Der Hitler‐​Stalin‐​Pakt von 1939: Mythos und Wirklichkeit (Teil 3)

Dies ist der dritte Teil einer dreiteiligen Serie des belgischen Historikers Jacques R. Pauwels, übersetzt von Heiner Biewer, zum Mythos des Hitler‐​Stalin‐​Paktes. Die Serie gliedert sich in die folgenden Teile:

3. Zur Bedeutung des Paktes für den Verlauf und Ausgang des Zweiten Weltkrieges

Im zweiten Teil der Serie wurde beschrieben, wie die Westmächte durch ihre berüchtigte Appeasement‐​Politik den Aufstieg Nazi‐​Deutschlands zur militärischen Großmacht ermöglichten. Die Sowjetunion reagierte darauf mit der Initiative zur Bildung eines gemeinsamen Verteidigungsbündnisses. Unter dem Druck einer Öffentlichkeit, die diesen Vorschlag begrüßte, mussten die politischen Führer in London und Paris Verhandlungen mit Moskau aufnehmen. Da sie Hitlers Ziel, die Sowjetunion zu zerstören, insgeheim teilten, wurden diese Verhandlungen aber nur zögerlich geführt. Mitte August 1939 kamen die Sowjets zum Schluss, dass die Westmächte keinerlei ernsthaftes Interesse an einem militärischen Bündnis gegen Nazi‐​Deutschland hatten. So kam es am 23. August 1939 zur Unterzeichnung des von deutscher Seite initiierten Hitler‐​Stalin‐​Paktes, der der Sowjetunion den Raum und die Zeit verschaffte, sich auf den antisowjetischen deutschen Feldzug vorzubereiten.

Der deutsche Angriff auf Polen

Der deutsche Angriff auf Polen begann am 1. September 1939. London und Paris zögerten ein paar Tage, bevor Nazi‐​Deutschland den Krieg erklärten. Aber sie griffen das Reich während des Einmarsches des Großteils seiner Streitkräfte in Polen nicht an, wie es einige deutsche Generäle befürchtet hatten. Vielmehr erklärten die Akteure des Appeasement Hitler nur den Krieg, weil die öffentliche Meinung es verlangte. Sie hofften insgeheim, dass Polen bald erledigt sein würde, damit »Herr Hitler« sich endlich der Sowjetunion zuwenden konnte. Der Krieg, den sie führten, war nur ein »Scheinkrieg«, wie man ihn zu Recht nennen würde, eine Farce, bei der ihre Truppen, die sozusagen nach Deutschland hätten hereinspazieren können, untätig hinter der Maginot‐​Linie blieben. Es ist heute so gut wie sicher, dass Hitler‐​Sympathisanten im Lager der französischen und möglicherweise auch der britischen Beschwichtigungspolitiker dem deutschen Diktator zu verstehen gegeben hatten, dass er Polen mit seiner ganzen militärischen Macht erledigen könne, ohne einen Angriff der Westmächte befürchten zu müssen.1

Die polnische Verteidigung wurden überwältigt, und es wurde schnell klar, dass die Obersten, die das Land beherrschten, kapitulieren mussten. Hitler hatte allen Grund zu glauben, dass sie dies tun würden, und seine Bedingungen hätten zweifellos große Gebietsverluste für Polen bedeutet, insbesondere natürlich im Westen des Landes, an der Grenze zu Deutschland. Dennoch hätte ein verkleinertes Polen wahrscheinlich weiter bestanden, so wie Frankreich nach seiner Kapitulation im Juni 1940 in der Gestalt von Vichy‐​Frankreich weiterbestehen durfte.

