Wie die Uni­ver­si­tä­ten »woke« wurden

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Wie konn­te es dazu kom­men, dass Men­schen, die eigent­lich gebil­det sein soll­ten, ihre Zeit mit der Erfin­dung neu­er Pro­no­men und dem Kampf um zusätz­li­che Toi­let­ten ver­brin­gen, Denk­mä­ler stür­zen und jeden als »reak­tio­när« titu­lie­ren, der kei­ne bio­lo­gi­schen Män­ner im Frau­en­sport will?

Es sieht aus wie ein fort­ge­setz­ter Den­kun­fall, die­se gan­ze »woke« Bla­se mit Can­cel Cul­tu­re, 150 Geschlech­tern und eben­so vie­len Toi­let­ten. Man ver­sucht, nach irgend­ei­ner Infek­ti­on zu suchen, die eine dau­er­haf­te Ver­dum­mung aus­löst. Was aber, wenn der Ursprung des Pro­blems ein ganz mate­ri­el­ler ist?

Sicher, es gibt auch »wei­che«, auf die Geis­tes­welt selbst bezo­ge­ne Fak­to­ren, wie den, dass Den­ken jeder Art, aber ins­be­son­de­re das Den­ken in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, immer ein Dia­log ist, für den es ein Gegen­über braucht. Und das zen­tra­le Gegen­über, das das 20. Jahr­hun­dert im Wes­ten geprägt hat, war die mar­xis­ti­sche Schu­le mit allen ihren Aus­prä­gun­gen in Geschichts­schrei­bung, Sozio­lo­gie, Wirt­schafts­wis­sen­schaft, Phi­lo­so­phie … Nach­dem jede Spur die­ses Den­kens exor­ziert und tabui­siert wor­den war (in Deutsch­land beson­ders mas­siv), fehl­te der Gesprächs­part­ner, und übrig blieb ein Mono­log, der nur durch eine ste­ti­ge Ver­schär­fung in die glei­che Rich­tung noch so tun konn­te, als sei er ein Gespräch.

Aber das ist bei wei­tem nicht alles. Die Haupt­trieb­kraft für die Ent­wick­lung bizar­rer Ideo­lo­gien dürf­ten die Exis­tenz­be­din­gun­gen des aka­de­mi­schen Per­so­nals sein. In die­sem Bereich hat sich min­des­tens so viel geän­dert wie auf der Ebe­ne von gedank­li­chem Aus­tausch und Entwicklung.

Vie­le Stel­len, auf die frü­her geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Aka­de­mi­ker spe­ku­lie­ren konn­ten, gibt es schlicht nicht mehr. Nicht nur, dass in jedem staat­li­chen Bereich ein Spar­pro­gramm das ande­re jagt; Zei­tun­gen, Fern­seh­sen­der, selbst Volks­hoch­schu­len haben ihr Per­so­nal her­un­ter­ge­fah­ren. Hun­der­te von klei­nen Ver­la­gen sind ver­schwun­den, die frü­her aller­lei Autoren ihr Aus­kom­men ermög­lich­ten. Die gan­zen unzäh­li­gen Nischen, Über­set­zungs­jobs, aller­lei pre­kä­re künst­le­ri­sche Exis­ten­zen, sind kei­ne Opti­on mehr, da bei heu­ti­gen Mie­ten ein Über­le­ben auf die­se Wei­se nicht mehr funk­tio­niert und spä­tes­tens mit der Umstel­lung von Sozi­al­hil­fe auf ALG II die unte­re Ebe­ne der Kul­tur­sub­ven­tio­nie­rung ver­schwun­den ist.

Man über­sieht das oft, aber es ist in der Kunst nicht anders als im Fuß­ball – um einen Spit­zen­spie­ler zu erhal­ten, braucht es hun­dert mit­tel­mä­ßi­ge, und wenn es die nicht mehr gibt, ver­schwin­den auch die Spit­zen­spie­ler. Über Jahr­zehn­te hin­weg war in der Bun­des­re­pu­blik die Sozi­al­hil­fe auch das Netz, das Schau­spie­ler an Klein­thea­tern auf­ge­fan­gen hat, oder die hun­dert­fünf­zigs­te Rock­band der Stadt. Die kul­tu­rel­le Wüs­te heu­te ist das Resul­tat die­ser Ver­än­de­rung. In der DDR war es übri­gens so, dass jeder, der das Talent für bestimm­te künst­le­ri­sche Tätig­kei­ten besaß und sie aus­üben woll­te, das auch konn­te, sprich, sich nicht um sein Über­le­ben sor­gen musste.

Mit Aus­nah­me viel­leicht von Taxi­fah­ren und Kell­nern ist vie­les fort, was frü­her eine Art halbak­a­de­mi­sche Exis­tenz ermög­lich­te, und genau­so vie­les, was frü­her eine übli­che Tätig­keit nach einem Stu­di­um war. Allein die Lek­to­ren all der hun­der­te klei­ner Ver­la­ge … Nun, es ist nicht so, als könn­te den Betrof­fe­nen nichts ein­fal­len. Wenn die alten Vari­an­ten nicht mehr gehen, müs­sen eben neue geschaf­fen werden.

