Der Hit­ler-Sta­lin-Pakt von 1939: Mythos und Wirk­lich­keit (Teil 2)

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Dies ist der zwei­te Teil einer drei­tei­li­gen Serie des bel­gi­schen His­to­ri­kers Jac­ques R. Pau­wels, über­setzt von Hei­ner Bie­wer, zum Mythos des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes. Die Serie glie­dert sich in die fol­gen­den Teile:

1. Büh­ne frei: Das Ende des Ers­ten Welt­krie­ges und der Rus­si­sche Bürgerkrieg

2. Von der Appease­ment-Poli­tik über das Münch­ner Abkom­men zum Hitler-Stalin-Pakt

3. Zur Bedeu­tung des Pak­tes für den Ver­lauf und Aus­gang des Zwei­ten Weltkrieges

2. Von der Appease­ment-Poli­tik über das Münch­ner Abkom­men zum Hitler-Stalin-Pakt

Im ers­ten Teil die­ser Serie wur­de auf die poli­ti­sche Situa­ti­on in den rus­si­schen Anrai­ner­staa­ten zu Ende des Ers­ten Welt­krie­ges und auf die Ent­wick­lun­gen ange­sichts der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on ein­ge­gan­gen. Die West­mäch­te Frank­reich und Eng­land, zuvor in einer Entente mit Russ­land gegen die Mit­tel­mäch­te um das Deut­sche Kai­ser­reich enga­giert, grif­fen auf der Sei­te der Kon­ter­re­vo­lu­ti­on in den rus­si­schen Bür­ger­krieg ein. Die­se anti­so­zia­lis­ti­sche Hal­tung wur­de für die west­li­chen Eli­ten zum Dilem­ma, als die Sowjet­uni­on in den 30er Jah­ren eine diplo­ma­ti­sche Initia­ti­ve in Form eines gemein­sa­men Ver­tei­di­gungs­bünd­nis­ses gegen das aggres­si­ve Nazi­deutsch­land ergriff: Die anti­so­wje­ti­schen Plä­ne Hit­lers waren die­sen Eli­ten sym­pa­thisch, so dass die sowje­ti­schen Vor­schlä­ge bei ihnen auf wenig Gegen­lie­be stie­ßen; dage­gen wur­de die sowje­ti­sche Initia­ti­ve durch die öffent­li­che Mei­nung und einen beträcht­li­chen Teil der Medi­en begrüßt. Die bri­ti­sche und fran­zö­si­sche Poli­tik ver­such­ten die­ses Dilem­ma durch ihre Appease­ment-Poli­tik zu lösen. Die­se zöger­li­che bis ableh­nen­de Poli­tik leg­te einen der Grund­stei­ne für den Hitler-Stalin-Pakt.

Ursprung der Appeasement-Politik

Nach dem Ers­ten Welt­krieg waren die Eli­ten auf bei­den Sei­ten des Ärmel­ka­nals gezwun­gen, ziem­lich weit­rei­chen­de demo­kra­ti­sche Refor­men durch­zu­füh­ren, wie zum Bei­spiel eine erheb­li­che Aus­wei­tung des Wahl­rechts in Groß­bri­tan­ni­en. Dadurch muss­te man die Mei­nung der Labour-Anhän­ger und ande­rer lin­ker Pla­ge­geis­ter in den Par­la­men­ten berück­sich­ti­gen und sie manch­mal sogar in Koali­ti­ons­re­gie­run­gen ein­be­zie­hen. Die öffent­li­che Mei­nung und ein beträcht­li­cher Teil der Medi­en stan­den Hit­ler mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit feind­se­lig gegen­über und befür­wor­te­ten daher nach­drück­lich den sowje­ti­schen Vor­schlag für ein Ver­tei­di­gungs­bünd­nis gegen Nazi­deutsch­land. Die Eli­ten woll­ten ein sol­ches Bünd­nis ver­mei­den, aber sie woll­ten auch den Ein­druck erwe­cken, dass sie die­ses Bünd­nis woll­ten; umge­kehrt woll­ten sie Hit­ler ermu­ti­gen, die Sowjet­uni­on anzu­grei­fen, und ihm sogar dabei hel­fen, aber sie muss­ten sicher­stel­len, dass die Öffent­lich­keit das nicht merk­te. Die­ses Dilem­ma führ­te zu einer ver­wi­ckel­ten poli­ti­schen Ent­wick­lung, deren offen­kun­di­ge Funk­ti­on dar­in bestand, die Öffent­lich­keit davon zu über­zeu­gen, dass ihre Füh­rer den sowje­ti­schen Vor­schlag für eine gemein­sa­me Front gegen die Nazis begrüß­ten, deren laten­te – also tat­säch­li­che – Funk­ti­on jedoch dar­in bestand, Hit­lers anti­so­wje­ti­sche Plä­ne zu unter­stüt­zen: die berüch­tig­te »Appease­ment-Poli­tik«, die vor allem mit dem Namen des bri­ti­schen Pre­mier­mi­nis­ters Neville Cham­ber­lain und sei­nes fran­zö­si­schen Amts­kol­le­gen Édouard Dal­adier ver­bun­den ist.1

Als Hit­ler 1933 in Deutsch­land an die Macht kam und mit den Vor­be­rei­tun­gen eines Krie­ges gegen die Sowjet­uni­on begann, mach­ten sich die mäch­ti­gen Befür­wor­ter der Beschwich­ti­gungs­po­li­tik sofort an die Arbeit. Bereits 1935 gab Lon­don Hit­ler grü­nes Licht für die Auf­rüs­tung, indem es mit ihm einen Flot­ten­ver­trag unter­zeich­ne­te. Hit­ler ver­stieß dar­auf­hin gegen alle mög­li­chen Bestim­mun­gen des Ver­sailler Ver­trags, indem er bei­spiels­wei­se die Wehr­pflicht in Deutsch­land wie­der ein­führ­te, das deut­sche Mili­tär bis an die Zäh­ne bewaff­ne­te und 1937 Öster­reich annektierte.

West­li­ches Lamen­tie­ren, deut­sche Auf­rüs­tung, sowje­ti­sche Vorschläge

Die Staats­män­ner in Lon­don und Paris lamen­tier­ten und pro­tes­tier­ten jedes Mal, um bei der Öffent­lich­keit einen guten Ein­druck zu hin­ter­las­sen, aber am Ende akzep­tier­ten sie die voll­ende­ten Tat­sa­chen (und Washing­ton und Otta­wa stimm­ten zu). Die Öffent­lich­keit wur­de in dem Glau­ben gelas­sen, dass eine sol­che Nach­sicht erfor­der­lich sei, um einen Krieg zu ver­mei­den. Die­se Aus­re­de war zunächst von Erfolg gekrönt, denn die meis­ten Bri­ten und Fran­zo­sen woll­ten kei­ne Neu­auf­la­ge des mör­de­ri­schen Gro­ßen Krie­ges von 1914 – 1918. Ande­rer­seits wur­de bald klar, dass das Appease­ment Nazi­deutsch­land mili­tä­risch stär­ker mach­te und Hit­ler immer ehr­gei­zi­ger und for­dern­der wur­de. In die­sem Zusam­men­hang hat­te die Öffent­lich­keit das Gefühl, dass dem deut­schen Dik­ta­tor genug Zuge­ständ­nis­se gemacht wor­den waren, und in die­sem Moment schlu­gen die Sowjets in Per­son von Lit­wi­now ein Anti-Hit­ler-Bünd­nis vor. Den Archi­tek­ten des Appease­ment, von denen Hit­ler noch mehr Zuge­ständ­nis­se erwar­te­te, berei­te­te dies Kopfzerbrechen.