Flucht der polnischen Regierung nach Rumänien: Polen wird zur »Terra Nullius«

Am 17. September war jedoch klar, dass etwas völlig Unvorhergesehenes geschah. Die polnische Regierung floh in das benachbarte Rumänien, ein neutrales Land. Damit hörte sie auf zu existieren, denn nach internationalem Recht müssen nicht nur Militärangehörige, sondern auch Mitglieder der Regierung eines Landes, das sich im Krieg befindet, bei der Einreise in ein neutrales Land für die Dauer der Feindseligkeiten interniert werden; andernfalls gilt das neutrale Land als in den Krieg eingetreten. Diese Flucht war ein unverantwortlicher und sogar feiger Akt, der schändliche Folgen für Polen hatte. Ohne Regierung hörte der polnische Staat formell auf zu existieren, und das Land verwandelte sich faktisch in eine Art »Niemandsland« – eine terra nullius, um die juristische Terminologie zu verwenden -, in dem die deutschen Eroberer tun und lassen konnten, was sie wollten, da es niemanden gab, mit dem sie über das Schicksal des besiegten Landes verhandeln konnten. Tatsächlich teilten die NS‐​Behörden ihren sowjetischen Gegenübern noch am selben Tag mit, dass sie die Vereinbarung über die Einflusssphären für null und nichtig hielten, da sie sich auf einen polnischen Staat bezog, der nicht mehr existierte; folglich würden sich die deutschen Truppen frei fühlen, ganz Polen, einschließlich der östlichen Gebiete, zu übernehmen, wenn die Sowjets dies nicht taten.

Nach dem Völkerrecht dürfen Nachbarländer eine potentiell anarchische Terra Nullius besetzen, um »Recht und Ordnung« wiederherzustellen. Die Sowjets hatten also das Recht, »Ostpolen« zu besetzen, und Berlin hatte aufgrund des noch bestehenden, wiewohl auslaufenden Abkommens über die Einflusssphären keine Einwände. Welche anderen Möglichkeiten blieben Moskau? Hätte es nicht sofort seine Truppen entsandt, hätten die Deutschen zweifellos jeden Quadratzentimeter Polens besetzt, mit allen Konsequenzen, die dies mit nach sich gezogen hätte.

Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion

Aus diesem Grund rückte die Rote Armee an diesem 17. September 1939 ein und besetzte »Ostpolen«. Hitler hätte es natürlich vorgezogen, wenn die Sowjets nichts unternommen hätten, so dass er sich Polen in Gänze hätte einverleiben können. Technisch gesehen hätte er einwenden können, dass es bei dem Abkommen um einen polnischen Staat ging, der nicht mehr existierte, aber das hätte bedeutet, dass er den Vorteil der sowjetischen Neutralität verloren hätte, einen Vorteil, den er durch den Pakt »erkauft« hatte und nicht verlieren wollte, da er sich auch nach seinem Sieg über Polen noch immer im Krieg mit Großbritannien und Frankreich befand und vermeiden musste, an zwei Fronten zu kämpfen. Dies erklärt auch, warum die deutschen Truppen, die die Demarkationslinie bereits überschritten hatten, angewiesen wurden, sich zurückzuziehen, um den Männern der Roten Armee Platz zu machen, die auf polnisches Gebiet vorrückten, das im Ribbentrop‐​Molotow‐​Pakt als sowjetischer Einflussbereich ausgewiesen war. Wo immer sie in Kontakt kamen, verhielten sich beide Seiten korrekt und hielten das traditionelle Protokoll ein. Dies beinhaltete manchmal eine Art von Zeremonie, aber es gab nie gemeinsame »Siegesparaden«, wie von einigen Historikern behauptet wird.2

Da sich ihre Regierung in Luft aufgelöst hatte, konnten polnische Streitkräfte, die weiterhin Widerstand leisteten, als Freischärlern und Partisanen betrachtet und somit an allen damit verbundenen Risiken ausgesetzt werden. Die meisten polnischen Armeeeinheiten ließen sich daher von der anrückenden Roten Armee entwaffnen und internieren, aber manchmal wurde tatsächlich Widerstand geleistet, zum Beispiel von Truppen, die von Offizieren befehligt wurden, die den Sowjets feindlich gegenüberstanden. Es ist eine verbreitete Annahme, dass diese Offiziere später von den Sowjets in Katyn liquidiert wurden. Das »Massaker von Katyn« könnte die Rache für die Gräueltaten gewesen sein, die die Polen während des polnisch‐​russischen Krieges 1919 – 1921 an russischen Kriegsgefangenen begangen hatten. Auf der Grundlage neuer archäologischer und sonstiger Befunde, die Grover Furr in seinem Buch The Mystery of the Katyn Massacre sehr detailliert analysiert, wurde jedoch vor kurzem die Hypothese, dass die Nazis dieses Verbrechen begangen haben, wieder aufgenommen.

