Allumfassende Demokratisierung – ein Zwischenruf in die Programmdebatte

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Wenn im Grunde Anarchisten, Linkskommunisten und Marxisten-​Leninisten – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – der Meinung sind, es brauche kein Programm, warum gibt es dann eine Programmdebatte? Dieser Einwurf will sowohl dazu als auch Kursorisches und nicht gänzlich zu Ende gedachtes zur Programmatik vorbringen.

Die Anarchistisch Libertäre Strömung der Freien Linken meint in ihrem Beitrag zur Programmdebatte, dass ein Programm letztlich zur – bekanntlich von der KPdSU ausdrücklich verbotenen – Fraktionsbildung führe, der originäre Ansatz der Freien Linken als Sammlungsbewegung zumindest vorerst beizubehalten sei und es darauf ankäme, autonome Lokalgruppen aufzubauen.

So nachvollziehbar diese Forderung zwar auf den ersten Blick erscheint, sie ist es aus mindestens zweierlei miteinander zusammenhängenden Gründen nicht. Zum einen hat sich die Sammlungsbewegung Freie Linke gerade ohne Programm und ohne Programmdebatte in verschiedene Fraktionen zerlegt, wovon bereits der Name »Anarchistisch Libertäre Strömung der Freien Linken« Auskunft gibt. Zum anderen, ließe sich behaupten, dass die Freie Linke in Wahrheit doch von Beginn an nur ein Aggregat verschiedener ideologischer Strömungen war – zusammengehalten durch den Druck schärfster äußerer Umstände. Eines, das durch das Vermeiden oder Auslassen einer programmatischen Profilierung in der Folge nicht zu einem einheitlichen Ganzen werden konnte, das die Verschiedenheiten um ein tragendes Leitprinzip in ihrer Differenz zu etwas der gegenwärtigen Situation Gemäßem eint. Eine sachliche und konstruktive Debatte allerdings ist der alleinige Weg zu solch einer neuen Formierung. Die Angst, dass Profilierung und Überwindung der Indifferenz zu Spaltung und Fraktionsbildung führt, ist wie erwähnt unbegründet, vielmehr scheint das Gegenteil der Fall. Letztlich schimmert hier, das ist nur bedingt böse gemeint, die im schlechten Sinne abstrakt-​allgemeine individualistische Ideologie der Querdenker durch.

Exkurs zur Querdenkermentalität

Damit ist das unvermittelte Nebeneinander von Individuen und ihrer Denkweise gemeint, in der jeder nur gilt als Individuum und damit als ein Allgemeines in seiner Unvermitteltheit. Dabei bleibt man dann stehen, jede Position gilt qua Äußerung eines Individuums und wird quasi als Eigentum desselben angesehen und damit für sakrosankt erklärt. Ein wirklicher prozessualer demokratischer Austausch findet deshalb nur bedingt statt, es bleibt vor- oder apolitisch, man bleibt eine Privatperson, während Politik eine Frage der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens ist, in der das Private nicht als solches das bestimmende ist. Schlagwörter sind hier bezeichnenderweise »Selbstbestimmtheit« und »Eigenverantwortung«, also schlechterdings die neoliberalen Propagandawörter unter deren Ägide sich Millionen Selbstständige in Eigenverantwortung selbstbestimmt selbst ausbeuten, womit der gesellschaftliche Charakter dieser Ausbeutung schlichtweg nicht begriffen werden kann. Der Gedanke, dass dieses Gegenübertreten als Privatproduzenten auf dem Markt selbst ein gesellschaftlicher Umstand ist, der den scheinbaren Privatcharakter dieser Arbeit erst ermöglicht, kann den Leuten gar nicht kommen, solange sie nicht verstehen, warum sie sich als Individuen überhaupt entgegentreten statt zusammen direkt für die Gesellschaft zu arbeiten. Als solche Individuen sind sie selbst nur Allgemeines, um auf dem Markt handel- und austauschbar zu sein. Hinter dieser schlechten Individualität verbirgt sich der reine Äquivalententausch A=A oder die Tautologie Ich=Ich oder der marktkonforme Mensch einer marktkonformen Demokratie: die Ware Mensch, nicht aber der wahre Mensch.

Diese Denkweise stellt, mag man meinen, eine derartige Potenzierung der herrschenden Ideologe dar, dass sie durch den Flaschenhals des Great Reset gedrückt durchaus umstürzlerisches Potential entwickeln kann, weil, wir werden kurz darauf zurückkommen, sie die Ideologeme als bare Münze nehmen und also höchstgradig enttäuscht wurden, jetzt wo sie sich als Trug entpuppen, als Scheinselbstständigkeit und Scheinfreiheit. Wer aber betrogen wurde und das merkt, der will die echte Selbstständigkeit und die echte Freiheit. Dass die westliche Freiheitsideologie eines Tages beim Wort genommen würde, hierin lag immer eine gewisse Gefahr für die Herrschenden.

Allerdings bieten das Schwärmertum und geläufige bürgerliche Irrationalismen nicht geringer Teile der Widerstandsbewegung Grund zur Vorsicht, dass sie sich gerade deshalb Hals über Kopf in die Sirenengesänge demagogischer Pseudogemeinschaftsprediger vernarrt, weil hier zwei schlechte unvermittelte, unreflektierte Allgemeine ineinander Fallen: Pseudoindividuum und Pseudogemeinschaft.

Die schlechte Allgemeinheit des liberalen Individualismus droht sich allerorten in der schlechten Allgemeinheit eines nationalistischen, völkischen oder jedenfalls unvermittelten Pseudoganzen zu verlieren. Dieser findet seine eigene unbestimmte Leere und unvermittelte Unreflektiertheit als schlechtes Allgemeines, sprich als Individuum in seiner bloßen Allgemeinheit wieder, das also Individuum ist wie jedes andere, ohne um die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums als Allgemeinem zu wissen, womit es gerade nichts Einzigartiges ist, sondern höchstens artiges einzelnes Allgemeines und als solches die Tendenz hat sich unvermittelt mit einem weiteren schlechtem Allgemeinen zu identifizieren: der Rasse, der Nation, dem Stamm, dem autonomen Zentrum oder sonst welcher Abgeschmacktheiten. Die Klasse freilich gehört nicht dazu, denn sie ist eine Kategorie, die keiner Mystifizierung Vorschub leistet, da sie eingebettet in den historischen Materialismus um ihre gesellschaftliche Vermitteltheit und historische Bedingtheit weiß.

Das gerade angerissene ist gewiss eine Gefahr. Kritiker der Querdenkerideologie aber machen es sich zu einfach das alles als Manifestation überdrehter reaktionärer neoliberaler Ideologismen abzutun. Sie vergessen dabei, dass die Mehrheit der Masse nicht in den Genuss einer marxistisch-​leninistischen Kaderschulung kam und eben in den Begriffen denkt, die die der herrschenden Ideologie sind. Eine Artikulation kann mithin zugleich den Anschein absoluter Abgeschmacktheit an sich haben und dennoch einen ganz darüber hinaus gehenden Sinn erhalten, der nur denen verborgen bleiben kann, denen der Faden der Zeit aus den Händen glitt, die keine Berührung mehr mit der Masse haben, die schlichtweg nicht auf der Höhe der gegenwärtigen Kämpfe sind. Überdies ist es eine Binsenweisheit, dass manch umwälzende Bewegung sich auf althergebrachte, von den Mächtigen oft längst vergessene Gründungsmythen oder Dokumente wie das Grundgesetz, das antike Rom oder dergleichen berufen haben, nur um dabei etwas ganz anderem zur Geburt zu verhelfen. Auf ein Marxzitat sei hier verzichtet.

Gleiches mag für den bürgerlichen Individualismus wie auch die allgemeinen Menschenrechte gelten, die das Bürgertum nach seiner Machtergreifung 1789, 1848 oder später vergessen hat oder vergessen machen wollte. Es ist auch hier wieder eine Binsenweisheit in linken Kreisen, dass der Kommunismus in ideologischer Hinsicht durchaus auf den Menschen- und Bürgerrechten aufbaut, aber deren Geltung auf alle Menschen ausweiten will und dabei feststellen muss, dass der Universalisierung der Menschenrechte die bürgerliche Eigentumsordnung entgegensteht.

Kurzum: es wird immer interessant, wenn man beginnt diese vermeintlich obsoleten Konzepte beim Wort zu nehmen. Damit will ich sagen, dass neben der oben skizzierten Gefahr des Abgleitens in antiindividualistische Pseudogemeinschaften durchaus die Chance besteht, dass der unreflektierte Individualismus unter den gegebenen Bedingungen beinahe zwangsläufig an den Punkt kommen muss, wo er auf sich selbst reflektieren und sich als gesellschaftlich vermitteltes erkennen muss.