Dank der bereits gemach­ten Zuge­ständ­nis­se ent­wi­ckel­te sich Nazi­deutsch­land zu einem mili­tä­ri­schen Gigan­ten, und 1939 schien nur eine gemein­sa­me Front der West­mäch­te und der Sowjet­uni­on das Poten­zi­al zu haben, ihm erfolg­reich ent­ge­gen­zu­tre­ten, denn im Fal­le eines Krie­ges wür­de Deutsch­land an zwei Fron­ten kämp­fen müs­sen. Die füh­ren­den Poli­ti­ker in Lon­don und Paris erklär­ten sich unter dem star­ken Druck der öffent­li­chen Mei­nung bereit, mit Mos­kau zu ver­han­deln, doch es gab einen Haken an der Sache: Deutsch­land hat­te kei­ne gemein­sa­me Gren­ze mit der Sowjet­uni­on, da Polen zwi­schen die­sen bei­den Län­dern lag. Zumin­dest offi­zi­ell war Polen ein Ver­bün­de­ter Frank­reichs, so dass man erwar­ten konn­te, dass es sich einem Ver­tei­di­gungs­bünd­nis gegen Nazi­deutsch­land anschlie­ßen wür­de. Die Regie­rung in War­schau stand der Sowjet­uni­on jedoch feind­se­lig gegen­über und wei­ger­te sich hart­nä­ckig, der Roten Armee im Kriegs­fall zu gestat­ten, pol­ni­sches Gebiet zu betre­ten, um gegen die Deut­schen zu kämp­fen. Lon­don und Paris lehn­ten es ab, Druck auf War­schau aus­zu­üben, so dass die Ver­hand­lun­gen nicht zu einem Abkom­men führten.

Das Münch­ner Abkommen

In der Zwi­schen­zeit stell­te Hit­ler neue For­de­run­gen, die­ses Mal hin­sicht­lich der Tsche­cho­slo­wa­kei. Als Prag sich wei­ger­te, das von einer deutsch­spra­chi­gen Min­der­heit, den Sude­ten, bewohn­te Gebiet, abzu­tre­ten, droh­te die Situa­ti­on in einem Krieg zu explo­die­ren. Dies war eigent­lich eine ein­ma­li­ge Gele­gen­heit, ein Anti-Hit­ler-Bünd­nis mit der Sowjet­uni­on und der mili­tä­risch star­ken Tsche­cho­slo­wa­kei als Part­ner der Bri­ten und Fran­zo­sen zu schlie­ßen: Hit­ler hät­te die Wahl zwi­schen einem demü­ti­gen­den Rück­zug und einer prak­tisch siche­ren Nie­der­la­ge in einem Zwei­fron­ten­krieg gehabt. Das bedeu­te­te aber auch, dass der »Füh­rer« nie­mals den anti­so­wje­ti­schen Kreuz­zug hät­te star­ten kön­nen, den sich die Staats­män­ner, die in Lon­don und Paris die Inter­es­sen der Ober­schicht ver­tra­ten, gewünscht hat­ten.2 Des­halb nutz­ten Cham­ber­lain und Dal­adier die tsche­cho­slo­wa­ki­sche Kri­se nicht, um mit den Sowjets eine gemein­sa­me Front gegen Hit­ler zu bil­den, son­dern bega­ben sich im Gegen­teil eilig nach Mün­chen, um mit dem deut­schen Dik­ta­tor ein Abkom­men zu schlie­ßen, bei dem Hit­ler die Sude­ten­ge­bie­te, zu denen zufäl­lig auch die tsche­cho­slo­wa­ki­sche Ver­si­on der Magi­not-Linie gehör­te, auf dem Sil­ber­ta­blett ser­viert wur­den. Die tsche­cho­slo­wa­ki­sche Regie­rung, die nicht kon­sul­tiert wor­den war, hat­te kei­ne ande­re Wahl, als sich zu fügen, und die Sowjets, die Prag mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung ange­bo­ten hat­ten, wur­den nicht ein­mal zu die­sem berüch­tig­ten Tref­fen eingeladen.

In dem »Pakt«, den sie mit Hit­ler in Mün­chen schlos­sen, mach­ten die bri­ti­schen und fran­zö­si­schen Staats­män­ner dem deut­schen Dik­ta­tor enor­me Zuge­ständ­nis­se; nicht um des Frie­dens wil­len, son­dern um wei­ter von einem Kreuz­zug der Nazis gegen die Sowjet­uni­on träu­men zu kön­nen. Den Men­schen zu Hau­se wur­de das Abkom­men jedoch als die ver­nünf­tigs­te Lösung für eine Kri­se prä­sen­tiert, die einen all­ge­mei­nen Krieg aus­zu­lö­sen droh­te. »Frie­den in unse­rer Zeit«, rief Cham­ber­lain nach sei­ner Rück­kehr nach Eng­land tri­um­phie­rend. Er mein­te damit den Frie­den für sein eige­nes Land und sei­ne Ver­bün­de­ten, aber natür­lich nicht für die Sowjet­uni­on, deren Ver­nich­tung durch die Nazis er sehn­süch­tig erwartete.

In Groß­bri­tan­ni­en gab es auch Poli­ti­ker, die sich Cham­ber­lains Appease­ment-Poli­tik wider­setz­ten, dar­un­ter eine Hand­voll gut­gläu­bi­ger Mit­glie­der der Ober­schicht des Lan­des, zum Bei­spiel Win­s­ton Chur­chill. Sie taten dies nicht aus Sym­pa­thie für die Sowjet­uni­on, son­dern weil sie Hit­ler nicht trau­ten und befürch­te­ten, dass Appease­ment in zwei­er­lei Hin­sicht kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Ers­tens wür­de die Erobe­rung der Sowjet­uni­on Nazi­deutsch­land prak­tisch unbe­grenz­te Roh­stof­fe, dar­un­ter Erd­öl, frucht­ba­res Land und ande­re Reich­tü­mer, besche­ren und es dem Reich ermög­li­chen, auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent eine Hege­mo­nie zu errich­ten, die für Groß­bri­tan­ni­en eine grö­ße­re Gefahr dar­stel­len wür­de als Napo­le­on es je war. Zwei­tens war es auch mög­lich, dass sowohl die Macht Nazi­deutsch­lands als auch die Schwä­che der Sowjet­uni­on über­schätzt wur­den, so dass Hit­lers anti­so­wje­ti­scher Kreuz­zug tat­säch­lich zu einem sowje­ti­schen Sieg füh­ren könn­te, was eine mög­li­che »Bol­sche­wi­sie­rung« Deutsch­lands und viel­leicht ganz Euro­pas zur Fol­ge hätte.