Viele polnische Soldaten und Offiziere wurden von den Sowjets nach den Regeln des Völkerrechts interniert. Nachdem die Sowjetunion 1941 in den Krieg eingetreten war und somit nicht mehr an die Regeln für das Verhalten eines neutralen Staates gebunden war, wurden diese Männer nach Großbritannien (über den Iran) überstellt, um erneut den Kampf gegen Nazideutschland aufzunehmen, diesmal auf der Seite der westlichen Alliierten. Zwischen 1943 und 1945 leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Befreiung Westeuropas. (Weitaus tragischer war das Schicksal der polnischen Militärs, die in deutsche Hände fielen). Auch die jüdischen Einwohner profitierten von der Besetzung der polnischen Ostgebiete durch die Sowjets. Sie wurden in das Innere der Sowjetunion umgesiedelt und entgingen so dem Schicksal, das sie erwartet hätte, wenn sie noch in ihren Schtetln gelebt hätten, als die deutschen Eroberer 1941 dort eintrafen. Viele von ihnen überlebten den Krieg und begannen danach ein neues Leben in den USA, in Kanada und natürlich in Israel.

Bewertung der Besetzung Ostpolens

Die Besetzung von »Ostpolen« erfolgte nach den Regeln des Völkerrechts, sie stellte also keinen »Angriff« auf Polen dar, wie es zu viele Historiker (und Politiker) behaupten, und schon gar nicht einen Angriff in Zusammenarbeit mit einem nazideutschen »Verbündeten«. Die Sowjetunion wurde durch den Abschluss eines Nichtangriffspakts mit Nazideutschland nicht zu einem Verbündeten Hitlers, und sie wurde auch durch die Besetzung »Ostpolens« nicht zu seinem Verbündeten. Churchill begrüßte in England öffentlich die sowjetische Initiative vom 17. September, eben weil sie die vollständige Eroberung Polens durch die Nazis verhinderte. Dass es sich bei dieser Initiative nicht um einen Angriff und damit nicht um eine Kriegshandlung gegen Polen handelte, zeigte sich auch daran, dass Großbritannien und Frankreich, die formalen Verbündeten Polens, der Sowjetunion nicht den Krieg erklärten, was sie sonst sicherlich getan hätten. Die Sowjetunion war und blieb bis auf weiteres ein neutrales Land. Und der Völkerbund verhängte keine Sanktionen gegen die Sowjetunion, was er getan hätte, wenn er dies als einen echten Angriff auf eines seiner Mitglieder betrachtet hätte.

Die Besetzung der östlichen Gebiete Polens war aus Sicht der Sowjetunion die Rückgewinnung eines Teils des eigenen Territoriums, das durch den russisch‐​polnischen Konflikt von 1919 – 1921 verloren gegangen war. Es ist richtig, dass Moskau diesen Verlust im Friedensvertrag von Riga, der den Krieg im März 1921 beendete, anerkannt hatte. Moskau suchte jedoch weiterhin nach einer Gelegenheit, »Ostpolen« zurückzuerobern, und 1939 ergab sich diese Gelegenheit und wurde ergriffen. Man kann die Sowjets dafür verurteilen, aber dann muss man auch die Franzosen dafür verurteilen, dass sie Elsass‐​Lothringen am Ende des Ersten Weltkriegs zurückeroberten, da Paris den Verlust dieses Gebiets im Friedensvertrag von Frankfurt, der den Deutsch‐​Französischen Krieg von 1870 – 1871 beendete, formell anerkannt hatte.

