»Verarschen kann ick mir alleene« – über die zweite Nummer der Zeitschrift »Der Erreger«

Lesezeit4 min

Man braucht ja nur in die Fratzen, dieser immer niederklassigeren Akteure und ihres willigen Gefolges schauen, auf ihre Grimassen, um das ganze Elend bösen kinderbiblischen Ausmaßes zu erkennen; man braucht dazu nicht einmal ihrem imbezilen Gestammel zuzuhören – davon ist sogar abzuraten, da irgendwann die Schmerz- und Fassungsgrenze jedes vernunftbegabten Wesens erreicht und dann überschritten ist. (Der Erreger, S.95)

Die zweite Ausgabe der Zeitschrift Der Erreger, die im Juni 2022 erschienen ist, zeichnet den Zeitraum von Juni 2021 bis Juni 2022 in Berichten, Kommentaren, philosophischen Beiträgen, Satiren und Comics nach. Für die Herausgeber besteht »kein Zweifel, dass das offenkundige Programm einer weltweiten Transformation weiter durchgezogen wird«. Ein Corona-​Heft wäre es nur unter der Prämisse, »wenn man dieses Wort als eine Chiffre für den Formwandel der Herrschaft« verstände, der sich vor unseren Augen vollzöge. So bilden die Beiträge ein breites Spektrum an Themen ab. »Politisch sind wir obdachlos geworden: Eine unserer befreienden Haupterfahrungen der letzten Zeit ist der Verlust einer jeglichen festen Gruppenidentität.« In diesem Satz fasst die Redaktion »die Zersplitterung der linken und sublinken Fraktionen« zusammen. Zu dieser politischen Standortbestimmung passen die Beiträge, die die gesamte Bandbreite der Diskussion der Bewegung gegen die Coronamaßnahmen abbilden. Aber nicht nur die Coronamaßnahmen werden thematisiert, auch der Ukrainekrieg wird analysiert. Die meisten Artikel sind kurz und gut zu lesen. So ist das Heft abwechslungsreich und überfordert die Leser nicht.

Den Anfang macht ein Beitrag von Thomas Maul, der in 30 Punkten Schlaglichter auf die Corona-​Pandemie wirft. »Corona-​Revue« nennt er seinen Beitrag. Ein Zitat hieraus:

Tausende Intubierte würden überall noch leben, der Rest wäre ohne diese Behandlung weniger jämmerlich verreckt. Aber Husten, Schlauch rein, Deckel drauf – so geht Arbeitsverweigerung. Kein Berufszweig hat jemals vom Staat verlangt, die Bevölkerung einzusperren, um »auf Arbeit« entlastet zu werden. Copyright der Intensivmediziner…

Ihm folgt ein Beitrag von Elena Louisa Lange, die in Beispielen die widersprüchlichen Aussagen von Presse und Politikern zitiert. Sie erkennt in diesen Widersprüchen Elemente aus Orwells 1984 »Doublethink« und »Neusprech« und fragt sich, ob man mit Logik dieser Art der Machtaneignung die Stirn bieten kann.« Und kommt zu dem Schluss:

Solange dem »Doublethink«-Narrativ erlaubt wird, die politische Realität zu strukturieren, um Menschen davon abzubringen, in ihrem eigenen Interesse zu handeln, bleibt das Festhalten an der Logik der einzige Weg aus der faschistischen Misere, …