Aus die­sem Grund stand Chur­chill dem in Mün­chen geschlos­se­nen Abkom­men äußerst kri­tisch gegen­über. Er soll geäu­ßert haben, dass Cham­ber­lain in der baye­ri­schen Haupt­stadt zwi­schen Schan­de und Krieg habe wäh­len kön­nen, dass er die Schan­de gewählt habe, aber auch den Krieg bekom­men wer­de. Mit sei­nem »Frie­den in unse­rer Zeit« hat Cham­ber­lain in der Tat einen bedau­er­li­chen Feh­ler began­gen. Nur ein Jahr spä­ter, 1939, soll­te sein Land in einen Krieg gegen Nazi-Deutsch­land ver­wi­ckelt wer­den, das dank des skan­da­lö­sen Münch­ner Pakts zu einem noch stär­ke­ren Geg­ner gewor­den war.

Zur Rol­le Polens – pol­ni­sche Außen­po­li­tik, pol­ni­sche Träume

Aus­schlag­ge­bend für das Schei­tern der Ver­hand­lun­gen zwi­schen dem eng­lisch-fran­zö­si­schen Duo und den Sowjets war vor allem der unaus­ge­spro­che­ne Unwil­le der Beschwich­ti­gungs­par­tei­en, ein Anti-Hit­ler-Abkom­men zu schlie­ßen. Ein zusätz­li­cher Fak­tor war die Wei­ge­rung der Regie­rung in War­schau, die Anwe­sen­heit sowje­ti­scher Trup­pen auf pol­ni­schem Gebiet im Fal­le eines Krie­ges gegen Deutsch­land zuzu­las­sen. Dies lie­fer­te Cham­ber­lain und Dal­adier einen Vor­wand, um kein Abkom­men mit den Sowjets zu schlie­ßen, einen Vor­wand, den sie brauch­ten, um die öffent­li­che Mei­nung zufrie­den zu stel­len. (Es wur­den aber auch ande­re Aus­re­den her­auf­be­schwo­ren, etwa die angeb­li­che Schwä­che der Roten Armee, die die Sowjet­uni­on angeb­lich zu einem unbrauch­ba­ren Ver­bün­de­ten mach­te.) Was die Rol­le der pol­ni­schen Regie­rung in die­sem Dra­ma betrifft, so gibt es eini­ge gra­vie­ren­de Miss­ver­ständ­nis­se. Schau­en wir sie uns genau­er an.

Zunächst ein­mal ist zu berück­sich­ti­gen, dass das Polen der Zwi­schen­kriegs­zeit bei Wei­tem kein demo­kra­ti­sches Land war. Nach sei­ner Wie­der­ge­burt am Ende des Ers­ten Welt­kriegs als nomi­nel­le Demo­kra­tie dau­er­te es nicht lan­ge, bis das Land mit eiser­ner Hand von einem Mili­tär­dik­ta­tor, Gene­ral Pil­sud­ski, im Namen einer hete­ro­ge­nen Eli­te regiert wur­de, die die Aris­to­kra­tie, der er selbst ange­hör­te, die katho­li­sche Kir­che und die Bour­geoi­sie umfass­te. Die­ses un- und anti­de­mo­kra­ti­sche Regime regier­te auch nach dem Tod des Gene­rals im Jahr 1935 wei­ter, und zwar unter der Füh­rung von »Pil­sudskis Obers­ten«, deren Pri­mus inter pares der Außen­mi­nis­ter Jozef Beck war. Zumin­dest offi­zi­ell spie­gel­te sei­ne Außen­po­li­tik eine küh­le Hal­tung gegen­über Deutsch­land wider, aber kei­nes­wegs eine Feind­schaft. Nach dem Ers­ten Welt­krieg hat­te Deutsch­land einen Teil sei­nes Ter­ri­to­ri­ums an den neu­en pol­ni­schen Staat ver­lo­ren, dar­un­ter einen »Kor­ri­dor«, der Ost­preu­ßen vom Rest des Rei­ches trenn­te, und sowohl die Deut­schen als auch die Polen erho­ben Anspruch auf die wich­ti­ge Ost­see­ha­fen­stadt Dan­zig, die im Ver­sailler Ver­trag zu einem unab­hän­gi­gen Stadt­staat erklärt wor­den war. Beck behielt jedoch die guten Bezie­hun­gen zum Hit­ler-Regime bei, die von Pil­sud­ski auf­ge­baut wor­den waren.

Im kras­sen Gegen­satz zu sei­ner wohl­wol­len­den Hal­tung gegen­über Nazi­deutsch­land war das War­schau­er Regime sei­nem gro­ßen Nach­barn im Osten, der Sowjet­uni­on, offen feind­lich gesinnt. Wie Pil­sud­ski selbst träum­ten auch sei­ne Nach­fol­ger von einer Wie­der­ge­burt des gro­ßen pol­nisch-litaui­schen Rei­ches, das sich einst von der Ost­see bis zum Schwar­zen Meer erstreck­te. Wie bereits erwähnt, hat­te Pil­sud­ski den Bür­ger­krieg in Russ­land genutzt, um sich ein gro­ßes Stück des ehe­ma­li­gen Zaren­reichs anzu­eig­nen. Die­ses Gebiet, das unge­nau als »Ost­po­len« bezeich­net wur­de, erstreck­te sich über meh­re­re hun­dert Kilo­me­ter öst­lich der berühm­ten Cur­zon-Linie, die die Ost­gren­ze des neu­en pol­ni­schen Staa­tes hät­te bil­den sol­len, zumin­dest nach Ansicht der West­mäch­te, die am Ende des Ers­ten Welt­kriegs Pate für das neue Polen gestan­den hat­ten. Die Regi­on war über­wie­gend von Weiß­rus­sen und Ukrai­nern besie­delt, wur­de aber in den fol­gen­den Jah­ren von War­schau durch die Ansied­lung pol­ni­scher Sied­ler so weit wie mög­lich »polo­ni­siert«.