Gewinn von Raum für die Sowjetunion

Wichtiger ist die Tatsache, dass die Besetzung – oder Befreiung, oder Rückgewinnung, oder Rekuperation, wie auch immer man es nennen will – von »Ostpolen« der Sowjetunion einen äußerst nützlichen Vorteil verschaffte, nämlich ein »Glacis«, wie es im Militärjargon genannt wird: ein offener Raum, den ein Angreifer durchqueren muss, bevor er die Verteidigungslinien einer Stadt oder Festung erreicht. Die sowjetische Führung wusste, dass Hitler ungeachtet des Paktes die Absicht hatte, die Sowjetunion früher oder später anzugreifen, und dieser Angriff fand in der Tat im Juni 1941 statt. Zu diesem Zeitpunkt entfaltete Hitlers Heer seine geballte Kraft von einem Ausgangspunkt, der viel weiter vom sowjetischen Kernland entfernt war, als dies 1939 der Fall gewesen wäre, als er bereits darauf brannte, seinen großen Ostkrieg zu beginnen. Aufgrund des Pakts lagen die Ausgangspunkte für die Offensive der Nazis 1941 mehrere hundert Kilometer weiter westlich und damit in viel größerer Entfernung von den strategischen Zielen tief in der Sowjetunion. 1941 waren die deutschen Streitkräfte bis auf einen Steinwurf an Moskau herangekommen. Das heißt, dass sie die Stadt ohne den Pakt mit Sicherheit eingenommen hätten, was die Sowjets möglicherweise zur Kapitulation gezwungen hätte.

Eines der Ziele des bevorstehenden deutschen Angriffs war natürlich Leningrad, eine Stadt, in der es von lebenswichtigen Rüstungsbetrieben wimmelte, die aber gefährlich nahe an der Westgrenze der Sowjetunion lag. Um Leningrad umfassend verteidigen zu können, schlug Moskau dem benachbarten Finnland im Herbst 1939 einen Gebietstausch vor, der die Grenze zwischen den beiden Ländern weiter weg von der Stadt verschoben hätte. Die mit Nazideutschland befreundeten finnischen Machthaber lehnten ab, und Moskau reagierte mit dem so genannten »Winterkrieg« von 1939 – 1940, um die gewünschte Grenzverschiebung zu erreichen. Dieser Konflikt stellte zweifelsohne eine Aggression dar, für die die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde. Außerdem war Leistung der Roten Armee gegen einen gut verschanzten, hartnäckigen und tapferen Feind weit davon entfernt, eindrucksvoll zu sein, aber am Ende des Winters wurde dennoch gesiegt.

Die Sowjets hätten bis nach Helsinki marschieren und große Teile des finnischen Territoriums annektieren oder sogar das gesamte Land in die UdSSR integrieren können, eine Option, die sie tatsächlich vorübergehend in Betracht zogen. Aber sie taten es nicht und begnügten sich mit wenig mehr als den ursprünglich vorgeschlagenen Grenzanpassungen. Dies sollte sich als äußerst wichtig erweisen. Als die Deutschen mit Unterstützung der Finnen 1941 die Sowjetunion angriffen und Leningrad viele Jahre lang belagerten, konnte die Stadt dank dieser Anpassung diese Zerreißprobe überstehen. Aus dem Winterkrieg ergab sich ein unerwarteter Vorteil: die nicht gerade beeindruckende Leistung der Roten Armee veranlasste Hitler und die deutschen Heerführer dazu, die militärische Stärke der Sowjetunion zu unterschätzen – ein Fehler, den sie teuer bezahlen sollten.

Die scheinbare militärische Schwäche der Sowjetunion im Krieg gegen Finnland veranlasste auch die politischen und militärischen Führer Großbritanniens und Frankreichs, Pläne für einen Krieg gegen die Sowjets auszuhecken, zunächst in Form von Militärhilfe für die Finnen und später durch die Bombardierung der sowjetischen Ölfelder im Kaukasus von Stützpunkten im Nahen Osten aus. Obwohl sie sich in einem (zugegebenermaßen scheinbaren) Krieg gegen Nazideutschland befanden, wollten die Herren in London und Paris dennoch das Ziel ihrer früheren Beschwichtigungspolitik, die Zerstörung der Sowjetunion, erreichen. Diese verrückten Pläne wurden erst beendet, als Nazideutschland im Mai 1940 den Blitzkrieg gegen Frankreich entfachte.3

