüm­per­haf­te Poli­zei­ar­beit (oder doch kal­ku­lier­tes Lan­ge-Lei­ne-las­sen?), die Pro­gno­se des Innen­se­na­tors bestä­tigt wer­den konn­te. (…) Man muss kein wirk­li­cher Poli­zei­ken­ner sein, um Klar­heit zu haben, dass auf­grund der Her­kunft des zusam­men­ge­setz­ten Per­so­nen­krei­ses aller Demons­tra­tio­nen ges­tern Mit­tag, Nach­mit­tag und Abend aus den ver­schie­de­nen Län­der­po­li­zei­en sowie der Bun­des­po­li­zei­en, aber gera­de auch den LfV´s, dut­zen­de V‑Leute vor Ort in Ber­lin waren. Das geht gar nicht anders. Gera­de bei den Rechts­extre­mis­tIn­nen, aber nach wie von auch bei der NPD, der AfD (…) muss­ten die Spit­zel mit­fah­ren, um in ihren Ope­ra­ti­ons­ge­bie­ten nicht dumm auf­zu­fal­len. (…) Wir wol­len wis­sen: 1. In wel­cher Rol­le? 2. Mit wel­chen Tat­hand­lun­gen? 3. Von wel­chen Behörden?

Die Anfra­ge der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft »Kri­ti­sche Poli­zis­ten« blieb selbst­re­dend bis heu­te unbe­ant­wor­tet. Die Selbst­ge­fäl­lig­keit eines Staa­tes, der zu kei­ner Feh­ler­kul­tur mehr imstan­de ist, zeigt sich in den Lob­hu­de­lei­en auf die angeb­li­chen drei hel­den­haf­ten Poli­zei­be­am­ten nach dem Reichs­tags­sturm wie in einem Brenn­glas: Objek­tiv betrach­tet wäre eigent­lich eine Abmah­nung der Beam­ten auf­grund von mas­si­ven Ver­säum­nis­sen beim Schutz des befrie­de­ten Bereichs ange­bracht gewe­sen – statt­des­sen erging man sich in lie­ber einer Selbst­be­weih­räu­che­rung und Feti­schi­sie­rung des eige­nen Beam­ten­ap­pa­rats, ohne auf einer bedin­gungs­lo­sen Auf­ar­bei­tung eige­ner Ver­säum­nis­se zu bestehen. Ein sol­ches Sys­tem stellt einen per­fek­ten Nähr­bo­den für einen straf­lo­sen Miss­brauch der Poli­zei durch nach­rich­ten­dienst­li­che Inter­es­sen dar.

Die zen­tra­len Prot­ago­nis­ten des Sturms: Tama­ra Kirsch­baum, Gun­nar Wunsch und mut­maß­li­che V‑Leute

In der Pres­se­kon­fe­renz des Ber­li­ner Senats am 31. August 2020 hat­te die Ber­li­ner Poli­zei­prä­si­den­ten Bar­ba­ra Slo­wik noch behaup­tet, bei der Agi­ta­to­rin zum Sturm auf den Reichs­tag han­de­le es sich um eine »unbe­kannt geblie­be­ne Spre­che­rin«. Dies stellt eine Falsch­be­haup­tung dar, da zu die­sem Zeit­punkt der Pres­se die Iden­ti­tät von Tama­ra Kirsch­baum längst bekannt war. Kirsch­baum gab diver­sen Medi­en tele­fo­ni­sche Inter­views. So sag­te sie etwa gegen­über dem Spie­gel, der Sturm sei einer beson­de­ren Stim­mung geschul­det gewe­sen: Sie hät­ten vor Ort die Info erhal­ten, Prä­si­dent Trump sei in der Stadt, was sich im Nach­hin­ein als Fehl­in­for­ma­ti­on her­aus­ge­stellt hät­te. Der Auf­ruf zur Reichs­tags­trep­pen­be­set­zung sei eine spon­ta­ne Akti­on gewe­sen. Auf der Trep­pe hät­te kein Poli­zist mehr gestan­den, und die Poli­zis­ten hät­ten ihre Hel­me abge­setzt, was sie als Signal gedeu­tet hät­te, dass man jetzt da hoch­dür­fe. Zu einer Erstür­mung des Gebäu­des habe sie aber nicht auf­ge­ru­fen. Gegen­über dem Tages­spie­gel zeig­te sich Kirsch­baum zunächst auch noch über­zeugt davon, es sei kei­ne Fehl­in­for­ma­ti­on gewe­sen, dass Trump in Ber­lin gewe­sen sei. Ihre Infor­man­ten hät­ten dazu ein­deu­ti­ge Bewei­se gelie­fert: So hät­ten etwa die Höhe der ame­ri­ka­ni­schen Flag­ge am Fah­nen­mast der US-Bot­schaft oder die Beleuch­tung des Bot­schafts­ge­bäu­des unzwei­fel­haft dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Trump da sei.

Noch am Abend nach dem Sturm auf den Reichs­tag trat Kirsch­baum mit hei­se­rer Stim­me in einem Live­stream des QAnon-Kanals »Bewusst­SEINs­hel­den im Gespräch« (Ori­gi­nal­vi­deo inzwi­schen gelöscht) auf und behaup­te­te, die gan­ze Akti­on vor dem Reichs­tag sei im Vor­feld mit der Poli­zei abge­spro­chen gewesen:

Ein Infor­mant von uns kam an. Die ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaft ist abge­rie­gelt, hell erleuch­tet. Die Fah­ne ist ganz oben und Trump ist da. Das ist nur, wenn Trump da ist. Das war die Infor­ma­ti­on von einem Infor­man­ten von uns, auf den ich mich eigent­lich sonst immer ver­las­sen kann. (…) So, sag­te er, wir müs­sen jetzt han­deln. Der war­tet auf uns. Er möch­te sehen, dass das deut­sche Volk bereit ist, für sich ein­zu­ste­hen. Und da die ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaft bereits geräumt war, bezie­hungs­wei­se wir da gar nicht mehr her­an­ge­kom­men wären, die war ja wahn­sin­nig her­me­tisch abge­rie­gelt – dann halt Reichs­tag. (…) Und es war tat­säch­lich auch so, dass es abge­spro­chen wur­de mit der Poli­zei, wir haben auch dahin Kon­tak­te. Wenn die ihre Hel­me aus­zie­hen und sich qua­si vom Gebäu­de ent­fer­nen, dann ist das unser Start­schuss. Das heißt, sie haben uns den Weg frei­ge­macht. Wir ste­hen mit denen direkt in Kon­takt. Und dann kam noch die Info von unse­rem Infor­man­ten, dass Trump war­tet. Er hat nur noch eine hal­be Stun­de Zeit. Es muss­te alles wahn­sin­nig schnell passieren.