Die pol­ni­sche Feind­se­lig­keit gegen­über der Sowjet­uni­on wur­de auch dadurch geschürt, dass die Sowjets mit den Kom­mu­nis­ten und ande­ren Ple­be­jern sym­pa­thi­sier­ten, die gegen das Patri­zi­er­re­gime in Polen selbst oppo­nier­ten. Und schließ­lich war die pol­ni­sche Eli­te anti­se­mi­tisch und hat­te sich das Kon­zept des Juden­bol­sche­wis­mus zu eigen gemacht, d. h. die Vor­stel­lung, dass die Sowjet­uni­on, das Pro­dukt eines bol­sche­wis­ti­schen und damit angeb­lich jüdi­schen Revo­lu­ti­ons­plans, nichts ande­res sei als ein »Russ­land unter Juden­herr­schaft«.3 Den­noch wur­den die Bezie­hun­gen zur Sowjet­uni­on bereits unter Pil­sud­ski im Jahr 1932 durch die Unter­zeich­nung eines Nicht­an­griffs­ver­trags so weit wie mög­lich nor­ma­li­siert. Und einen ähn­li­chen »Nicht­an­griffs­pakt« schloss Pil­sud­ski inner­halb eines Jah­res nach Hit­lers Macht­an­tritt, näm­lich 1934, mit Nazideutschland.

Nach dem Tod Pil­sudskis träum­ten die pol­ni­schen Füh­rer wei­ter­hin von einer Aus­deh­nung des pol­ni­schen Ter­ri­to­ri­ums bis zu den Gren­zen des qua­si-mythi­schen Groß­po­lens einer fer­nen Ver­gan­gen­heit. Für die Ver­wirk­li­chung die­ses Traums schien es zahl­rei­che Mög­lich­kei­ten im Osten zu geben, ins­be­son­de­re in der Ukrai­ne, einem Teil der Sowjet­uni­on, der sich ein­la­dend zwi­schen Polen und dem Schwar­zen Meer erstreck­te. Trotz eini­ger Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten mit Deutsch­land und eines for­mel­len Bünd­nis­ses mit Frank­reich, das im Fal­le eines Kon­flikts mit Deutsch­land auf pol­ni­sche Hil­fe zähl­te, erwärm­ten sich zunächst Pil­sud­ski selbst und dann sei­ne Nach­fol­ger für das Nazi­re­gime in der Hoff­nung auf eine gemein­sa­me Erobe­rung der sowje­ti­schen Ter­ri­to­ri­en.4

Der pol­ni­sche Flirt mit den Nazis

Die­se Annä­he­rung zwi­schen den bei­den Regi­men, die von einer Expan­si­on auf Kos­ten der Sowjet­uni­on träum­ten, wur­de durch einen wei­te­ren gemein­sa­men Nen­ner erleich­tert: den Anti­se­mi­tis­mus. Bei einem Tref­fen von Oberst Beck mit Hit­ler am 5. Janu­ar 1939 in Berch­tes­ga­den wur­de die Fra­ge erör­tert, wie sich War­schau und Ber­lin ihrer jüdi­schen Min­der­hei­ten ent­le­di­gen könn­ten, zum Bei­spiel durch Depor­ta­ti­on nach Afri­ka. Eini­ge Mona­te zuvor, im Okto­ber 1938, hat­te der pol­ni­sche Bot­schaf­ter in Deutsch­land, Josef Lip­ski, nach einem Tref­fen, bei dem Hit­ler ein gemein­sa­mes Pro­jekt zur Ver­schif­fung von Juden »in die Kolo­nien« vor­ge­schla­gen hat­te, geant­wor­tet, dass »wir ihm in War­schau ein schö­nes Denk­mal errich­ten wür­den«, wenn er das schaf­fen wür­de.5

Hit­ler und Beck

Daher ist es ver­ständ­lich, dass zuerst Pil­sud­ski und dann sei­ne Nach­fol­ger, obwohl sie for­mal mit Frank­reich ver­bün­det waren, sich auf einen hef­ti­gen Flirt mit den Nazis ein­lie­ßen. 1934, nach dem Abschluss eines Nicht­an­griffs- und Freund­schafts­ver­trags, der durch den gemein­sa­men Hass auf Rus­sen, »Rote« im All­ge­mei­nen und Juden zemen­tiert wur­de, tra­fen sich hoch­ran­gi­ge pol­ni­sche und natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Beam­te, um über die Mög­lich­keit gemein­sa­mer Anstren­gun­gen zur Los­lö­sung der Ukrai­ne von der Sowjet­uni­on zu spre­chen. Im Janu­ar 1935 wur­de Göring in War­schau mit einem auf­wen­di­gen Emp­fang in Pil­sudskis Resi­denz begrüßt. Erneut wur­de ein mög­li­ches anti­so­wje­ti­sches Bünd­nis erör­tert, wobei die pol­ni­sche Sei­te Zuge­ständ­nis­se in Bezug auf Dan­zig und den pol­ni­schen Kor­ri­dor als Gegen­leis­tung für Gebiets­ge­win­ne in der Ukrai­ne anbot. Göring schlug Berich­ten zufol­ge vor, dass Pil­sud­ski der Ober­be­fehls­ha­ber einer pol­nisch-deut­schen Inva­si­ons­ar­mee sein könn­te, und pol­ni­sche Füh­rungs­kräf­te wie der Bot­schaf­ter in Ber­lin, Lip­ski, waren Berich­ten zufol­ge von die­ser Aus­sicht »begeis­tert«. Es ist so gut wie sicher, dass nicht nur eine mili­tä­ri­sche Zusam­men­ar­beit, son­dern auch die Auf­tei­lung der Ukrai­ne in Ein­fluss­sphä­ren erör­tert wur­de. Spä­ter im sel­ben Jahr kam es in Ber­lin und Dres­den zu Gesprä­chen zwi­schen pol­ni­schen Gene­rä­len und ihren deut­schen Kol­le­gen, und ein gemein­sa­mes Vor­ge­hen gegen die Tsche­cho­slo­wa­kei wur­de bei Tref­fen poli­ti­scher Grö­ßen in Ber­lin ange­spro­chen, dar­un­ter Hit­ler selbst, Göring, Rib­ben­trop und Beck, über den die fran­zö­si­schen Geheim­diens­te berich­te­ten, er sei Hit­ler gegen­über völ­lig »unter­wür­fig« (infé­o­dé). Noch im Janu­ar 1939 schrieb der NS-Außen­mi­nis­ter Rib­ben­trop nach einem Tref­fen mit Beck, dass der pol­ni­sche Füh­rer »kei­nen Hehl dar­aus macht, dass Polen Bestre­bun­gen hat, die auf die sowje­ti­sche Ukrai­ne und eine Ver­bin­dung zum Schwar­zen Meer gerich­tet sind«. Es ist klar, dass sol­che Ansprü­che ohne die Zusam­men­ar­beit mit Nazi-Deutsch­land nie­mals ver­wirk­licht wer­den konn­ten.6