Die baltischen Länder als Sprungbrett für Hitlers Kreuzzug

Nachdem die sowjetische Führung das Problem der gefährdeten Lage Leningrads gelöst oder besser gesagt minimiert hatte, wandte sie sich den baltischen Ländern zu, deren Entstehung als unabhängige Staaten in der Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs bereits erläutert wurde. Ende der dreißiger Jahre hatten sich die baltischen Länder von liberalen Demokratien in quasi‐​faschistische autoritäre Regime verwandelt, die ihre Arbeiterbewegungen unterdrückten und offen mit Nazideutschland flirteten. Es ist kaum verwunderlich, dass in allen drei Ländern 1934, kurz nachdem Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, rechtsgerichtete, mehr oder weniger faschistische Regime errichtet wurden. Churchill bezeichnete das baltische Trio als die »antibolschewistischsten« Länder in Europa. Nicht umsonst befürchtete Moskau, dass sie sich von den Nazis als Sprungbrett für Hitlers geplanten antisowjetischen Kreuzzug benutzen lassen könnten. Vor allem Estland gab Anlass zur Sorge. Die Ostgrenze Estlands, das im Juni 1939 einen Pakt mit Nazideutschland unterzeichnete, war nur 160 Kilometer von Leningrad entfernt.

Die Sowjets versuchten, auch diese Bedrohung zu beseitigen. Erstens erreichten sie im Molotow‐​Ribbentrop‐​Pakt, dass Deutschland Estland und Lettland als Teil der sowjetischen Einflusssphäre anerkannte, und Litauen folgte diesem Beispiel in einem aktualisierten Abkommen, das Ende September 1939 geschlossen wurde. Zweitens ging Moskau im Frühjahr 1940 dazu über, das Baltikum als Schwachstelle in der Verteidigung der Sowjetunion gegen einen deutschen Angriff auszuschalten. Das Kriegsfieber stieg rapide an, als die Nazis Dänemark und Norwegen, die Niederlande, Belgien und sogar Frankreich überrannten. Dabei kam es zu rücksichtslosen Übergriffen auf neutrale Länder, nicht nur durch die Deutschen, sondern auch durch die Briten. Letztere landeten im April 1940 Truppen im neutralen Norwegen, wurden aber von überlegenen Nazi‐​Truppen vertrieben und besetzten das gesamte Land. Und als Island seine Unabhängigkeit erklärte, nachdem die Deutschen sein Mutterland Dänemark besetzt hatten, besetzten die Briten die Insel kurzerhand im Mai 1940. Dabei übergingen sie das Völkerrecht zugunsten von angeblich wichtigeren geostrategischen Erwägungen.

In dieser angespannten Situation entschlossen sich die Sowjets, aus eigenen, dringenden geostrategischen Erwägungen heraus, bezüglich des Baltikums ebenso skrupellos zu handeln. Ohne die deutsche Unterstützung, die sie zuvor genossen hatten, konnten die baltischen philofaschistischen Führer die Forderung Moskaus, strategische Positionen in ihren Ländern mit sowjetischen Truppen zu besetzen, nicht ablehnen, woraufhin sie aufgefordert wurden, Wahlen abzuhalten. Es überrascht nicht, dass diese Wahlen von antifaschistischen Parteien gewonnen wurden, die von der Unterstützung der baltischen »Roten« profitierten, die in ihrer Heimat wieder mitsprechen durften oder aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren. Die neuen Regierungen, die sich bildeten, verwandelten ihre Länder in autonome sozialistische Republiken innerhalb der Sowjetunion.

Comeback der »Roten« im Baltikum

Das Ergebnis des einige Jahrzehnte zuvor im Baltikum ausgetragenen Bürgerkrieges, wurde somit umgekehrt. Die »Roten« feierten ein erfolgreiches Comeback auf Kosten der »Weißen«, und dies war dank der Intervention von Außenstehenden, den Sowjets, möglich. Der frühere Triumph der »Weißen« war jedoch, wie wir gesehen haben, ebenfalls auf das Eingreifen von ausländischen Kräften, nämlich Briten und Deutschen, zurückzuführen. Im Vergleich zu ihnen waren die Sowjets eigentlich nicht ganz so fremd. Das Baltikum gehörte seit Hunderten von Jahren zum Russischen Reich, so wie Schottland, Wales und Irland zum Britischen Empire gehörten; nur Litauen war zuvor unabhängig gewesen (und seine neue Unabhängigkeit war ziemlich prekär, wie die Eroberung seiner Hauptstadt Vilnius durch Polen und die deutsche Annexion seiner Hafenstadt Klaipeda/​Memel zeigten.) So gesehen war der sowjetische Wunsch, sich in den dreißiger Jahren die baltischen Länder einzuverleiben, nicht illegitimer als der auch heute noch bestehende britische Wunsch, Nordirland, Gibraltar oder die Falklandinseln als Teil des Vereinigten Königreichs zu behalten. Für unsere Betrachtungen ist es jedoch viel wichtiger, dass die baltischen Länder durch ihre Eingliederung in die Sowjetunion als potenzielles Sprungbrett für antisowjetische Aggressionen, insbesondere in Richtung Leningrad, ausgeschaltet wurden.