Christian Kleinschmidt hat neu erschienene linke Literatur sowohl von System-​Linken als auch von kritischen Linken untersucht. Er führt durch das gesamte Spektrum der Neuerscheinungen von den Coronisten Thomas Ebermann und Uli Krug, die er als Verwalter des linken Jargons betrachtet über den Anarchisten Sebastian Lorzer und den zaghaften Kritiker des Covid-​Konformismus Peter Nowak, dem Sammelband ‚Dark Winter‘, dem er analytischen Anspruch bescheinigt bis zu Phillip von Becker, der die technischen Aspekte und den Transhumanismus in seinem Buch ‚Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, und digitaler Kapitalismus‘ in Augenschein nimmt. Phillip von Becker wartet mit dem neuen Begriff, der Vektoralistenklasse, die Klasse, die über die Informationen herrscht, auf. Die Vektoralisten hätten zwar nicht das Eigentum an den Produktionsmitteln, besäßen aber die Mittel, diese zu organisieren. Meint er nun die Informationsarbeiter, die die Informationen zur Verfügung stellen oder die Auftraggeber, die die Informationen verwerten? Das wird nicht klar. Erstere könnten das neue revolutionäre Subjekt werden. Sie bedienen als lohnabhängige Klasse die fortgeschrittensten Produktivkräfte und können die Macht übernehmen. Oder haben sie es schon getan?

»Zur Frage der Staatsfaschisierung« beschreibt Achim Szepanski u.a. den Umbau des Staates, indem der Staat »eine Reihe von Techniken, wie etwa neue Kontroll- und Überwachungsinstrumente, die Daten aufzeichnen, akkumulieren und auswerten, Techniken zur weiteren Quantifizierung und Vermessung der Bevölkerung« entwickelt. Er ist der Meinung, dass dies nicht zwangsläufig zu einem faschistischen Staat führe, es jedoch auch nicht ausgeschlossen sei.

Dietrich Brüggemann erzählt in seinem Beitrag »Über Perspektiven der Erzählung in postpandemischen Zeiten«. Er konstatiert eine Gesellschaft, deren Mitglieder in den letzten zwei Jahren in verschiedenen Realitäten gelebt haben. Der eine Teil hat in der Realität 1 eine verheerende, tödliche Pandemie erlebt. Menschen, die in der Realität 2 lebten, hätten erlebt, dass ein Virus mit mittlerer Gefährlichkeit zu »einer erstaunlichen Welle aus öffentlicher Panik zu einer apokalyptischen Bedrohung aufgeblasen« und »als Legitimation für eine autoritäre Politik« diente. Er hat die Hoffnung, dass beide Realitäten wieder zusammenfinden und gemeinsam lachen können, noch nicht aufgegeben. Diese Sicht auf die unterschiedlichen Realitäten, in denen Menschen heute leben, sticht aus den vielen Artikeln in diesem Buch, die sich mit politischen Analysen beschäftigen, hervor. Genau die Trennung der Menschen über Klassenlinien hinweg macht es für Marxisten schwer, politische Anknüpfungspunkte zu finden. Die Vermutung liegt nah, dass das spalterische Potential von den »Pandemieplanern« gut kalkuliert wurde.

Interessant sind die Schilderungen aus Kanada und Australien. Die Australierin Wat Tyler erörtert in ihrem Beitrag das angepasste Verhalten der Australier während der »Pandemie« und gibt einen Einblick in die Seele Australiens, wenn sie schreibt: »Das komplette Fehlen einer kritischen Debatte könnte ebenfalls am Mangel ernstzunehmender Geisteswissenschaften zugunsten von sogenannter harter Wissenschaft kommen«. Vorher zitiert sie den Ausspruch eines australischen Expats, dass das Problem Australiens nicht sei, »dass so viele von ihnen von Häftlingen abstammen, so viele von Gefängniswärtern abstammen.«

Insgesamt 46 unterschiedliche Texte beschäftigen sich mit der »Pandemie«, ihren Folgen und dem Krieg in der Ukraine. Jeder einzelne lohnt sich zu lesen, auch wenn man am Ende wieder von vorne anfangen möchte, weil im Kopf alles zusammenläuft. Wer in den letzten beiden Jahren die Diskussionen und Beiträge in alternativen Nachrichtenportalen verfolgt hat, wird viele Gedanken wiedererkennen.

Der Erreger #2, 06/​2022 Bestellung unter dererreger@​mailbox.​org für 6.- €

Bild: Der Erreger, Cover Ausgabe Nr. 2

One thought on “»Verarschen kann ick mir alleene« – über die zweite Nummer der Zeitschrift »Der Erreger«

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert