Neuwahlen in Italien: Interview zum Sturz Draghis und die Chancen der Opposition

Leonardo Mazzei ist ein Kenner der italienischen Politik und die letzten beiden Jahren gegen das Covid‐​Regime aktiv gewesen. TKP führte mit ihm ein ausführliches Gespräch über die Proteste der Taxifahrer, die Umstände des Sturzes von Mario Draghi und die Chancen einer sozialen Opposition im September.

Draghi ist gestürzt. Italien, für die Europäische Union von zentraler Bedeutung lässt im September wählen. Im Interview mit TKP erörtert Leonardo Mazzei die Umstände, die die zum Fall Draghis geführt haben und gibt einen Einblick zur Lage der Opposition und ihren Chancen im September.

Mazzei ist seit den 1970er Jahren prominentes Mitglied innerhalb der kommunistischen Bewegung. Er veröffentlichte in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Artikel und Analysen zur ökonomischen und politischen Entwicklung Italiens und gilt als Kenner des italienischen Systems. In den letzten beiden Jahren war er aktiv in der Bewegung gegen die Covid‐​Maßnahmen. Aktuell ist er Vorsitzender von »Liberiamo I’Italia« und Redakteur für deren Blog.

TKP: Herr Mazzei, Warum ist die Regierung in Italien gerade jetzt gefallen?

Leonardo Mazzei: Draghi ist 2021 zum Regierungschef gemacht worden, um das gesamte italienische System zu restrukturieren. Das hat aber Folgen: In Italien gibt es mittlerweile ein extrem großes Unbehagen, die Leute fühlen sich enorm schlecht, es gibt eine große soziale Krise. Die »Fünf Sterne« und die »Lega« haben deshalb schon länger begonnen, sich von Draghi abzusetzen. Die Einheitsregierung im Parlament bröckelte also schon länger. Gestürzt haben Draghi dann aber letztlich die »Lega« und »Forza d’Italia«, die aus der Allparteienregierung ausgeschert sind.

Was war der Auslöser der politischen Krise geau?

Die Fünf‐​Sterne haben die Regierungskrise ausgelöst, weil sie Forderungen gestellt haben, die zwar diffus und unbestimmt waren, etwa im Bereich des Mindestlohns und Arbeitslosensicherung, aber die dennoch gegen die Vorsellungen Draghis gingen. Das sind trotzdem sehr weiche Forderungen gewesen, hatten aber gereicht, um eine Krise auszulösen, die letztlich zum Sturz von Draghi geführt haben.

Die Fünf Sterne Bewegung ist aktuell aber auch die stärkste Partei im Parlament, zumindest wenn man auf die Zahl der Abgeordneten blickt. Nun wird ihr aber ein Absturz prophezeit? Ist die Geschichte der Fünf‐​Sterne wieder zu Ende?

Von einem Ende sollte man noch nicht sprechen. Die Umfragen geben den Fünf Sternen gerade 12 Prozent, aber das ist gar nicht so schlecht. Bei den nationalen Wahlen können sie sicherlich besser abschneiden. Die Fünf Sterne versuchen zu retten, was zu retten ist.

Auch obwohl die Initiative des Regierungssturzes von den fünf Sternen ausgegangen war, konnten sie kaum politisches Kapital daraus schlagen. Zunächst waren die Forderungen der Fünf Sterne immer sehr weich und in der Krise übernahm den Ball sofort die Lega und die Rechte. Es waren sie, die Draghi letztlich zu Fall gebracht haben.

Aber auch Salvini und die Lega stecken in Problemen oder?

Vor allem Salvini hat schon die ganze Zeit massive Probleme. Dominant in der Lega ist jetzt wieder die Industrie des Nordens, die mit Deutschland geht. Das war nicht Salvinis Weg, der wollte dem Süden in der Lega seine Rolle zukommen lassen. Salvini ist aber sicher noch nicht weg und auch seine Themen werden wieder kommen: Migration, weniger Steuern aber auch soziale Themen. Ironischerweise bringt die Rechte gerade mehr soziale Themen als die Linke. Da findet sie auch mit Berlusconis »Forza Italia« wieder zusammen.

Berlusconi hat auch noch etwas zu sagen?