Ebenso zwang die Sowjetunion im Juni 1940 auch Rumänien, Bessarabien, ein 1918 annektiertes russisches Gebiet, sowie die angrenzende Region Nordbukowina abzutreten.4Der belgische Historiker Lieven Soete, dem wir hier folgen, kommt zu dem Schluss, dass »Stalins Schutzgürtel [entlang der Westgrenzen der Sowjetunion] damit vollendet war.5

Die Sowjetunion gewinnt wertvolle Zeit

Die Sowjetunion gewann dank des Ribbentrop‐​Molotow‐​Pakts nicht nur wertvollen Raum, sondern auch wertvolle Zeit, nämlich die Zeit, die sie brauchte, um sich auf einen deutschen Angriff vorzubereiten, der ursprünglich für 1939 geplant war, dann aber auf 1941 verschoben werden musste. Zwischen 1939 und 1941 wurden viele wichtige Infrastruktureinrichtungen, vor allem Fabriken zur Herstellung aller Arten von Kriegsmaterial, auf die östliche Seite des Urals verlegt. Darüber hinaus hatten die Sowjets in den Jahren 1939 und 1940 Gelegenheit, den in Polen, Westeuropa und anderswo tobenden Krieg zu beobachten und zu studieren und so wertvolle Lehren über Deutschlands moderne, motorisierte und blitzschnelle Art der offensiven Kriegsführung, den Blitzkrieg, zu ziehen. Die sowjetischen Strategen erkannten zum Beispiel, dass es fatal war, den Großteil der eigenen Streitkräfte zu Verteidigungszwecken direkt an der Grenze zu bündeln und dass nur eine Verteidigung in der Tiefe die Nazi‐​Dampfwalze aufhalten konnte. Unter anderem dank der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse sollte es der Sowjetunion – wenn auch unter großen Schwierigkeiten – gelingen, den Angriff der Nazis im Jahr 1941 zu überstehen und schließlich den Krieg gegen diesen mächtigen Feind zu gewinnen. Die durch den Pakt gewonnene Zeit ermöglichte es den Sowjets auch, sich gründlich auf den Partisanenkrieg hinter den feindlichen Linien vorzubereiten, zum Beispiel durch die Anlage von geheimen Waffenlagern.

Und noch auf eine weitere Weise verbesserte der Pakt die Chancen der Sowjetunion, den bevorstehenden Angriff der Nazis zu überstehen. Dass Hitler plötzlich ein Abkommen mit Moskau schloss, schockierte und verärgerte seine japanischen Verbündeten und hielt sie davon ab, weitere antisowjetische Operationen im Fernen Osten in Erwägung zu ziehen; dies war wohl der Hauptgrund für die Entscheidung, ihre Expansionsstrategie in andere Richtungen zu lenken, nämlich in den Pazifik und nach Südostasien, wo sie, wie wir bald sehen werden, mit einem anderen Gegner, Onkel Sam, konfrontiert wurden. Folglich mussten die Sowjets 1941 keinen Verteidigungskrieg an zwei Fronten führen, was mit Sicherheit verhängnisvoll gewesen wäre.6

Welche Rolle spielte das mit dem Pakt verbundene Handelsabkommen?

Es waren nicht die Sowjets, sondern die Deutschen, die die Initiative zu den Verhandlungen ergriffen hatten, die schließlich zum Pakt führten. Sie taten dies, weil sie sich davon einen Vorteil versprachen, einen vorübergehenden, aber sehr wichtigen Vorteil, nämlich die Neutralität der Sowjetunion, während die Wehrmacht zunächst Polen und dann Westeuropa angriff. Aber Nazideutschland zog auch einen zusätzlichen Nutzen aus dem mit dem Pakt verbundenen Handelsabkommen. Das Reich litt unter einem chronischen Mangel an strategischen Rohstoffen aller Art, und diese Situation drohte katastrophal zu werden, wenn eine britische Kriegserklärung, wie zu erwarten war, zu einer Blockade Deutschlands durch die Royal Navy führen würde. Dieses Problem wurde durch die im Abkommen vorgesehene Lieferung von Produkten wie Erdöl durch die Sowjetunion entschärft.