Der Flirt War­schaus mit Ber­lin ist ein Bei­spiel für den Grö­ßen­wahn und die Nai­vi­tät der pol­ni­schen Füh­rung, die glaub­te, ihr Land sei eine Groß­macht von glei­chem Kali­ber wie Deutsch­land, die von Ber­lin respek­tiert und als voll­wer­ti­ger Part­ner behan­delt wür­de. Die Nazis schür­ten die­se Illu­si­on, weil sie damit das Bünd­nis zwi­schen Polen und Frank­reich schwäch­ten. Die pol­ni­schen – und deut­schen – Ambi­tio­nen im Osten wur­den auch vom Vati­kan geför­dert, der sich von den Erobe­run­gen des katho­li­schen Polens in der mehr­heit­lich ortho­do­xen Ukrai­ne, die als reif für den Über­tritt zum Katho­li­zis­mus ange­se­hen wur­de, erheb­li­che Gewin­ne ver­sprach. In die­sem Zusam­men­hang wur­de von der Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne­rie von Goeb­bels in Zusam­men­ar­beit mit Polen und dem Vati­kan ein neu­er Mythos her­auf­be­schwo­ren, näm­lich die Fik­ti­on einer von Mos­kau insze­nier­ten Hun­gers­not in der Ukrai­ne, die es ermög­li­chen soll­te, künf­ti­ge pol­ni­sche und deut­sche Mili­tär­in­ter­ven­tio­nen dort als huma­ni­tä­re Akti­on dar­zu­stel­len. Die­ser Mythos soll­te wäh­rend des Kal­ten Krie­ges wie­der­be­lebt wer­den und zum Schöp­fungs­my­thos des unab­hän­gi­gen ukrai­ni­schen Staa­tes wer­den, der aus den Trüm­mern der Sowjet­uni­on her­vor­ging.7,8

Auf die­sem Hin­ter­grund kön­nen wir die Hal­tung der pol­ni­schen Regie­rung zur Zeit der Ver­hand­lun­gen über eine gemein­sa­me Ver­tei­di­gungs­front gegen Nazi­deutsch­land ver­ste­hen. War­schau behin­der­te die­se Gesprä­che nicht aus Angst vor der Sowjet­uni­on, son­dern im Gegen­teil aus anti­so­wje­ti­schen Bestre­bun­gen her­aus. In die­ser Hin­sicht lag die pol­ni­sche Eli­te auf der glei­chen Wel­len­län­ge wie die bri­ti­sche und fran­zö­si­sche. So ist es auch ver­ständ­lich, dass sich Polen nach dem Abschluss des Münch­ner Abkom­mens, das Nazi-Deutsch­land die Anne­xi­on des Sude­ten­ge­biets ermög­lich­te, ein Stück der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Gebiets­beu­te, näm­lich die Stadt Teschen und ihre Umge­bung, aneig­ne­te. Indem das pol­ni­sche Regime über die­sen Teil der Tsche­cho­slo­wa­kei her­fiel wie eine »Hyä­ne«, wie Chur­chill bemerk­te, offen­bar­te es sei­ne wah­ren Absich­ten – und sei­ne Kom­pli­zen­schaft mit Hitler.

Hit­ler for­dert Danzig

Die Zuge­ständ­nis­se der Archi­tek­ten der Beschwich­ti­gungs­po­li­tik führ­ten dazu, dass Nazi-Deutsch­land immer stär­ker wur­de und Hit­ler selbst­be­wuss­ter, arro­gan­ter und for­dern­der als je zuvor wur­de. Nach Mün­chen zeig­te er sich noch lan­ge nicht satt und ver­stieß im März 1939 gegen das Münch­ner Abkom­men, indem er den Rest der Tsche­cho­slo­wa­kei besetz­te. Etwa zur glei­chen Zeit zwang er Litau­en, die Stadt Klai­pe­da (deutsch: Memel) an Deutsch­land abzu­tre­ten. In Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en war die Öffent­lich­keit scho­ckiert, aber die herr­schen­den Eli­ten taten nichts, als die Hän­de zu rin­gen und die Hoff­nung zu äußern, dass »Herr Hit­ler« end­lich »ver­nünf­tig« wer­den wür­de, d. h. sei­nen Krieg gegen die Sowjet­uni­on begin­nen wür­de. Hit­ler hat­te schon immer die­se Absicht, aber bevor er den Bri­ten und Fran­zo­sen nach­gab, woll­te er ihnen noch eini­ge Zuge­ständ­nis­se abpres­sen. Schließ­lich schien es nichts zu geben, was sie ihm ver­wei­gern konn­ten. Und waren sie, nach­dem sie Deutsch­land durch ihre frü­he­ren Zuge­ständ­nis­se so viel stär­ker gemacht hat­ten, in der Lage, ihm den ver­mut­lich letz­ten klei­nen Gefal­len zu ver­wei­gern, um den er bat? Die­ser letz­te klei­ne Gefal­len betraf das Land, des­sen herr­schen­de Eli­te sich als sein Part­ner betrach­te­te: Polen.

Gegen Ende März 1939 for­der­te Hit­ler plötz­lich Dan­zig sowie eini­ge pol­ni­sche Gebie­te, die zwi­schen Ost­preu­ßen und dem übri­gen Deutsch­land lagen. Er rech­ne­te zwei­fel­los damit, dass »die Polen nach den übli­chen Schi­ka­nen nach­ge­ben wür­den, um dann ein Ver­bün­de­ter gegen die Sowjet­uni­on zu wer­den«.9 Die­ses Sze­na­rio hät­te Cham­ber­lain und sei­nen Mit­strei­tern in Lon­don und Paris sicher­lich gefal­len, so dass sie geneigt waren, erneut nach­zu­ge­ben. Die Oppo­si­ti­on in den Medi­en und im Unter­haus erwies sich jedoch als zu stark, um dies zuzu­las­sen. Cham­ber­lain änder­te dar­auf­hin plötz­lich sei­nen Kurs und ver­sprach War­schau am 31. März for­mell – aber völ­lig unrea­lis­tisch, wie Chur­chill bemerk­te – bewaff­ne­te Unter­stüt­zung im Fal­le eines deut­schen Angriffs auf Polen. Im April 1939, als Mei­nungs­um­fra­gen erga­ben, was alle bereits wuss­ten, näm­lich dass fast neun­zig Pro­zent der bri­ti­schen Bevöl­ke­rung ein Anti-Hit­ler-Bünd­nis an der Sei­te der Sowjet­uni­on und Frank­reichs wünsch­ten, sah sich Cham­ber­lain gezwun­gen, offi­zi­ell Inter­es­se an dem sowje­ti­schen Vor­schlag für Gesprä­che über »kol­lek­ti­ve Sicher­heit« ange­sichts der Nazi-Bedro­hung zu bekunden.