Man konn­te das an der Ent­wick­lung in Gen­der Stu­dies sehen. In den 1970ern wur­den die Uni­ver­si­tä­ten mas­siv aus­ge­baut; das hat eine Men­ge neu­er Stel­len geschaf­fen, weil für alle neu­en Uni­ver­si­tä­ten die klas­si­schen Lehr­stüh­le besetzt wer­den muss­ten. Aber ein Lehr­stuhl, der ein­mal besetzt ist, bleibt das für eini­ge Jahr­zehn­te, und die nächs­ten Jahr­gän­ge stan­den dann bereits vor ver­schlos­se­nen Türen bzw. vor besetz­ten Stel­len. Wel­che Lösung gibt es? Man sucht ein neu­es Fach und ver­sucht dann, eben die­ses neue Fach für gesell­schaft­lich unbe­dingt not­wen­dig zu erklären.

Wie vie­le Stel­len für Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­te wur­den quer durch Deutsch­land geschaf­fen? Migra­ti­ons­be­auf­trag­te? Die Schaf­fung einer öffent­li­chen Stel­le ist nicht not­wen­di­ger­wei­se die bes­te Lösung, um mit einem gesell­schaft­li­chen Pro­blem umzu­ge­hen; aber es hat sich, aus­ge­hend von den Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten, so als Sche­ma eta­bliert. Alle paar Jah­re taucht ein neu­es The­ma auf, und es wer­den neue Beauf­trag­te gesucht, und ein wei­te­rer aka­de­mi­scher Jahr­gang fin­det ein Auskommen.

Das muss an sich nicht schlecht sein, aber es ent­wi­ckelt sich ein sich selbst ver­stär­ken­der Kreis­lauf, in dem dann auch noch die berüch­tig­ten Dritt­mit­tel eine Rol­le spie­len. Soll­te man es schaf­fen, eine Stif­tung mit viel Geld (wie die gan­zen Sor­os-Stif­tun­gen) davon zu über­zeu­gen, dass, sagen wir, eine The­ma­ti­sie­rung des Nase­boh­rens einen stra­te­gi­schen Vor­teil für den Wes­ten erzeu­gen könn­te, wür­de eine sol­che Stif­tung womög­lich einen Lehr­stuhl für Geschich­te und Kul­tur des Nase­boh­rens finan­zie­ren. Oder eine NGO der Anony­men Nasen­boh­rer. Wenn man es geschickt genug auf­zieht und vie­le beken­nen­de Nasen­boh­rer fin­det, wäre auch die eine oder ande­re Stel­le für Nasen­boh­rer­be­auf­trag­te drin. Ich den­ke, das Grund­prin­zip ist klar genug.

Begon­nen hat die­se Ent­wick­lung übri­gens, noch vor der Wel­le der Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten, damit, dass ech­te sozia­le Bewe­gun­gen der aus­ge­hen­den 1970er, wie etwa selbst­ver­wal­te­te Frau­en­zen­tren, Finan­zie­rungs­pro­ble­me beka­men (Kern­pro­blem auch hier: die Mie­ten) und die­se dann durch öffent­li­che Mit­tel lös­ten, was in der Regel nur funk­tio­nier­te, wenn man gleich­zei­tig eine oder eine hal­be Stel­le für irgend­wel­che Sozi­al­päd­ago­gen schuf. Ziem­lich schnell traf man in jeder der­ar­ti­gen Initia­ti­ve auf ange­hen­de oder fer­ti­ge Sozi­al­päd­ago­gen, die auf die­se Wei­se sich ihre eige­ne Stel­le schaf­fen wollten.

Wie auch immer, die Kom­bi­na­ti­on aus Spar­zwang auf der einen, Stel­len­su­che auf der ande­ren und der intel­lek­tu­el­len Ste­ri­li­tät auf der drit­ten erzeug­ten ein ziem­lich toxi­sches End­ergeb­nis. Denn da ein grund­sätz­li­ches Abwei­chen von der vor­ge­ge­be­nen Linie gar nicht mög­lich ist und eine Wie­der­ho­lung des bereits Gesag­ten kei­ne Vor­tei­le für die Kar­rie­re bringt, bleibt nur eine zuneh­men­de Radi­ka­li­sie­rung. Nicht aus Über­zeu­gung, son­dern aus öko­no­mi­schem Eigen­in­ter­es­se. Wenn die Stel­len für LGB alle besetzt sind, lie­gen die Chan­cen eben bei QXYZ; wenn »Kli­ma­schutz« bereits aus­ge­reizt und insti­tu­tio­nell eta­bliert ist, Kli­ma­be­auf­trag­te ein­ge­schlos­sen, dann muss man eben noch eine Schip­pe drauflegen.