Es ist nicht klar, welche Bedeutung diese Lieferungen, insbesondere jene von Erdöl, wirklich hatten: einige Historiker halten sie für nicht sehr wichtig, andere halten sie für extrem wichtig, und einige der Letzteren behaupten sogar, dass Nazi‐​Deutschland ohne sowjetisches Erdöl Frankreich im Frühjahr 1940 niemals hätte besiegen können. Laut der Studie von Brock Millman, die sich mit den britischen und französischen Kriegsstrategien in den Jahren 1939 – 1940 befasst, stammten jedoch nur vier Prozent aller deutschen Erdölimporte zu dieser Zeit aus der Sowjetunion. In jedem Fall ist es eine Tatsache, dass Nazideutschland in den Jahren 1939 – 1940 hauptsächlich auf Erdölimporte aus Rumänien und den Vereinigten Staaten angewiesen war und bis zum Kriegseintritt von Uncle Sam im Dezember 1941 weiterhin Öl aus den USA importierte. Im Sommer 1941 waren Zehntausende von Nazi‐​Flugzeugen, Panzern, Lastwagen und anderen Kriegsmaschinen, die an der Invasion der Sowjetunion beteiligt waren, immer noch weitgehend auf Kraftstoff angewiesen, der von amerikanischen Ölkonzernen geliefert wurde.

Umgekehrt verpflichtete der Pakt die deutsche Seite dazu, die Sowjets im Gegenzug für Erdöl mit industriellen Fertigprodukten zu beliefern, einschließlich modernster Maschinen und militärischer Ausrüstung. Diese Produkte wurden von der Roten Armee verwendet, um ihre Verteidigung gegen den erwarteten deutschen Angriff zu optimieren. Dies bereitete Hitler große Sorgen, weshalb er seinen antisowjetischen Kreuzzug so schnell wie möglich starten wollte. Er fasste den Beschluss dazu, obwohl Großbritannien nach dem Fall Frankreichs noch lange nicht angezählt war. Folglich musste der deutsche Diktator ab 1941 den Zweifrontenkrieg führen, den er 1939 dank seines Paktes mit Moskau zu vermeiden hoffte, und er sah sich einem sowjetischen Feind gegenüber, der viel stärker geworden war als 1939.

Resümee

Stalin schloss einen Pakt mit Hitler, weil die Appeasementpolitiker in London und Paris alle sowjetischen Angebote, eine gemeinsame Front gegen Hitler zu bilden, abgelehnt hatten. Und sie taten dies, weil sie hofften, dass Hitler nach Osten marschieren und die Sowjetunion zerstören würde. Es ist so gut wie sicher, dass Hitler ohne den Pakt die Sowjetunion 1939 angegriffen hätte. Aufgrund des Paktes musste er jedoch zwei Jahre warten. Dadurch konnte die sowjetische Verteidigung gerade so weit verbessert werden, dass sie dem Angriff standhielt, als Hitler schließlich 1941 seine Kampfhunde in den Osten schickte.

Die Rote Armee erlitt furchtbare Verluste, aber es gelang ihr schließlich, den Nazi‐​Moloch zu stoppen. Ohne diesen sowjetischen Erfolg, den der Historiker Geoffrey Roberts als die größte militärische Leistung, die die Welt je gesehen hat bezeichnete,7 hätte Deutschland den Krieg sehr wahrscheinlich gewonnen, weil es die Kontrolle über die Erdölfelder im Kaukasus, die reichen landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine und viele andere lebenswichtige Ressourcen erlangt hätte. Ein solcher Triumph hätte Nazideutschland in eine unantastbare Supermacht verwandelt, die in der Lage gewesen wäre, selbst langfristige Kriege gegen jeden zu führen, auch gegen ein anglo‐​amerikanisches Bündnis. Ein Sieg über die Sowjetunion hätte Nazideutschland die Hegemonie über Europa verschafft. Heute wäre die zweite Sprache auf dem Kontinent nicht Englisch, sondern Deutsch, und in Paris würden die Modefans in Lederhosen die Champs Elysees auf und ab flanieren.