Achtung, das ist wichtig! Nicht viele in Europa verstehen, dass der 85‐​jährige alte Mann noch immer eine tragende Rolle spielt. Aber tatsächlich war er der entscheidende Faktor, dass es jetzt wieder zu Neuwahlen komm. Es wäre ein Leichtes gewesen für Forza Italia, Draghi einfach weiter zu stützen, doch das tat er nicht. Er wollte damit der politischen Elite Europas auch zeigen, dass er noch immer eine bestimmende Kraft ist. Der deutsche Manfred Weber von der CDU hat Berlusconi übrigens unterstützt.

Und jetzt gibt es wieder einmal Neuwahlen in Italien. Von welchem Standpunkt aus beginnt der Wahlkampf? Wo befindet sich die Opposition?

Die Opposition war im Wesentlichen die letzten beiden Jahre auf der Straße zu finden: gegen Lockdown, gegen Überwachung, gegen Zwangsimpfungen, gegen den Grünen Pass.

Und wie setzt sich diese Opposition zusammen?

Von den Gruppierungen und Gesichtern her sehr ähnlich zu jenen, die bereits vorher das Euro‐​Regime abgelehnt haben. Aber Covid ist jetzt verdrängt worden vom Krieg, aber auch, weil die Restriktionen zurückgegangen sind. Doch der Ukraine‐​Krieg ist jetzt im Zentrum und es gibt eine sehr große Ablehnung gegen die Waffenlieferungen. 55 Prozent der Italiener sind dagegen.

Innerhalb der Anti‐​NATO‐​Bewegung gibt zwei Flügel. Der eine sagt: »Gegen den Krieg und gegen die Nato«, der andere ist der traditionell pazifistische, der sagt »Gegen jeden Krieg«.

Ist das jetzt die gleiche Opposition wie bei Corona?

Nun, wenn ich es ganz einfach sagen würde: Der Großteil der Covid‐​Opposition steht auf der Seite Russlands. Aber die Bewegung gegen Covid war eine Bewegung für Freiheit, etwas ganz anderes als dieser internationale Konflikt. Die neue Situation ist viel komplexer. Doch der Großteil ist hier deutlich gegen die NATO und auch offen für Russland, jedoch mit sehr diversen Argumenten, die oft gar nicht einfach sind.

Vielleicht noch ein Punkt, der mir als wichtig erscheint: Jene, die schon vor 2020 gegen das Euro‐​Regime waren, die sind nun auch ganz deutlich gegen die NATO. Sie haben verstanden, dass es die EU nicht ohne die NATO gibt.

Auf der sozialen Ebene waren die Taxifahrer die Speerspitze der letzten Wochen, diese haben hauptsächlich gegen die Liberalisierung gegen die »Uberisierung« ihrer Branche demonstriert und eigentlich haben sie gewonnen.

Bilder eines versuchten Sturms der Taxifahrer auf das Parlament gingen in Europa viral. Wie ist dieser Protest einzuschätzen? Konnten die Taxler deshalb ihre Forderungen durchsetzen?

Zunächst muss gesagt werden, dass es in Italien sehr schwer ist, an den Machtzentren in Italien zu demonstrieren. Den Taxifahrern ist das aber gelungen. Das war ein symbolischer Erfolg. Der echte, substanzielle Erfolg ist aber auf den Sturz von Draghi zurückzuführen. Dieser hat bei seiner Rücktrittsrede am Mittwoch auch sehr aggressiv gegen die Taxifahrer gewettert, fast schon auf bonapartistische Art und Weise.

Was sind jetzt die Aussichten für die Neuwahlen?

Von Seiten des Systems gibt es gewisse Operationen, um den verlorenen Konsens wieder einzufangen. Das wird äußerst schwierig, denn man kann davon ausgehen, dass etwa ein Drittel der Wähler nicht mehr einzufangen ist. Das ist sehr viel. Aber das macht noch keine oppositionelle Kraft. So werden einiges die Fünf Sterne, die Lega und Fratelli d’Italia. Daneben gehen die Leute auch nicht zur Wahl.