In Wirk­lich­keit waren die Ver­fech­ter der Beschwich­ti­gungs­po­li­tik immer noch nicht an dem sowje­ti­schen Vor­schlag inter­es­siert und dach­ten sich alle mög­li­chen Vor­wän­de aus, um den Abschluss eines Abkom­mens mit einem Land, das sie ver­ach­te­ten, und gegen ein Land, mit dem sie ins­ge­heim sym­pa­thi­sier­ten, zu ver­mei­den. Erst im Juli 1939 erklär­ten sie sich zu mili­tä­ri­sche Ver­hand­lun­gen bereit, und erst Anfang August wur­de eine fran­zö­sisch-bri­ti­sche Dele­ga­ti­on zu die­sem Zweck in die Sowjet­uni­on ent­sandt. Im Gegen­satz zu der Schnel­lig­keit, mit der Cham­ber­lain ein Jahr zuvor (in Beglei­tung von Dal­adier) mit dem Flug­zeug nach Mün­chen geeilt war, wur­de dies­mal ein Team anony­mer Unter­ge­be­ner an Bord eines lang­sa­men Frach­ters nach Lenin­grad ver­schifft, um von dort aus mit dem Zug nach Mos­kau wei­ter­zu­rei­sen. Als sie schließ­lich am 11. August in Mos­kau anka­men, stell­te sich her­aus, dass sie nicht über die für der­ar­ti­ge Gesprä­che erfor­der­li­che Legi­ti­ma­ti­on oder Auto­ri­tät ver­füg­ten. Zu die­sem Zeit­punkt hat­ten die Sowjets genug, und man kann ver­ste­hen, war­um sie die Ver­hand­lun­gen abbra­chen und began­nen, den Nach­rich­ten aus Ber­lin Beach­tung zu schen­ken, die sie erhal­ten hatten.

Ber­lin geht auf Mos­kau zu

In der Tat hat­te Ber­lin dis­kret eine Annä­he­rung an Mos­kau ein­ge­lei­tet. Der Grund: Hit­ler hat­te immer die Absicht gehabt, gegen die Sowjet­uni­on in den Krieg zu zie­hen. Die­ser Plan schien rea­li­sier­bar, da die West­mäch­te durch ihre Appease­ment-Poli­tik signa­li­sier­ten, dass sie mit sei­nem Vor­ha­ben sym­pa­thi­sier­ten und neu­tral blei­ben wür­den, sozu­sa­gen ein ter­ti­us gau­dens, wäh­rend er sei­ne Trup­pen nach Mos­kau schick­te; und bis Anfang 1939 hat­te der deut­sche Dik­ta­tor gute Grün­de zu glau­ben, dass Polen eben­falls ein wohl­wol­len­der Zuschau­er oder viel­leicht sogar ein Ver­bün­de­ter sein wür­de, wie wir gleich sehen wer­den. Die Situa­ti­on änder­te sich jedoch, als Polen sich wei­ger­te, in Bezug auf Dan­zig nach­zu­ge­ben, und die Beschwich­ti­gungs­po­li­ti­ker in Lon­don und Paris unter dem Druck der öffent­li­chen Mei­nung und im Glau­ben, Hit­ler bluf­fe, ein äußerst unrea­lis­ti­sches Ver­spre­chen abga­ben, Polen im Fal­le eines deut­schen Angriffs zu unter­stüt­zen. Hit­ler blieb ent­schlos­sen, die Sowjet­uni­on zu zer­stö­ren, was er als sei­ne Lebens­auf­ga­be erach­te­te. Dazu muss­te er jedoch zunächst den öst­li­chen Nach­barn Deutsch­lands aus­schal­ten, was die Mög­lich­keit eines Krie­ges gegen das fran­zö­sisch-bri­ti­sche Duo, von dem er sich ver­ra­ten fühl­te, impli­zier­te. Das gro­ße Risi­ko eines deut­schen Angriffs auf Polen bestand dar­in, dass er zu einem Krieg gegen eine mäch­ti­ge Koali­ti­on der West­mäch­te mit der Sowjet­uni­on füh­ren könn­te, was einen Zwei­fron­ten­krieg bedeu­te­te. Dies waren die Umstän­de, die Hit­ler dazu ver­an­lass­ten, eine Ver­ein­ba­rung mit Sta­lin zu tref­fen. Im Fal­le der sowje­ti­schen Neu­tra­li­tät glaub­te er, von dem fran­zö­sisch-bri­ti­schen Tan­dem nicht viel zu befürch­ten zu haben. Er rech­ne­te damit (wie sich her­aus­stell­te, zu Recht), dass die Beschwich­ti­ger bereit sein wür­den, Polen auf dem Altar ihres Anti­so­wje­tis­mus zu opfern, so wie sie es zuvor mit der Tsche­cho­slo­wa­kei getan hat­ten. (Ohne die Hil­fe der Sowjets war die Ret­tung Polens im Fal­le eines deut­schen Angriffs offen­sicht­lich ohne­hin eine »Mis­si­on impos­si­ble«, und nur weni­ge Bri­ten und Fran­zo­sen waren bereit, »für Dan­zig zu ster­ben«). Hit­ler brauch­te die sowje­ti­sche Neu­tra­li­tät, und er brauch­te sie drin­gend, und des­halb wand­te er sich an Mos­kau. Und für die­se Neu­tra­li­tät war er bereit, einen hohen Preis zu zahlen.

Aus Mos­kau­er Sicht stand das Ber­li­ner Ange­bot in kras­sem Gegen­satz zur Hal­tung der west­li­chen Beschwich­ti­gungs­po­li­ti­ker, die von den Sowjets ver­bind­li­che Hilfs­zu­sa­gen ver­lang­ten, ohne jedoch bedeu­ten­de Gegen­leis­tung anzu­bie­ten. Was zwi­schen Deutsch­land und der Sowjet­uni­on im Mai als infor­mel­le Gesprä­che im Rah­men von Han­dels­ver­hand­lun­gen ohne gro­ße Bedeu­tung begon­nen hat­te, an denen die Sowjets zunächst kein nen­nens­wer­tes Inter­es­se zeig­ten, ent­wi­ckel­te sich schließ­lich zu einem ernst­haf­ten Dia­log, an dem die Bot­schaf­ter bei­der Län­der und sogar die Außen­mi­nis­ter Joa­chim von Rib­ben­trop und Wjat­sches­law Molo­tow – letz­te­rer hat­te Lit­wi­now ersetzt – betei­ligt waren.