In den dar­auf­fol­gen­den Tagen und Wochen wur­de Tama­ra Kirsch­baum in den »alter­na­ti­ven Medi­en« her­um­ge­reicht. Mehr Details über Gun­nar Wunsch und Tama­ra Kirsch­baum kamen ans Tages­licht: Tama­ra sei frü­her auf Anti­fa-Demos gewe­sen und seit eini­gen Jah­ren bei den Gelb­wes­ten aktiv, die laut Tages­spie­gel-Recher­chen den Reichs­bür­gern nahe­ste­hen. Zu die­sem Zweck sei sie auch schon­mal in Paris gewe­sen und hät­te sich dort vor Ort viel abge­schaut. Die Gelb­wes­ten Ber­lin hät­ten sie öfter als Red­ne­rin nach Ber­lin ein­ge­la­den. Kirsch­baum blieb bei ihrer Ver­si­on: Sie hät­te Kon­tak­te in die Poli­zei und den Sicher­heits­ap­pa­rat hin­ein gehabt. Die gan­ze Akti­on sei mit der Poli­zei abge­spro­chen gewe­sen. Das ver­ein­bar­te Zei­chen sei gewe­sen: Wenn die Hel­me abge­nom­men und die Trep­pen zum Reichs­tag frei sei­en, sei ihr Zei­chen gekom­men. Dann kön­ne man die Reichs­tags­trep­pen stürmen.

In den Rei­hen der Oppo­si­ti­on ver­brei­te­te sich als­bald der Ver­dacht, bei Tama­ra Kirsch­baum han­de­le es sich um eine V‑Frau, eine Agen­tin des Ver­fas­sungs­schut­zes, weil sie den Fokus von einem fried­li­chen Demo­tag hin zu einer unnö­ti­gen und schäd­li­chen Eska­la­ti­on gelei­tet hat­te, und damit der Bewe­gung gescha­det hät­te. Wer so han­de­le, über Poli­zei­kon­tak­te ver­fü­ge und der Bewe­gung Scha­den zuge­fügt habe, der müs­se für die Regie­rung arbei­ten, so der sich durch­set­zen­de Tenor. Befeu­ert wur­de die­ser Ver­dacht durch die Tat­sa­che, dass der Spre­cher des Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren, Ste­ve Alter, auf der Bun­des­pres­se­kon­fe­renz am Mon­tag, 31. August den Ein­satz von V‑Leuten am 29. August nicht aus­schloss. Nach der Betei­li­gung von V‑Leuten am 29. August 2020 gefragt, gab er zur Antwort:

Also, wir haben kei­ne wei­te­ren Infor­ma­tio­nen dar­über, wer, wann, wo im Ein­satz gewe­sen ist. Es ist eine Ein­satz­la­ge der Ber­li­ner Poli­zei gewe­sen. Aber Sie kön­nen davon aus­ge­hen, ins­be­son­de­re bei der Pro­gno­se der Ber­li­ner Behör­den auch in der ver­gan­ge­nen Woche, dass ALLE Behör­den, die eine recht­li­che Zustän­dig­keit haben, auch im Ein­satz gewe­sen sind.

Doch macht die Tat­sa­che, dass Kirsch­baum zum Sturm auf den Reichs­tag auf­rief, die­se damit auto­ma­tisch zu einer V‑Frau? Wäre es aus Sicht des Ver­fas­sungs­schut­zes über­haupt schlau, eine inof­fi­zi­el­le Mit­ar­bei­te­rin zu opfern, die sich danach den kri­ti­schen Fra­gen der Medi­en­öf­fent­lich­keit stel­len muss? Wür­de man sich in einer sol­chen poli­tisch bri­san­ten Situa­ti­on auf die Schau­spiel­küns­te einer staat­li­chen Mit­ar­bei­te­rin ver­las­sen kön­nen? Als Ein­satz­stra­te­gie erscheint dies äußerst unwahr­schein­lich. Ange­nom­men, Tama­ra Kirsch­baum wäre eine V‑Frau, dann hät­te sie in zahl­rei­chen Inter­views nach dem Sturm eine oskar­rei­fe Leis­tung dar­ge­bo­ten. Eine über­zeu­gen­de­re Erklä­rung ist wohl eher, dass Kirsch­baum die Geschich­te von Donald Trump in der Bot­schaft wirk­lich geglaubt hat­te, weil es in ihr Welt­bild pass­te. Kirsch­baum steht der QAnon-Ideo­lo­gie nahe. In die­ser ist Donald Trump der Erlö­ser, der irgend­wann vor­bei­kom­men und alles rich­ten wird. Das QAnon-Phä­no­men stammt aus der Chan-Sze­ne, wo sich ein anony­mer Infor­mant, ein »Anon«, als hoher Beam­ter des Geheim­diens­tes aus­ge­ge­ben hat­te und Stück für Stück angeb­li­che »Infor­ma­tio­nen zum Deep Sta­te« ver­öf­fent­lich­te – die soge­nann­ten »Q‑Drops«, Fet­zen der »Wahr­heit« für die Anhän­ger der Q‑Ideologie, einem kul­ti­schen Sakra­ment glei­chend. In Deutsch­land ist die Reichs­bür­ger­sze­ne von seit gerau­mer Zeit von QAnon infil­triert wor­den. Kirsch­baum glaub­te am 29. August 2020 tat­säch­lich, der lang­ersehn­te Tag sei gekom­men, an dem Deutsch­land end­lich einen Frie­dens­ver­trag unter­schrei­ben und sou­ve­rän wer­den wür­de. Es hän­ge jetzt alles nur noch von ihr ab. Sie wähn­te sich im direk­ten Draht mit dis­si­den­ten Kräf­ten inner­halb des Poli­zei­ap­pa­rats, die auch einen Umsturz her­bei­füh­ren woll­ten. Aus Kirsch­baums Per­spek­ti­ve her­aus durf­te das Nar­ra­tiv durch­aus Sinn gemacht haben: Schließ­lich war an jenem Tag schon Robert F. Ken­ne­dy Juni­or, der Nef­fe des berühm­ten J.F. Ken­ne­dy in der Stadt – war­um also nicht auch gleich Donald Trump? Wer Kirsch­baums »Kon­tak­te« in den Poli­zei­ap­pa­rat hin­ein gewe­sen sein sol­len, hat sie bis heu­te nicht berich­tet, da nie gezielt nach­ge­fragt wur­de. Ange­nom­men, es hät­te tat­säch­lich sol­che Kon­tak­te gege­ben, wären da poten­ti­ell Men­schen gewe­sen, die Kirsch­baum per­fekt hät­ten mani­pu­lie­ren kön­nen – damit sie ihre Rol­le, ohne es zu wis­sen, mög­lichst gut aus­füll­te. Es besteht der begrün­de­te Ver­dacht, dass Kirsch­baum für die Rol­le der Agi­ta­to­rin benutzt wur­de – denn was gibt es Prak­ti­sche­res, als der Pres­se am Ende eine Eso­te­ri­ke­rin mit Dre­ad­locks vor­zu­füh­ren zu kön­nen, die noch nicht ein­mal lügen muss? Für die Pres­se ist an die­ser Stel­le der Fall been­det: Ein ver­wirr­te Per­son, so ken­nen wir sie halt, die Schwurb­ler. Case closed. 