Ohne den Pakt hätte die Befreiung Europas, einschließlich der Befreiung Westeuropas durch die Amerikaner, Briten, Kanadier usw. niemals stattgefunden. Polen würde nicht existieren; die Polen wären Untermenschen, Leibeigene von arischen Siedlern in einem germanisierten Ostland, das sich vom Baltikum bis zu den Karpaten oder sogar bis zum Ural erstrecken würde. Und eine polnische Regierung hätte niemals die Zerstörung von Denkmälern zu Ehren der Roten Armee angeordnet, wie sie es kürzlich getan hat, nicht nur, weil es kein Polen und damit keine polnische Regierung gegeben hätte, sondern weil die Rote Armee Polen niemals befreit hätte und diese Denkmäler niemals errichtet worden wären.

Die Behauptung, der Hitler‐​Stalin‐​Pakt habe den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, ist mehr als ein Mythos, sie ist eine schamlose Lüge. Das Gegenteil ist der Fall: Der Pakt war die unabdingbare Voraussetzung für den glücklichen Ausgang des Armageddons von 1939 – 1945, das heißt für die Niederlage Nazideutschlands.

Bild: Ausgabe der Aachener Nachrichten vom 8. Mai 1945 im neuen Aachener Stadtmuseum. ACBahn, Public domain, via Wikimedia Commons.

Literatur

Furr, Grover. Blood Lies: The Evidence that Every Accusation against Joseph Stalin and the Soviet Union in Timothy Snyder’s Bloodlands Is False, New York, 2014.

Lacroix‐​Riz, Annie. Le choix de la défaite. Les élites françaises dans les années 30, Paris, 2006.

Lacroix‐​Riz, Annie. De Munich à Vichy. L’assassinat de la IIIe République 1938 – 1940, Paris, 2008.

Millman, Brock. Toward War with Russia: British Naval and Air Planning for Conflict in the Near East, 1939 – 40, Journal of Contemporary History, 29:2, April 1994, S. 261 – 283.

Osborn, Patrick R. Operation Pike: Britain Versus the Soviet Union, 1939 – 1941, Westport, CT, 2000.

Roberts, Geoffrey. Stalin’s Wars: From World War to Cold War, New Have, Connecticut, und London, 2006. 

Soete, Lieven. Het Sovjet‐​Duitse niet‐​aanvalspact van 23 augustus 1939: Politieke Zeden in het Interbellum, Berchem, Belgien, 1989.

Sputniknews. L’URSS aurait eu peu de chances dans la 2 GM sans le pacte Molotov‐​Ribbentrop, selon un représentant spécial de Poutine, International, 8. Juli , 2019, https:// fr​.sputniknews​.com/​i​n​t​e​r​n​a​t​i​o​n​a​l​/​2​0​1​9​0​7​0​8​1​0​4​1​6​1​8​4​2​9​-​p​a​c​t​e​-​m​o​l​o​t​o​v​r​i​b​b​e​n​t​r​o​p​-​s​e​c​o​n​d​e​-​g​u​e​r​r​e​-​m​o​d​i​a​l​e​-​n​o​n​-​a​g​r​e​s​s​i​o​n​-​a​l​l​e​m​a​g​n​e​-​n​a​zie

Verweise

1 Siehe Annie Lacroix‐​Riz (2006) und (2008).

2 Die vielen Trugschlüsse über den Molotow‐​Ribbentrop‐​Pakt sowie die zahllosen »betrügerischen Behauptungen« in Timothy Snyders Buch Bloodlands (Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin) werden von Grover Furr in einem gründlich recherchierten Werk, Blood Lies (2014), S. 326 und folgende Seiten, ausgeräumt.

3 Lacroix‐​Riz (2008), S. 218 – 238, and the studies by Millman (1994), Osborn (2000).

4 Diese Gebiete würden später als die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik in die Sowjetunion eingegliedert, aus der 1991 die Republik Moldau (Moldawien) hervorging.

5 Soete (1989), S. 283 – 287.

6 Siehe »L’URSS aurait eu peu de chances« (Die Sowjetunion hätte kaum eine Chance gehabt).

7 Roberts (2006), p. 4.

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