Ein unter­ge­ord­ne­ter Fak­tor, der den­noch nicht unter­schätzt wer­den soll­te, ist die Tat­sa­che, dass im Früh­jahr 1939 in Nord­chi­na sta­tio­nier­te japa­ni­sche Trup­pen in sowje­ti­sches Gebiet im Fer­nen Osten ein­ge­drun­gen waren. Im August wur­den sie besiegt und zurück­ge­drängt. Die japa­ni­sche Bedro­hung hat­te jedoch Bestand, was Mos­kau mit der Aus­sicht kon­fron­tier­te, einen Zwei­fron­ten­krieg füh­ren zu müs­sen, wenn nicht ein Weg gefun­den wür­de, die von Nazi­deutsch­land aus­ge­hen­de Bedro­hung zu besei­ti­gen. Die Ange­bo­te Ber­lins boten Mos­kau eine Mög­lich­keit, die­se Bedro­hung zu neu­tra­li­sie­ren. Doch erst im August, als die sowje­ti­sche Füh­rung fest­stell­te, dass die Bri­ten und Fran­zo­sen nicht gekom­men waren, um ernst­haf­te Ver­hand­lun­gen zu füh­ren, wur­de der Kno­ten durch­schla­gen und die Sowjet­uni­on unter­zeich­ne­te am 23. August einen Nicht­an­griffs­pakt mit Nazi­deutsch­land. Die­ses Abkom­men wur­de nach den bei­den Außen­mi­nis­tern Rib­ben­trop-Molo­tow-Pakt genannt, soll­te aber auch als Hit­ler-Sta­lin-Pakt bekannt wer­den. Dass ein sol­ches Abkom­men geschlos­sen wur­de, war kaum über­ra­schend: Eine Rei­he von poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Füh­rern in Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich hat­ten mehr­fach vor­aus­ge­sagt, dass die Beschwich­ti­gungs­po­li­tik von Cham­ber­lain und Dal­adier Sta­lin »in die Arme Hit­lers« trei­ben würde.

»In die Arme« ist in die­sem Zusam­men­hang ein unan­ge­mes­se­ner Aus­druck. Der Pakt spie­gel­te gewiss kei­ne war­men Gefüh­le zwi­schen den Unter­zeich­nern wider. Sta­lin lehn­te sogar den Vor­schlag ab, in den Text ein paar kon­ven­tio­nel­le Zei­len über eine hypo­the­ti­sche Freund­schaft zwi­schen den bei­den Völ­kern auf­zu­neh­men. Das Abkom­men führ­te nicht zu einem Bünd­nis, es war ledig­lich ein Nicht­an­griffs­pakt. Er ähnel­te somit einer Rei­he ande­rer Nicht­an­griffs­pak­te, die bereits zuvor mit Hit­ler unter­zeich­net wor­den waren, z. B. von Polen im Jahr 1934. Es han­del­te sich um eine Ver­ein­ba­rung, sich nicht gegen­sei­tig anzu­grei­fen, son­dern fried­li­che Bezie­hun­gen auf­recht zu erhal­ten, und Ver­ein­ba­run­gen die­ser Art gel­ten bekannt­lich »für die Lauf­zeit«, d. h. nur so lan­ge, wie bei­de Sei­ten sie für nütz­lich hal­ten. In einem Kom­men­tar zum Pakt wies Chur­chill dar­auf hin, dass die­ser nur vor­über­ge­hend gül­tig sei, und er beton­te, dass die bei­den Sys­te­me, der deut­sche Natio­nal­so­zia­lis­mus und der sowje­ti­sche Kom­mu­nis­mus, wei­ter­hin durch einen »töd­li­chen Ant­ago­nis­mus« getrennt sei­en.10

Die Geheim­klau­sel des Hitler-Stalin-Paktes

Dem Abkom­men wur­de eine Geheim­klau­sel bei­gefügt, die die Abgren­zung der Ein­fluss­sphä­ren in Polen und ande­ren ost­eu­ro­päi­schen Län­dern für jeden der Unter­zeich­ner fest­leg­te. Die­se Gren­ze ent­sprach mehr oder weni­ger der Cur­zon-Linie, so dass sich »Ost­po­len« dort wie­der­fand, wo es nach Ansicht der Bri­ten und Fran­zo­sen 1918 hin­ge­hör­te, näm­lich in der sowje­ti­schen Sphä­re. Was die­se theo­re­ti­sche Ver­ein­ba­rung in der Pra­xis bedeu­ten soll­te, war kei­nes­wegs klar, aber der Pakt bedeu­te­te sicher­lich kei­ne Tei­lung oder ter­ri­to­ria­le Ampu­ta­ti­on Polens, wie sie der Tsche­cho­slo­wa­kei von den Bri­ten und Fran­zo­sen im Münch­ner Abkom­men mit Hit­ler auf­er­legt wor­den war. Es sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die­ses Abkom­men den pol­ni­schen Staat in zwei Ein­fluss­sphä­ren auf­teil­te. Wir wer­den spä­ter sehen, was dies bedeu­te­te, wenn der pol­ni­sche Staat auf­hör­te zu exis­tie­ren, was – völ­lig uner­war­tet – im Sep­tem­ber 1939 gesche­hen sollte.

Die Tat­sa­che, dass die Sowjet­uni­on Anspruch auf eine Ein­fluss­sphä­re jen­seits ihrer Gren­zen erhob, wird manch­mal als Beweis für fins­te­re Expan­si­ons­ab­sich­ten gewer­tet. Die Schaf­fung von Ein­fluss­sphä­ren, sei es ein­sei­tig, bila­te­ral oder mul­ti­la­te­ral, war jedoch seit lan­gem eine weit­hin akzep­tier­te Pra­xis zwi­schen gro­ßen und weni­ger gro­ßen Mäch­ten und dien­te in der Regel der Kon­flikt­ver­mei­dung. Die Mon­roe-Dok­trin bei­spiels­wei­se, die von den USA in den 1820er Jah­ren ver­kün­det wur­de und die besag­te, dass »die Neue Welt und die Alte Welt deut­lich von­ein­an­der getrenn­te Ein­fluss­sphä­ren blei­ben soll­ten« (Wiki­pe­dia), soll­te neue trans­at­lan­ti­sche Kolo­ni­al­pro­jek­te euro­päi­scher Mäch­te ver­hin­dern, die sie in Kon­flikt mit den Ver­ei­nig­ten Staa­ten hät­ten brin­gen kön­nen. Als Chur­chill 1944 Mos­kau besuch­te und Sta­lin anbot, die Bal­kan­halb­in­sel in Ein­fluss­sphä­ren auf­zu­tei­len, ging es gleich­falls dar­um, einen Kon­flikt zwi­schen den bei­den Län­dern nach dem Ende des Krie­ges gegen Nazi­deutsch­land zu ver­mei­den. Anfang 1945 teil­te das Abkom­men von Jal­ta Euro­pa in ähn­li­cher Wei­se in zwei gro­ße Ein­fluss­sphä­ren auf; die­se Ver­ein­ba­rung war alles ande­re als glück­lich, aber sie dien­te der Erhal­tung des Frie­dens in Europa.