In ihrem letz­ten öffent­li­chen Inter­view bei Com­pact kon­kre­ti­sier­te Kirsch­baum, wer am 29. August das Trump-Gerücht in die Welt gesetzt hat­te: Ein gewis­ser »Mar­cel« – sie wis­se nicht, ob dies sein rich­ti­ger Name ist – sei schon am Vor­tag und am Tag des Stur­mes immer wie­der in ihrer Nähe gewe­sen und hät­te im ent­spre­chen­den Moment das Trump-Gerücht ver­brei­tet. Er behaup­te­te dem­nach wohl, er selbst hät­te Trump soeben in der Bot­schaft gese­hen. Die­ser sei stink­sauer, dass hier noch nichts pas­sie­re. Sie sei lei­der auf die Panik, die die­ser Mann ver­brei­tet hat­te, her­ein­ge­fal­len. Im Nach­hin­ein habe sie erfah­ren, dass »Mar­cel« auch unter dem Namen »John­John« unter­wegs sei und sich als Nach­fah­re Ken­ne­dys aus­ge­be. Er sei auch zeit­gleich mit Robert F. Ken­ne­dy Juni­or in der Stadt ange­kom­men. Sie geht rück­bli­ckend davon aus, dass er V‑Mann ist, aber ganz genau wis­se sie es aber nicht. Auf die Fra­ge hin, ob es mög­li­cher­wei­se bei den »Gel­ben Wes­ten Ber­lin« auch V‑Leute gäbe, ant­wor­tet ihr Part­ner Gun­nar Wunsch, das kön­ne sehr gut sein – von einer Per­son, die am 29. August dabei war – einem gewis­sen »Kai Uwe« (Nach­na­me zen­siert) – wis­se man es inzwischen.

Eine Inter­view­an­fra­ge sei­tens der Autorin des Tex­tes lehn­te Kirsch­baum ab, berich­te­te aber, dass sie mit ihrer Fami­lie das Land ver­las­sen und im Aus­land unter­ge­taucht sei. Es stand zur Debat­te, dass sie in Deutsch­land im Zuge des Stur­mes auf den Reichs­tag das Sor­ge­recht für ihre Kin­der ver­liert, was sie ver­hin­dern woll­te. Nach ihren schlech­ten Erfah­run­gen mit der Pres­se sei sie zu Pres­se­ge­sprä­chen nicht mehr bereit. Sie wol­le ihre Ruhe haben.

In der Pres­se wur­de in den fol­gen­den Wochen dar­auf ver­laut­bart, die Poli­zei habe tau­sen­de Stun­den Video­ma­te­ri­al aus­ge­wer­tet und ver­sucht, die Iden­ti­tät der Teil­neh­mer des Reichs­tags­stu­mes fest­zu­stel­len. Infol­ge­des­sen gab es eine grö­ße­re Anzahl von cir­ca 300 Ermitt­lun­gen, bei denen jedoch nur in 88 Fäl­len ein Tat­ver­däch­ti­ger fest­ge­stellt wer­den konn­te, wobei die zur Last geleg­ten Taten größ­ten­teils nicht unmit­tel­bar bei der Reichs­tags-Stür­mung began­gen wur­den. Von jenen 88 Fäl­len wur­den in 70 Pro­zent die Ver­fah­ren ein­ge­stellt. Wirk­li­che Ver­ur­tei­lun­gen erfolg­ten bis­lang nur in drei Fäl­len. Zudem gab es ein Leck bei der Ber­li­ner Poli­zei: Als die Ermitt­lungs­grup­pe »EG Quer« ein hal­bes Jahr nach dem Sturm auf den Reichs­tag ihre Ermitt­lun­gen inten­si­vier­te und einen inter­nen Fahn­dungs­auf­ruf nach 400 Prot­ago­nis­ten des Stur­mes im poli­zei­in­ter­nen Intra­net ver­brei­te­te, zu dem etwa 20.000 Poli­zis­ten Zugang haben, gelang­te die Info über einen BZ-Poli­zei­re­por­ter an die Öffent­lich­keit. In rechts­extre­men Chat­grup­pen wur­de umge­hend die War­nung ver­brei­tet, man möge sei­ne Woh­nung für den Fall einer Haus­durch­su­chung prä­pa­rie­ren. Die Poli­zei behaup­te­te nach dem Sturm, auch gegen Kirsch­baum wür­de nun wegen »auf­wieg­le­ri­schem Lan­des­frie­dens­bruch« ermit­telt. Von besag­tem Ver­fah­ren war seit­her jedoch weder von Kirsch­baum, noch der Sei­te der Behör­den aus jemals wie­der etwas zu hören.

Ist der mas­si­ve Ein­satz von eige­nen V‑Leuten der Grund dafür, dass ernst­haf­te Ermitt­lun­gen und Ver­ur­tei­lun­gen in gro­ßem Umfang aus­blie­ben? Möch­te man mög­li­cher­wei­se nicht, dass Kirsch­baum vor Gericht aus­sagt, wer ihr Infor­mant war? Waren es staat­li­che V‑Leute, die mit Mega­fo­nen aus­ge­stat­tet, als Ord­ner in gel­ben Wes­ten, über Stun­den mög­lichst vie­le Teil­neh­mer der ande­ren Demons­tra­ti­on zum Reichs­tag hin­über­lock­ten? Auf dem Reichs­tags­ge­län­de wur­den nach dem Sturm kaum Per­so­na­li­en auf­ge­nom­men. Auch Tama­ra Kirsch­baum und ihr Beglei­ter Gun­nar Wunsch wur­den am Ver­an­stal­tungs­ge­län­de nicht zur Per­so­na­li­en­fest­stel­lung fes­ge­setzt, obwohl die­se den Sturm auf­ge­wie­gelt und somit for­mal gese­hen schwe­ren Lan­des­frie­dens­bruch began­gen hat­ten. Ist all dies unter­blie­ben, weil sonst nach­voll­zieh­bar gewe­sen wäre, wie­vie­le zivi­le Kräf­ten an dem Event betei­ligt waren – und mög­li­cher­wei­se sogar aktiv teil­ge­nom­men haben?

Zur Rol­le des Ver­fas­sungs­schut­zes in Deutschland

Die Fra­ge, ob der Ver­fas­sungs­schutz in den Sturm auf den Reichs­tag ver­wi­ckelt war, oder die­sen mög­li­cher­wei­se sogar selbst ange­stif­tet hat­te, wovon vie­le Exper­ten aus­ge­hen, ist nicht tri­vi­al, son­dern ange­sichts der hoch­um­strit­te­nen, 72‑jährigen Geschich­te des Ver­fas­sungs­schut­zes in Deutsch­land von hoher Relevanz.

Die Lis­te schwe­rer Ver­bre­chen, in die der deut­sche Ver­fas­sungs­schutz ver­wi­ckelt ist, ist lang. Um nur eini­ge beson­ders pro­mi­nen­te Bei­spie­le zu nen­nen: In den 1960er und 70er Jah­ren ver­sorg­te der V‑Mann Peter Urbach links­ter­ro­ris­ti­sche Grup­pie­run­gen wie die RAF oder die Bewe­gung 2. Juni mit Schuss­waf­fen, Molo­tow­cock­tails, sowie Spreng- und Brand­bom­ben, und trug somit maß­geb­lich zur Mili­ta­ri­sie­rung und Kri­mi­na­li­sie­rung des lin­ken Pro­test­spek­trums der 68er Gene­ra­ti­on bei. Eine von Urbach gelie­fer­te Bom­be wur­de am 9. Novem­ber 1969 für einen fehl­ge­schla­ge­nen Anschlag auf jüdi­sches Gemein­de­haus in West-Ber­lin ver­wen­det. Als sei­ne Iden­ti­tät bekannt wur­de, besorg­te ihm der Ver­fas­sungs­schutz eine neue und brach­te ihn außer Lan­des. Bis heu­te gibt es dazu kei­ne Stel­lung­nah­men staat­li­cher Stel­len. Infol­ge des Links­ter­ro­ris­mus der 1960er/​70er hat­te der deut­sche Staat voll­um­fäng­li­che Rücken­de­ckung der Öffent­lich­keit, um mit Mil­li­ar­den den Poli­zei- und Sicher­heits­ap­pa­rat aus­zu­bau­en. Eine gesam­te Sicher­heits­in­dus­trie konn­te so ent­ste­hen. Der Ver­fas­sungs­schutz hat­te laut Aus­sa­ge des Ex-Ter­ro­ris­ten Bom­mi Bau­mann Kennt­nis über jeden Schritt des Auf­baus und der Zusam­men­set­zung RAF – allein, man ließ sie wei­ter gewäh­ren und morden.

Am 25. Juli 1978 spreng­te der nie­der­säch­si­sche Ver­fas­sungs­schutz in der soge­nann­ten »Akti­on Feu­er­zau­ber« ein Loch in die Wand eines Hoch­si­cher­heits­trakts in Cel­le, wo der mut­maß­li­che RAF-Ter­ro­rist Sigurd Debus ein­saß. Die Tat wur­de spä­ter unter dem Namen »Cel­ler Loch« bekannt. Es wur­de ver­sucht, dem Häft­ling die Tat anzu­hän­gen, eine Zusam­men­le­gung der RAF-Häft­lin­ge in Stamm­heim zu erzwin­gen und den Sicher­heits­trakt des Gefäng­nis­ses hoch­zu­rüs­ten. Die Tat kam erst acht Jah­re spä­ter her­aus, Öffent­lich­keit und Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den waren über die Tat plan­mä­ßig getäuscht wor­den. Der nie­der­säch­si­sche Ver­fas­sungs­schutz hat­te eine Spe­zi­al­ein­heit GSG9 enga­giert, um die Tat zu fin­gie­ren. Ernst Albrecht, der Vater von Ursu­la von der Ley­en und dama­li­ge Minis­ter­prä­si­dent Nie­der­sach­sens, sah in dem Vor­ge­hen der Diens­te kein Pro­blem: Der anstän­di­ge Bür­ger erwar­te gar nichts anderes.

Im Jahr 2011, vor dem Ver­bots­an­trag der NPD unter Otto Schi­ly, waren vor dem Ver­fah­ren 11 V‑Leute in der NPD-Spit­ze plat­ziert, was über die Hälf­te des Vor­stands aus­mach­te. Die­se wur­den dann recht­zei­tig vor Eröff­nung des Ver­fah­rens »abge­schal­tet«. Der ers­te Ver­bots­an­trag der NPD wur­de in Karls­ru­he zunächst abge­wie­sen, da der Ver­fas­sungs­schutz sei­ne Infor­man­ten in der Par­tei­spit­ze nicht offen­le­gen wollte.

Auch die Ver­stri­ckun­gen des Ver­fas­sungs­schut­zes in die NSU-Ter­ror­se­rie durch Mit­wis­sen und Nicht-Ver­hin­dern von Straf­ta­ten sind inzwi­schen gut belegt, eben­so wie Ver­fas­sungs­schutz-Ver­sa­gen beim Atten­tat vom Breit­scheidt­platz, des­sen Täter der Ver­fas­sungs­schutz zuvor lan­ge beob­ach­tet hat­te und die Tat den­noch nicht verhinderte.

Straf­ta­ten gehen selbst­ver­ständ­lich auf das Kon­to der jewei­li­gen Grup­pie­rung oder Per­son, wel­che die Straf­ta­ten begeht. Allein, wie ist die Rol­le eines Staa­tes zu bewer­ten, der über geplan­te Straf­ta­ten Bescheid weiß, die­se gesche­hen lässt, durch V‑Leute befeu­ert oder gleich selbst durch V‑Leute durch­füh­ren lässt, um dann mit Repres­si­ons­in­stru­men­ten auf­zu­war­ten? Wie aus der Geschich­te des Ver­fas­sungs­schut­zes in Deutsch­land klar her­vor­geht, wäre eine Ver­wick­lung in Gescheh­nis­se wie jene am 29. August 2020 für das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz nichts Unge­wöhn­li­ches. Fra­gen, die sich infol­ge­des­sen auf­drän­gen: Wenn der Ver­fas­sungs­schutz in öffent­li­che Ereig­nis­se von hoher Sym­bol­funk­ti­on betei­ligt ist, die als Legi­ti­ma­ti­on für poli­ti­sche Repres­si­ons- und Kon­troll­in­stru­men­te gegen­über den Bür­gern her­an­ge­zo­gen wer­den: Schützt die­ser dann über­haupt unse­re Ver­fas­sung, oder die Regie­rung? Und wer schützt eigent­lich die Bür­ger des Lan­des vor dem Ver­fas­sungs­schutz? Inter­ne Kon­troll­gre­mi­en des Ver­fas­sungs­schut­zes gewäh­ren die not­wen­di­ge Kon­trol­le nicht in zufrie­den­stel­len­der Form, wie ein seit Jah­ren exis­tie­ren­der Kon­sens unter Kri­ti­kern des Ver­fas­sungs­schut­zes besagt.

Bom­mi Bau­mann, ein Ex-Ter­ro­rist der Bewe­gung 2. Juni, kam rück­bli­ckend auf die Zeit der RAF und Bewe­gung 2. Juni in einem Inter­view zu einem bemer­kens­wer­ten Resümee:

Und man ist Akteur und man denkt, man hat sel­ber gehan­delt. War alles unse­re Idee. Und irgend­wann sitzt man da – ich habe jetzt mit meh­re­ren Leu­ten aus der RAF und vom 2. Juni gere­det – bin ja nicht der Ein­zi­ge, der so denkt. Irgend­wann merkst du: Oh-oh, irgend­was ist hier ganz schief gelau­fen. Irgend­wo haben wir zwar gesagt, das, und das, und das machen wir. Das hat auch kei­ner mit­be­kom­men, denn es saßen nur die vier in einem Zim­mer, die sind dann auf­ge­stan­den und haben es gemacht, bumms. Das ist nie­mand gewe­sen, der uns sagt, macht mal das. Das ist schon rich­tig. Aber in der über­gro­ßen Stra­te­gie sind wir bloß Mario­net­ten gewe­sen, ganz sicher. Das hat ganz ande­ren Leu­ten gehol­fen und genutzt.

Cui bono: Wem nutz­te der Sturm auf den Reichs­tag politisch?

Der Reichs­tags­sturm war der Wen­de­punkt in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung von Quer­den­ken und dien­te als Beleg und Unter­maue­rung des »Querfront«-Narrativs im Hin­blick auf die Bewe­gung. Kri­ti­ker der Coro­na-Maß­nah­men hät­te enge Ver­bin­dun­gen mit Rechts­ra­di­ka­len und Reichs­bür­gern, wel­che die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung und Sou­ve­rä­ni­tät der Regie­rung ablehn­ten. Das Spek­trum auf den Demos rei­che »von Hare-Krish­na-Jün­gern bis hin zu Adolf-Hit­ler-Fans«. Die Bewe­gung gebe sich harm­los, doch in Wahr­heit han­de­le es sich um rechts­ge­rich­te­te Chao­ten, um Ver­fas­sungs­fein­de. Der Ver­fas­sungs­schutz, der zuvor noch die Aus­sa­ge getä­tigt hat­te, die Demons­tra­tio­nen sei­en nicht von Rechts­extre­men domi­niert, wur­de nun öffent­lich dazu auf­ge­for­dert, sei­ne Aus­sa­gen selbst­kri­tisch zu überdenken.

Sicher­lich nicht dazu bei­getra­gen, die­sen Ein­druck in irgend­ei­ner Form abzu­mil­dern, hat Micha­el Ball­wegs unan­ge­kün­dig­te »ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­samm­lung«, die vor Ort klar sor­tier­ba­re Tat­sa­chen schuf, und zusam­men mit dem »Sturm auf den Reichs­tag« als Fanal für eine Beob­ach­tung von Maß­nah­men­kri­ti­kern durch den Ver­fas­sungs­schutz – erst auf Lan­des­ebe­ne, und schließ­lich im April 2021 auch auf Bun­des­ebe­ne – schuf. Ver­ge­gen­wär­tigt man sich zusätz­lich, wie der rechts­extre­me Holo­caust­leug­ner Niko­lai Ner­ling fünf Minu­ten vor dem Sturm auf den Reichs­tag auf der Büh­ne sei­ne gehei­me Grill-Freund­schaft zu Micha­el Ball­weg aus­ge­plau­dert hat­te, obwohl Ball­weg öffent­lich immer behaup­tet hat­te, nichts mit Rechts­extre­mis­mus zu tun zu haben, ergibt sich lang­sam ein run­des Bild. Fort­an dien­te der »Sturm auf den Reichs­tag« als Grund­la­ge für die Beob­ach­tung maß­nah­men­kri­ti­scher Grup­pen durch den Ver­fas­sungs­schutz, unter der neu geschaf­fe­nen Beob­ach­tungs­ka­te­go­rie »Ver­fas­sungs­re­le­van­te Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes«. Der Reichs­tags­sturm war das ers­te sicht­ba­re Sym­bol die­ser neu­ge­schaf­fe­nen Kategorie.

In den Par­tei­en reg­te der Sturm auf den Reichs­tag diver­se Vor­schlä­ge an, den »Kampf gegen rechts« zu inten­si­vie­ren. In einem Vor­trag der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung mit dem Titel »Quer­den­ken – Ver­schwö­rungs­theo­rien und deut­sche Extre­mis­ten in der Coro­na-Pan­de­mie« wird deut­lich, dass die Bun­des­re­gie­rung und Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den zwi­schen einem »Vor« und »Nach« dem Sturm auf den Reichs­tag deut­lich unter­schie­den. Der Sturm auf den Reichs­tag stell­te somit eine Zäsur in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung der Querdenken‑, wei­ter gefasst der maß­nah­men­kri­ti­schen Bewe­gung in Deutsch­land dar: Galt die­se vor dem 29. August 2020 noch als harm­los, eso­te­risch und ein biss­chen ver­spon­nen, so wur­de die­se nach dem 29. August mit mili­tan­ten, ver­fas­sungs­feind­li­chen Reichs­bür­gern asso­zi­iert.

Innen­mi­nis­ter Gei­sel sah infol­ge des Stur­mes auf den Reichs­tag sei­nen Vor­stoß eines kom­plet­ten Demons­tra­ti­ons­ver­bots bestä­tigt, und sprach sich künf­tig für eine Mas­ken­pflicht auf allen Demons­tra­tio­nen aus. Bis­lang galt hier­zu ledig­lich eine Kann-Bestim­mung – einer der Grün­de, war­um Gei­sels Ver­bots­ver­fü­gung von den Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­rich­ten kas­siert wur­de. Auch für kom­men­de Demo­ver­bo­te wur­de mit dem Reichs­tags­sturm ein öffent­li­cher Kon­sens geschaf­fen: Man wuss­te ja jetzt, was bei die­sen Demos alles pas­sie­ren konn­te. Andre­as Gei­sel selbst hat das gra­vie­ren­de Behör­den­ver­sa­gen am 29. August 2020 unter sei­ner Ägi­de ohne jeg­li­che Kon­se­quen­zen poli­tisch über­lebt: Im Senat Gif­fey ist er nun Sena­tor für Stadt­ent­wick­lung, Bau­en und Woh­nen von Ber­lin.

Face­book zog die angeb­li­che Ver­wick­lung von Quer­den­ken beim Sturm auf den Reichs­tag als Grund her­an, um eine groß­an­ge­leg­te Zen­sur von Quer­den­ken oder Quer­den­ken zuge­ord­ne­ten Accounts zu begründen.

Auch betref­fend des Schut­zes des Reichs­tags­ge­bäu­des wur­den eini­ge Pla­nung befind­li­che Bau­vor­ha­ben beschleu­nigt, die bis­lang in der Umset­zung sta­gnier­ten, wie der Bau eines 2,5 m tie­fen Schutz­gra­bens vor dem Par­la­ment, dem soge­nann­ten »AHA-Gra­ben«. Der Name rührt daher, dass man ihn erst sieht, wenn man kurz davor steht. Schon eine Woche vor dem Ende der par­la­men­ta­ri­schen Som­mer­pau­se tag­te der Ältes­ten­rat des Bun­des­ta­ges, um den Schutz des Reichs­tags­ge­bäu­des neu zu über­den­ken, unter ande­rem, um Ereig­nis­se wie den 29. August in der Zukunft unmög­lich zu machen. Auch »hoch­fah­ren­de Zäu­ne« waren in der Dis­kus­si­on. Kri­ti­ker monier­ten, der Reichs­tag wer­de zu einer Fes­tung – aus die­sem Grund war man in der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung der Mei­nung, man müs­se behut­sam vor­ge­hen, und die sym­bo­li­schen Impli­ka­tio­nen jeder Bau­maß­nah­me mit­be­den­ken. Dras­ti­sche Schutz­vor­rich­tun­gen vor dem Reichs­tag wür­de den­je­ni­gen recht geben, die behaup­te­ten, die Poli­tik schot­te sich ab vor dem Wil­len der Bürger.