Dann haben wir Gianluca Paragone. Er ist ein bekannter TV‐​Moderator und war bis 2020 bei den Fünf Sternen, auch als Senator. Dann gründete er die Partei »Italexit«, wie der Name schon sagt, sehr EU‐​skeptisch. Er hat der politischen Kaste aber auch signalisiert, dass er wieder ins Boot zu holen wäre, zugleich und gegenüber der Fratelli eine gewisse Offenheit bekundet.

Auf der linken Seite dürfte unter dem Titel »Volksunion« eine Allianz rund um den ehemaligen Bürgermeister von Neapels, Luigi de Magistris, gebildet werden. Dort wird man zwar soziale Themen betonen, aber kein kritisches Wort über die EU und die Waffenlieferungen verlieren, und auch bei Covid steht man komplett hinter dem Regime.

Aber welche Bestrebungen hat nun die außerparlamentarische Opposition? Wie ist sie aufgestellt und was wird am Wahlzettel zu finden sein?

Es gibt fünf Punkte, die innerhalb der verschiedenen Gruppen der Opposition eigentlich Konsens sind. Diese sind: demokratische Rechte, das Ende der technokratischen Regierungen, Schluss mit der neoliberalen Sozialpolitik, Nein zur EU und Nein zur NATO. Aber nur weil es dazu Konsens gibt, gibt es noch keine einheitliche Bewegung.

Tasächlich gibt es drei Gruppierungen, die sich herauskristallisiert haben.

Die erste ist jene von Paragone. Er wird auch in Umfragen abgefragt, könnte aber – wie bereits erwähnt – durchaus auch für das System wieder integrierbar sein.

Die zweite Liste ist eine Sammelbewegung, getragen von »Ancora Italia« und dem Kommunisten Marco Rizzo (TKP berichtete). Die Bewegung hat aber den stark impfkritischen Teil der Corona‐​Bewegung nicht berücksichtigt. Diese wird wiederum von Sara Cunial, einer Parlamentarierin der Fünf Sterne, repräsentiert. Das man diesen Flügel ausgeschlossen hat, ist ein großes Problem. Cunial führt nun selbst eine weitere Liste an und sie ist sehr authentisch, weil sie schon vor Covid sehr impfkritisch war.

Die Bewegung hat außerdem ein Problem mit dem Modus Operandi. Es gab keinen konstituierenden Prozess, der alle Gruppen, »No Green Pass« und die vielen anderen, einbezogen hätte. Tatsächlich hat man Gruppen, auch uns, verschiedene Wahlkreise angeboten. Was ein sehr elitärer Prozess ist eigentlich. Und die verschiedenen Lager zusammenzuhalten, wird enorm herausfordernd sein. So konnte der Teil der KP um Rizzo kaum umsetzen, dass auf Hammer & Sichel verzichtet wird. Zugleich hat »Ancora« einen starken katholischen Flügel.

Eine Einheit zu schaffen, stand für meine Gruppe im Vordergrund. Es sieht aber nicht gut aus und eine dramatische Situation könnte daraus folgen. Nämlich, dass dieses riesige Potential nicht am Wahlzettel vertreten sein wird.

Warum?

Die Hürde, an Wahlen teilnehmen zu können, sind sehr hoch. Man braucht 80.000 beglaubigte Unterschriften, bei vorgezogenen Neuwahlen sind es 40.000. Parlamentsparteien brauchen diese Unterschriften nicht und überhaupt sind die Regeln sehr willkürlich. Renzi hatte damals die Unterschriften etwa nicht gebraucht.

Könnte der notwendige demokratische Prozess denn überhaupt umgesetzt werden, angesichts des Zeitdrucks?

Das ist richtig, dass das jetzt nicht mehr geht. Jetzt haben wir nur noch Tage. Aber von uns kam der Vorschlag des konstitutiven Prozesses schon vor vielen Monaten. Die Situation ist sehr ungünstig. Wir werden weiter für die Einheit eintreten, auch die Bewegung fordert das. Es sieht aber nicht gut aus. Allerdings ist auch die Wahl im September und wir müssen auch abwarten, welche Regeln für die Teilnahme erlassen werden.

Lieber Herr Mazzei, danke für das Gespräch und alles Gute nach Italien!

Der Beitrag wurde übernommen von tkp​.at

Bild: Transparent an Hauswand beschriftet: »25. April. Es leben die Partisanen! Gestern in Italien, heute im Donbass«.

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