Hit­ler konn­te nun Polen angrei­fen, ohne Gefahr zu lau­fen, einen Krieg sowohl gegen die Sowjet­uni­on als auch gegen das fran­zö­sisch-bri­ti­sche Duo füh­ren zu müs­sen. Der deut­sche Dik­ta­tor hat­te sogar gute Grün­de, dar­an zu zwei­feln, dass Lon­don und Paris den Krieg erklä­ren wür­den. Ohne sowje­ti­sche Hil­fe war es klar, dass sie Polen kei­ne wirk­sa­me Unter­stüt­zung bie­ten konn­ten, so dass es nicht lan­ge bis zu einem deut­schen Sieg gedau­ert hät­te. (Nur die herr­schen­den Obers­ten in War­schau glaub­ten, dass Polen in der Lage sei, dem Ansturm der mäch­ti­gen Nazi­hor­den stand­zu­hal­ten.) Hit­ler wuss­te nur zu gut, dass die Archi­tek­ten des Appease­ment wei­ter­hin hoff­ten, er wür­de schließ­lich ihren sehn­lichs­ten Wunsch erfül­len und die Sowjet­uni­on ver­nich­ten, so dass sie bereit waren, weg­zu­se­hen, wäh­rend sei­ne Armee in Polen ein­mar­schier­te. Und er war auch davon über­zeugt, dass die Bri­ten und Fran­zo­sen, selbst wenn sie Deutsch­land den Krieg erklär­ten, im Wes­ten nicht angrei­fen würden.

Der drit­te und letz­te Teil der Serie behan­delt die Bedeu­tung des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes für den Ver­lauf des Zwei­ten Weltkrieges. 

Bild: Mün­che­ner Kon­fe­renz am 29.9.1938 im Füh­rer­bau am Königs­platz in Mün­chen, v.l.n.r.: Mus­so­li­ni, Hit­ler, Dol­met­scher Dr. Paul Otto G. Schmidt, Cham­ber­lain. Bun­des­ar­chiv, Bild 146‑1970-052 – 24

Lite­ra­tur

Cymet, David. Histo­ry vs. Apo­lo­ge­tics: The Holo­caust, the Third Reich, and the Catho­lic Church, Lan­ham, MD, 2010.

Fin­kel, Alvin, und Cle­ment Lei­bo­vitz, The Cham­ber­lain-Hit­ler Col­lu­si­on, Toron­to, 1997.

Hane­brink, Paul. A Spec­ter Haun­ting Euro­pe: The Myth of Judeo-Bols­he­vism, Cam­bridge, MA, und Lon­don, 2018.

Hart­mann, Mau­rice. Sta­li­ne : Pour le 100e anni­ver­saire de sa nais­sance 21 décembre 1879, Paris, 1979.

Kakel, Car­roll P., III. The Ame­ri­can West and the Nazi East: A Com­pa­ra­ti­ve and Inter­pre­ti­ve Per­spec­ti­ve, Basingsto­ke, Hamp­shire, und New York, 2013; Erst­aus­ga­be: 2011.

Lacroix-Riz, Annie. Le Vati­can, l’Eu­ro­pe et le Reich de la Pre­miè­re Guer­re mon­dia­le à la guer­re fro­ide, Paris, 1996.

Lacroix-Riz, Annie. Holo­do­mor, une cam­pa­gne anti sovié­tique, Media­part, Novem­ber 21, 2010, https://​blogs​.media​part​.fr/​j​c​g​/​b​l​o​g​/​2​1​1​1​1​0​/​h​o​l​o​d​o​m​o​r​-​u​n​e​-​c​a​m​p​a​g​n​e​-​a​n​t​i​-​s​o​v​i​e​t​i​que

Mül­ler, Rolf-Die­ter. Der Feind steht im Osten: Hit­lers gehei­me Plä­ne für einen Krieg gegen die Sowjet­uni­on im Jahr 1939, Ber­lin, 2011.

Pau­wels, Jac­ques. The Hit­ler-Sta­lin Pact, a Rep­ly, Coun­ter­punch, 5. Sep­tem­ber 2019, https://​www​.coun​ter​punch​.org/​2​0​1​9​/​0​9​/​0​5​/​t​h​e​-​h​i​t​l​e​r​-​s​t​a​l​i​n​-​p​a​c​t​-​a​-​r​e​p​l​y./

Tau­ger, Mark. Fami­ne et trans­for­ma­ti­on agri­co­le en URSS, Paris, 2017.

Tau­ger, Mark. Red Fami­ne: Stalin’s War on Ukrai­ne, HNN, 1. Juli 2018, https://​histo​ry​news​net​work​.org/​a​r​t​i​c​l​e​/​1​6​9​438

Ver­wei­se

1 Sie­he die Stu­die von Alvin Fin­kel und Cle­ment Lei­bo­vitz (1997).

2 Zur Bedeu­tung des Abkom­mens für die mili­tä­ri­sche Macht Deutsch­lands bemerkt der His­to­ri­ker Chris­to­pher R. Brow­ning: »1938 hat­te Deutsch­land weder den Über­le­gen­heits­spiel­raum, um einen schnel­len Sieg zu errin­gen, noch die Fähig­keit, einen lan­gen Krieg zu füh­ren. … Die beschlag­nahm­te tsche­chi­sche Mili­tär­in­dus­trie pro­du­zier­te ein Drit­tel der neu­en Pan­zer­mo­del­le III und IV, die für den deut­schen Sieg in Polen und spä­ter in Frank­reich von ent­schei­den­der Bedeu­tung waren.« Giving in to Hit­ler, The New York Review of Books, 26.09.2019. (Hin­weis des Übersetzers).

3 Hane­brink (2018), S. 111 – 112, 155.

4 Für Details sie­he Pau­wels (2019).

5 Cymet (2010), S. 126.

6 Mül­ler (2011), S. 51 – 58, 60 – 66, 108 – 113.

7 Sie­he Lacroix-Riz (1996), S. 329 – 335, und Lacroix-Riz (2010). Der ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Mark Tau­ger, ein Exper­te für die Geschich­te der sowje­ti­schen Land­wirt­schaft, hat die Hun­gers­not in zahl­rei­chen Arti­keln, die in einer fran­zö­si­schen Aus­ga­be unter dem Titel “Fami­ne et trans­for­ma­ti­on agri­co­le en URSS” (Hun­gers­not und land­wirt­schaft­li­che Umstruk­tu­rie­rung in der UdSSR) ver­öf­fent­licht wur­den, in die rich­ti­ge his­to­ri­sche Per­spek­ti­ve gerückt. Sie­he auch Tau­gers Rezen­si­on von Anne App­le­baums Buch über die Hungersnot.

8 Vgl. auch Jan Mül­ler, Das Nar­ra­tiv vom Holo­do­mor, MagMa – Maga­zin der Mas­se, 6. Mai 2022 (Hin­weis des Übersetzers).

9 Kakel (2013), S. 103.

10 Zitat aus Hart­mann (1979), S. 108.

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