Fazit

Zwei Jah­re sind ver­gan­gen seit dem Sturm auf den Reichs­tag. Obwohl die viel­be­schwo­re­ne Ter­ror­ge­fahr, die angeb­lich von Men­schen aus der maß­nah­men­kri­ti­schen Bewe­gung aus­gin­ge, sich nicht bewahr­hei­tet hat, ist es den­noch gelun­gen, mit dem ver­ei­tel­ten Reichs­bür­ger-Putsch dem Topos »Sturm auf den Reichs­tag« zu einem neu­en Leben zu ver­hel­fen, dies­mal in der Beta-Ver­si­on: Mit einer rea­lis­ti­schen Zugangs­mög­lich­keit zum Gebäu­de durch eine AfD-Abge­ord­ne­te und Reichs­bür­ger unter Waf­fen. Schenkt man unse­ren Leit­me­di­en glau­ben, ist Deutsch­land nur haar­scharf einem gewalt­sa­men Umsturz durch 25 betag­te Rent­ner ent­kom­men. Wie schon beim Sturm auf den Reichs­tag lie­gen gewünsch­te poli­ti­sche Lösungs­an­sät­ze, für die noch eine Akzep­tanz in der Bevöl­ke­rung geschaf­fen wer­den muss, umge­hend zur Hand: Chat­kon­trol­le, eine Beweis­last­um­kehr im Beam­ten- und Dis­zi­pli­nar­recht. Das Mus­ter ist immer das glei­che: Prä­sen­tie­re ein Pro­blem auf dem Sil­ber­tel­ler, stel­le das »Herz der Demo­kra­tie« als in Gefahr dar, und ser­vie­re die Lösung gleich mit dazu. Dabei zieht Deutsch­land in einem bemer­kens­wer­ten Gleich­schritt mit ande­ren Län­dern, die eben­falls den »Inlandsterrorismus«-Frame kon­so­li­die­ren, um staat­li­cher­seits eine Blau­pau­se für neue Repres­si­ons­in­stru­men­te zu gene­rie­ren. Zwei Jah­re nach dem »Sturm auf den Reichs­tag« soll­ten sich Poli­tik und Nach­rich­ten­diens­te jedoch nicht täu­schen las­sen: Die bil­li­gen Skrip­te aus der glo­ba­len Nar­ra­tiv-Retor­te über­zeu­gen nie­man­den mehr. Man erkennt sie wie­der, sie wir­ken alt­ba­cken, sie tra­gen eine deut­lich wie­der­erkenn­ba­re Handschrift.

Wenn ein ernst­haf­tes Inter­es­se dar­an bestündRT DE e, die wah­ren Draht­zie­her hin­ter dem Sturm auf den Reichs­tag zu ermit­teln – die­je­ni­gen, die Tama­ra Kirsch­baum mit der Fehl­in­for­ma­ti­on von Donald Trump in der Ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft ver­sorg­ten, die zahl­rei­chen V‑Leute vor Ort, wel­che die Trump-Geschich­te mit­spiel­ten, Kirsch­baums »Kon­tak­te in die Poli­zei«, die anhand des Poli­zei­ver­hal­tens vor Ort durch­aus im Bereich des Denk­ba­ren erschei­nen – so wäre Kirsch­baum die Haupt­zeu­gin in der ‘Cau­sa Reichs­tags­sturm’ und hät­te drin­gend behörd­li­cher­seits befragt wer­den müs­sen. Dies geschah nicht: Die Poli­zei behaup­te­te im Sep­tem­ber 2020, gegen Kirsch­baum zu ermit­teln – gehört hat man von den dar­aus gewon­nen Erkennt­nis­sen jedoch nichts. Der Staat zeigt offen­sicht­li­ches Des­in­ter­es­se dar­an, die Vor­gän­ge rund um den 29. August hin­rei­chend auf­zu­klä­ren. Von einer Betei­li­gung von Behör­den­mit­ar­bei­tern des Ver­fas­sungs­schut­zes ist daher, bis ernst­haf­te Schrit­te zu einer juris­ti­schen Auf­ar­bei­tung des Reichs­tags­stur­mes erfolgt sind, zwin­gend auszugehen.

Vor gar nicht lan­ger Zeit, bevor der »Kampf gegen rechts« an Fahrt auf­nahm, gehör­te es zum guten Ton unter Lin­ken, den Ver­fas­sungs­schutz vehe­ment zu kri­ti­sie­ren und ange­sichts des­sen Ver­stri­ckung in rechts­extre­mis­ti­sche Umtrie­be, des mas­si­ven Miss­brauchs nach­rich­ten­dienst­li­cher Mit­tel im Rah­men poli­ti­scher Machta­gen­den, die Auf­lö­sung der Behör­de zu for­dern. Wenn eines aus der Geschich­te des Stur­mes auf den Reichs­tag 2020 deut­lich wird: Ein Ver­fas­sungs­schutz, der Staats­thea­ter auf­führt, um Regie­rungs­geg­ner in sei­nen Beob­ach­tungs­be­reich zu zie­hen und im gro­ßen Stil poli­ti­sche Mei­nun­gen im öffent­li­chen Raum zu mani­pu­lie­ren, hat sei­ne Daseins­be­rech­ti­gung als Insti­tu­ti­on ver­wirkt. Ein sol­ches Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz schützt unse­re Ver­fas­sung nicht, son­dern ver­höhnt die Bür­ger mit C‑Movie Skrip­ten – gera­de gut genug, um Poli­ti­ker zu den erwünsch­ten Wort­hül­sen der Betrof­fen­heit zu ani­mie­ren und gesell­schaft­li­che Akzep­tanz für neue Über­wa­chungs­in­stru­men­te zu schaf­fen. Es zeugt von tie­fer Men­schen­ver­ach­tung und Zynis­mus, extre­me poli­ti­sche Grup­pen, die man vor­gibt zu über­wa­chen, bewusst zu Straf­ta­ten zu ani­mie­ren, um auf Grund­la­ge der somit geschaf­fe­nen Tat­sa­chen den eige­nen Gel­tungs­be­reich aus­deh­nen zu kön­nen. Als mün­di­ge Bür­ger tut es not, sich nicht der­ge­stalt polit­me­di­al ver­höh­nen zu las­sen, son­dern die­se Fak­ten klar zu benen­nen. Nach 72 Jah­ren Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz – inklu­si­ve der nach­ge­wie­se­nen Ver­sor­gung der RAF mit Spreng­stoff und Waf­fen durch den Ver­fas­sungs­schutz, die Cel­ler Loch-Affä­re, die Ver­wick­lung in die Neo­na­zi-Sze­ne, des Auf­baus der NPD-Spit­ze, des Untä­tig­blei­ben beim NSU, der Ver­wick­lung in den Anschlag vom Breit­scheid­platz mit der lan­ge vor­an­ge­gan­ge­nen Beob­ach­tung von Anis Amri, dem ers­ten Reichs­tags­turm von 2020 und sei­ner nar­ra­ti­ven Fort­set­zung durch den nun angeb­lich ver­ei­tel­ten Reichs­bür­ger-Putsch 2022, der sich bei nähe­rer Betrach­tung auch nur als PR-Coup der Behör­den und soge­nann­ten Qua­li­täts­me­di­en ent­puppt – ist es höchs­te Zeit zu sagen: Es reicht. Das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz schützt unse­re Ver­fas­sung nicht und gehört abge­wi­ckelt. Für eine Straf­ver­fol­gung extre­mis­ti­scher Umtrie­be rei­chen die Mit­tel der Poli­zei und der Jus­tiz voll­kom­men aus. Eine Behör­de, die Extre­mis­mus selbst mit befeu­ert und mit insze­nier­ten öffent­li­chen Sym­bo­len die öffent­li­che Mei­nung mani­pu­liert, ist zutiefst demo­kra­tie­feind­lich und nimmt die Bür­ger nicht ernst. Es wird höchs­te Zeit, dass sich der Coro­na-Maß­nah­men­wi­der­stand eine fak­tisch voll­kom­men kor­rek­te, aus der Lin­ken her­aus ent­wi­ckel­te, fun­dier­te For­de­rung zu eigen zu macht: Das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz schützt unse­re Ver­fas­sung nicht und gehört aufgelöst.