Das muss nicht not­wen­di­ger­wei­se bewusst gesche­hen. Aka­de­mi­sche Leis­tung wird nach Ver­öf­fent­li­chun­gen gemes­sen, und dafür braucht es Neu­heit. Das wird mit dem Zeit­ver­lauf nicht ein­fa­cher. Auch hier ist ein Gespür für ein The­ma, das sich gera­de erst ent­wi­ckelt, aber nicht in Kon­flikt zum Main­stream steht, äußerst hilf­reich, und ein geschick­tes »Wei­ter­dre­hen« erweist sich als erfolg­rei­che Stra­te­gie. Wie sol­che Pro­zes­se enden, kann man an eini­gen For­men der Kunst beob­ach­ten, die erst die Pro­vo­ka­ti­on immer stär­ker beto­nen müs­sen, um dann in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit zu enden. Oder an der Art und Wei­se, wie Pro­dukt­wer­bung auf stän­dig neue Tech­ni­ken ver­fal­len muss, um nicht aus­ge­blen­det zu wer­den. Die aka­de­mi­sche Sze­ne­rie ist in eini­gen Berei­chen kei­ne Struk­tur zur Ver­mitt­lung gesell­schaft­lich nütz­li­chen Wis­sens mehr, son­dern ein per­ma­nen­tes Schau­lau­fen um Auf­merk­sam­keit hei­schen­der poten­ti­el­ler Fest­an­ge­stell­ter. Die dann eben auch Din­ge wie »Cor­rek­tiv« bestücken.

Auf Dau­er geht durch eine sol­che Fehl­steue­rung nicht nur der gesell­schaft­li­che Nut­zen, son­dern sogar die Ver­bin­dung zur Gesell­schaft ver­lo­ren, weil jede Ver­rin­ge­rung der Selbst­be­züg­lich­keit die Kar­rie­re­chan­cen min­dert und nicht erhöht. Und dabei geht es nicht ein­mal um die gut gepols­ter­ten Ses­sel ordent­li­cher Pro­fes­su­ren, son­dern schon um einen schlich­ten Job, der Mie­te und Essen bezahlt.

Die Gene­ra­ti­on, die jetzt Denk­mä­ler vom Sockel stürzt und drit­te, vier­te, fünf­te Toi­let­ten for­dert, ist sich nicht ein­mal mehr des­sen bewusst, wie die­ser Zwang zur ste­ti­gen Ver­schär­fung ent­stan­den ist, da sie nie eine aka­de­mi­sche Umge­bung erlebt hat, in der er nicht exis­tier­te. Sie ken­nen nur noch eine idea­lis­ti­sche Sicht auf Geschich­te, Gesell­schaft und Öko­no­mie, und ent­fer­nen sich durch die­se struk­tu­rel­len Zwän­ge not­wen­di­ger­wei­se immer wei­ter von der mate­ri­el­len Wirk­lich­keit. Aus sich her­aus sind sie unfä­hig, die­se Ten­denz umzu­keh­ren, auch wenn sie wahr­neh­men, dass sie dadurch immer stär­ker in Kon­flikt mit der Bevöl­ke­rung außer­halb der Bla­se geraten.

Die gan­ze extre­me Aggres­si­on, die wäh­rend Coro­na und auch jetzt aus gera­de die­sen aka­de­mi­schen Krei­sen wahr­zu­neh­men ist, ist das Pro­dukt die­ser Aus­weg­lo­sig­keit. Das wird sich erst ändern, wenn nicht mehr die Ein­wer­bung von Dritt­mit­teln, das Lieb­die­nern bei Stif­tun­gen und die Erfin­dungs­ga­be für neue Stel­len über die aka­de­mi­sche Kar­rie­re ent­schei­den, son­dern die gesell­schaft­li­che Nütz­lich­keit. Die bes­ten Argu­men­te sind nutz­los, wenn die Trieb­kräf­te der Über­zeu­gung mate­ri­el­le sind.

Dag­mar Henn ist Mit­glied des Deut­schen Frei­den­ker-Ver­ban­des, von des­sen Web­site frei​den​ker​.org der Arti­kel über­nom­men wur­de. Erst­ver­öf­fent­li­chung am 03.11.2022 auf RT DE
Bild: Eröff­nungs­fei­er des Gender@Wiki im Senats­saal der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin. Show­act Spi­cy tigers on speed. Foto von Fran­zis­ka Weber (CC BY-NC 2.0)

One thought on “Wie die Uni­ver­si­tä­ten »woke« wurden

  1. Zwar wie­der ein sehr guter Arti­kel von Dag­mar Henn, aber ich fra­ge mich, ob er das Phä­no­men der »woke cul­tu­re« mit (bun­des­deut­scher) mate­ri­el­ler Inter­es­siert­heit erklä­ren kann. Es kommt ja aus den USA, wo viel­leicht ande­re Gege­ben­hei­ten herr­schen als die hie­si­ge Stel­len­pa­tro­na­ge. Sicher ist die kom­plet­te ideo­lo­gi­sche Gleich­schal­tung und Prä­gung der Stu­den­ten an west­li­chen Unis.
    In den Nach­denk­sei­ten ist heu­te eine Buch­be­spre­chung zum The­ma zu lesen, die inter­es­sant ist:
    https://​www​.nach​denk​sei​ten​.de/​?​p​=​9​0​384

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