Anhang: Stür­me auf Par­la­ments­ge­bäu­de welt­weit, 2020 – 2022

Der »Sturm auf den Reichs­tag« blieb im inter­na­tio­na­len Kon­text kein iso­lier­tes Ereig­nis. Seit Beginn der glo­ba­len Maß­nah­men­po­li­tik wur­den in zahl­rei­chen Län­dern Par­la­ments­ge­bäu­de im Rah­men von Coro­na-Maß­nah­men­kri­tik gestürmt. Hin­zu­zu­fü­gen ist nach ein­ge­hen­der Quel­len­re­cher­che, dass stän­dig irgend­wo auf der Welt ein Par­la­ments­ge­bäu­de gestürmt wird – aus den unter­schied­lichs­ten, teil­wei­se auch berech­tig­ten Grün­den, wie etwa schwe­rem Hun­ger der Bevöl­ke­rung, schwers­ter Kor­rup­ti­on, oder schie­rer Ver­zweif­lung ange­sichts zu gering aus­ge­fal­le­ner Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen einer gewis­sen deut­schen Bun­des­re­gie­rung ange­sichts eines in Nami­bia began­ge­nen Völ­ker­mords. Eine Par­la­ments­stür­mung als letz­tes, pro­ba­tes Mit­tel bei einem Regie­rungs­ver­sa­gen, muss ange­sichts der Rea­li­tät von Par­la­ments­stür­men in Betracht gezo­gen wer­den. Im Zuge des glo­ba­len Coro­na-Maß­nah­men­re­gimes ist zu beob­ach­ten, dass Par­la­ments­stür­me im polit­me­dia­len Dis­kurs ver­mehrt als »Angriff auf die Demo­kra­tie«, statt als Pro­test gegen aktu­ell gewähl­te Par­la­men­ta­ri­er inter­pre­tiert wer­den. Der Rea­li­tät von Par­la­ments­stür­men welt­weit kann eine sol­che Inter­pre­ta­ti­on nicht stand­hal­ten – allein schon, weil bei regel­mä­ßig statt­fin­den­den »Kli­ma-Par­la­ments­be­set­zun­gen« voll­kom­men ande­re Bewer­tungs­maß­stä­be ange­legt werden.

Sturm auf das Kapi­tol in Lan­sing, Michigan/​USA

Am 01. Mai 2020 wur­de das »klei­ne Kapi­tol« in Michi­gan gestürmt. Hun­der­te Demons­tran­ten, vie­le von ihnen im Mili­tär­klei­dung und unter Waf­fen, stürm­ten Michi­gans Sta­te Capi­tol Buil­ding, um ein Ende des von Gou­ver­neu­rin Gret­chen Whit­mer beschlos­se­nen Lock­down zu for­dern. Sie wur­den dort von der Sta­te Poli­ce emp­fan­gen, die sie aber eigen­ar­ti­ger­wei­se nicht ver­haf­te­te. In Michi­gan ist es legal, Waf­fen bei sich zu tra­gen, aber nicht, die­se öffent­lich zu zeigen.

Sturm auf das Par­la­ments­ge­bäu­de in Bel­grad, Serbien

Am 08. Juli 2020 stürm­ten Demons­tran­ten in Bel­grad das Par­la­ments­ge­bäu­de aus Pro­test gegen die erneut ver­häng­ten Covid-Aus­gangs­sper­ren. Den Demons­tran­ten gelang es sogar, bis in das Par­la­ments­ge­bäu­de vor­zu­drin­gen. Laut ser­bi­schen Medi­en wur­den die Pro­tes­te von ultra­rech­ten Natio­na­lis­ten dominiert.

Sturm auf das Kapitol/​Washington D.C, USA

Am 06. Janu­ar 2021 fand der wohl berühm­test und berüch­tigs­te der inter­na­tio­na­len Serie an Par­la­ments­stür­men statt: Der Sturm auf das Kapi­tol in Washing­ton nach der Abwahl Donald Trumps. Nach­dem Donald Trump am 06. Janu­ar 2021 nach sei­ner Abwahl als Prä­si­dent eine Rede gehal­ten hat­te, in der er zum »Marsch auf das Kapi­tol« auf­rief, nah­men ihn sei­ne Anhän­ger beim Wort, bega­ben sich zum Kapi­tol und ver­schaff­ten sich gewalt­sam Zugang zum Gebäu­de. Dabei kamen Men­schen zu Tode. Bemer­kens­wert beim Kapi­tol-Sturm ist die Tat­sa­che, dass das Gebäu­de an die­sem Tag prak­tisch unbe­wacht war, den Demons­tran­ten, wie in Vide­os zu sehen ist, teil­wei­se die Türen geöff­net wur­den, sich Ex-Demo­kra­ten und Schau­spie­ler unter den Demons­tran­ten befan­den, die in einem teils thea­tra­li­schen Auf­zug erschie­nen – man den­ke an das viel Spott her­vor­ru­fen­de Buf­fa­lo-Man-Kos­tüm des zuvor den Demo­kra­ten nahe­ste­hen­den Schau­spie­lers Jake Ange­li. Der Kapi­tol­sturm war der »iko­ni­sche« Par­la­ments­sturm, der fort­an als Vor­la­ge für Par­la­ments­stür­me welt­weit dien­te. In zahl­rei­chen nach­fol­gen­den, tat­säch­li­chen sowie nur behaup­te­ten Par­la­ments­stür­men wur­de immer wie­der auf den Kapi­tol­sturm in Washing­ton Bezug genommen.

Angeb­li­cher Sturm auf das Par­la­ments­ge­bäu­de in Wien, Österreich

In Öster­reich gab es gar kei­nen Sturm auf das Par­la­ment, was den dama­li­gen Innen­mi­nis­ter Karl Neham­mer jedoch nicht davon abhielt, die Exis­tenz eines sol­chen behaup­ten. Am 31.01.2021 nach einer gro­ßen Coro­na­kri­ti­schen Demo in Wien sag­te er der Kro­nen­zei­tung, es habe dabei auch einen »Sturm auf die Par­la­ments­ram­pe gege­ben, wel­cher frap­pant an die Bil­der des Kapi­tol­sturms in Washing­ton erin­ne­re«. In einer Anfra­ge­be­ant­wor­tung der ÖVP muss­te er schließ­lich ein­räu­men, dass es einen sol­chen Sturm nie gege­ben hat­ten, son­dern die Poli­zei Demons­tran­ten davon spre­chen hör­te, dass die­se »vor das Par­la­ment« zie­hen woll­ten. Eine Stür­mung der Par­la­ments­ram­pe wäre zu die­sem Zeit­punkt aber ohne­hin nicht mög­lich gewe­sen, da das alte Par­la­ments­ge­bäu­de gera­de reno­viert wur­de und auf der besag­ten Par­la­ments­ram­pe sich meter­hoch Bau­con­tai­ner sta­pel­ten. Das Par­la­ment Öster­reichs tag­te zu die­sem Zeit­punkt ersatz­wei­se in der Hofburg.

»Sturm« auf das Bun­des­haus in Bern, Schweiz

In Bern kam es am 16. Sep­tem­ber 2021, fast genau ein Jahr nach dem Sturm auf den Reichs­tag, im Rah­men einer Groß­de­mo von Maß­nah­men­kri­ti­kern gegen die geplan­te Impf-Zer­ti­fi­kats­pflicht zu einem soge­nann­ten »Sturm« auf das Ber­ner Bun­des­haus: Meh­re­re Demons­tran­ten ver­such­ten, einen Absperr­zaun am Bun­des­haus zu über­win­den und rüt­tel­ten an den Git­tern. Die Ber­ner Poli­zei reagier­te mit Was­ser­wer­fern, Trä­nen­gas und Gum­mi­ge­schos­sen. Die öffent­li­chen Ver­laut­ba­run­gen von Schwei­zer Poli­ti­kern nach dem »Sturm« auf das Bun­des­haus ähnel­ten den Poli­ti­ker-State­ments nach dem Sturm auf den Reichs­tag: Die Rats­prä­si­den­ten des Bun­des­haus ver­ur­teil­ten die Aus­schrei­tun­gen. Natio­nal­rats­prä­si­dent Andre­as Aebi (SVP) bezeich­ne­te das Ver­hal­ten als »dem Zusam­men­halt im Land nicht för­der­lich«. Der Stän­de­rats­prä­si­dent Alex Kuprecht (SVP) mein­te, mit Gewalt und Demons­tra­tio­nen löse man kei­ne Pro­ble­me. Er habe kein Ver­ständ­nis dafür, wenn Impf­geg­ner wegen Coro­na-Mass­nah­men gewalt­tä­tig wür­den. Der Gemein­de­rat der Stadt Bern, Reto Nau­se, lob­te auf Twit­ter der Poli­zei für ihren beherz­ten Ein­satz, mit dem sie einen mög­li­chen Sturm im Rah­men einer »aggres­si­ven Maß­nah­men-Skep­ti­ker-Demo« auf das Bun­des­haus ver­hin­dert hätte.

Der Dis­kurs gleicht wie ein vor­ge­fer­tig­tes Skript den Dis­kur­sen in Deutsch­land und den USA. Auch in der Schweiz konn­te durch das Ereig­nis ein Framing von Maß­nah­men­kri­ti­kern als »Fein­den der Demo­kra­tie« und »Inlands­ter­ro­ris­ten« eta­bliert wer­den. Laut dem Schwei­zer Autor Tom-Oli­ver Rege­nau­er han­del­te es sich beim Sturm auf das Bun­des­haus, genau wie schon beim Reichs­tags- und Kapi­tol­sturm, um einen simu­lier­ten Angriff auf die Demo­kra­tie, um neue For­men staat­li­cher Kon­trol­le zu legi­ti­mie­ren. Das Bun­des­haus in Bern sei nor­ma­ler­wei­se für Bür­ger frei zugäng­lich und nie durch einen Zaun abge­si­chert, aber wur­de aber aus­ge­rech­net am Nach­mit­tag des 18. Sep­tem­ber 2021, als sich etwa 20.000 Demons­tran­ten in der Stadt befan­den, mit einem Zaun ver­se­hen, was zu einer künst­li­chen Ver­en­gung des öffent­li­chen Rau­mes führ­te. Infol­ge­des­sen sei es zu den gewünsch­ten dra­ma­ti­schen Bil­dern gekom­men, die sich medi­al und poli­tisch bes­tens ver­wer­ten lie­ßen. Bei den an den Kra­wal­len betei­lig­ten Per­so­nen han­de­le es sich laut Rege­nau­er auch kei­ne regu­lä­ren Demo­teil­neh­mer, son­dern Per­so­nen aus dem Umfeld der Ber­ner Antifa.

Sturm auf den Par­la­ments­pa­last in Buka­rest, Rumänien

Am 21. Dezem­ber 2021, stürm­ten in Rumä­ni­en Demons­tran­ten das Par­la­ments­ge­bäu­de in Buka­rest, aus Pro­test gegen den im Okto­ber von der Regie­rung ver­ab­schie­de­ten Impf­pflicht für alle Mit­ar­bei­ter des Gesund­heits­sys­tems, des öffent­li­chen Diens­tes und gro­ßer pri­va­ter Fir­men. Den Pro­test ange­mel­det hat­ten Mit­glie­der der ultra-natio­na­lis­ti­schen Alli­ance for Uniting Roma­ni­ans (AUR).

Sturm auf das Par­la­ments­ge­bäu­de in Sofia, Bulgarien

Am 13. Janu­ar 2022 folg­te ein wei­te­rer Sturm auf das Par­lia­ments­ge­bäu­de in Sofia/​Bul­ga­ri­en. Auch hier war es wie­der eine natio­na­lis­ti­sche Grup­pe, die den Pro­test ange­mel­det hat­te, die soge­nann­te Revi­val par­lia­men­ta­ry group, die gegen die bul­ga­ri­sche Form des Grü­nen Pas­ses demons­trier­te, nach­dem für das Par­la­ment nur der Zugang mit einem Impf­pass beschlos­sen wurde.

Beset­zung des Par­la­ments­di­strikts und angeb­li­cher Sturm auf das Par­la­ment in Wel­ling­ton, Neuseeland

In Neu­see­land fand im März 2022 ein vier­wö­chi­ges Pro­test­camp im Regie­rungs­vier­tel statt, bei dem am letz­ten Tag gewalt­sam geräumt wur­de, und der par­la­men­ta­ri­sche Kin­der­spiel­platz in Flam­men auf­ging. Pre­mier­mi­nis­te­rin Jac­in­da Ardern sprach von rück­bli­ckend von einer »Ent­wei­hung des Par­la­ments­ge­län­des, von unse­rer Demo­kra­tie« – aber sie sei gewiss, man wer­de »die Demo­kra­tie zurückerobern.«

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Zuerst erschie­nen auf Ayas Sub­stack

Bild: Stür­mung des Reichs­ta­ges, Screen­shot Pri­vat­vi­deo (Tele­gram)

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