Der Unterschied zum rein passiven atomistischen Individualismus des kapitalistischen Subjekts ist nämlich der, dass die Querdenker oder derart denkenden Teile der Widerstandsbewegung ja nicht nur ständig Gemeinschaften formen und über gesellschaftliche Fragen nachdenken, sondern sich teils schon selbstständig organisieren. Marxens Ideal war das einer freien Assoziation von Individuen. Da weite Teile der Bewegung diesen Weg in der Praxis also schon beschreiten, ist es zumindest möglich, womöglich wahrscheinlich, dass sie sich auch theoretisch immer bewusster darüber werden und so die gesellschaftliche Bedingtheit dessen reflektieren, was es heißt ein Individuum zu sein.

Dazu gehört nun einmal sich über die Funktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft Klarheit zu verschaffen, über die des Kapitalismus, über die Natur der Ware, des Geldes, der Arbeit. Vor allem aber gehört dazu, zu begreifen, dass der heutige Individualismus aufs Engste mit dieser Gesellschaftsformation verknüpft ist, wahrer Individualismus als Assoziation freier Individuen nur bestehen kann, gerade wenn man sich nicht mehr als Privatproduzent, Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft vermittelt durch den Mark gegenübersteht, sondern in freier demokratischer Art direkt und bewusst die Gesellschaft selbst formt. Dazu unten mehr.

Zur erhofften Funktion der Programmdebatte

Worauf will ich hinaus? Darauf, dass die Programmdebatte durchaus als Ausdruck eines Reflektionsprozesses aufgefasst werden kann. Dieser Prozess aber nötig ist, um hinter den apolitischen Ansatz der Querdenkerideologie zu stoßen und mittels einer Programmdebatte die Frage einer nachkapitalistischen Gesellschaft überhaupt aufzuwerfen, was ja von Anfang an das Ziel der Freien Linken war: den Massen klar zu machen, dass die ganze Schweinerei, die wir in den letzten zwei Jahren erleiden mussten, durchaus etwas mit der Funktionsweise kapitalistischer Gesellschaft zu tun hat. Das ist bisher sicher nur bedingt gelungen und wie das besser werden soll, ist zu diskutieren.

Die Programmdebatte findet nicht im abgeschlossenen Raum statt. Sie wirkt nach innen wie nach außen. In der Innenwirkung geht es darum, den Reflektionsprozess der Gesellschaft zu antizipieren und dann möglichst umso effektiver zu unterstützen, indem man einfach schärfer und klarer in die gesellschaftlichen Debatten eingreift und sie so beeinflussen kann. In der Außenwirkung ist es durchaus wichtig zu zeigen, dass wir hier nicht einfach alte Staubsauger, Bitcoins oder Heilwasser verkaufen wollen, sondern aus der Bewegung heraus und zurückgebunden an die aktuelle Lage uns Gedanken machen und dies auch transparent kommunizieren, zumal wir Kommunisten, wie Marx sagte, unsere Ansichten eben in ihrem Kern nicht verbergen müssen, weil wir die einzigen sind, die nicht die Mehrheit zugunsten einer Minderheit täuschen und verarschen will.

Neben dem Punkt, nicht in der Querdenkermentalität zu versumpfen, ist ein weiterer Grund, warum die Debatte geführt werden muss, der, dass wir nolens volens in einer von kleinbürgerlichen Ideologemen (und dazu zähle ich den argen Antikommunismus innerhalb der Freien Linken) geprägten Bewegung aktiv sind und natürlich aktiv sein müssen. Wir müssen keine Kommunisten vom Kommunismus überzeugen, sondern Nichtkommunisten, wenn möglich auch Antikommunisten. Sprich: es gibt keine Abkürzung in der Agitation, auch nicht in der Selbstvergewisserung.

Wir können uns auf die unsichtbare Kirche des Kommunismus berufen oder mit Bordiga auf die »Invarianz des Marxismus« oder auch meinetwegen mit Plato auf die unsterbliche Idee des Kommunismus. Nur wenn die Kirche unsichtbar ist, der Katechismus nicht gekannt, das Dogma nicht bekannt ist, die Priester nicht unter den Menschen, dann bringt uns das keinen Deut weiter. Als Bordiga schrieb, war die Tradition der Arbeiterbewegung noch in Takt, die Tradierung durchaus effektiv – trotz Hitler und alledem. Heute ist der Keim der Blume der Freiheit unter Tonnen antikommunistscher Lügengülle verschüttet. Um diesen Keim wieder freizulegen aber müssen wir selbst die stinkende Gülle Schaufel für Schaufel abtragen und der Bourgeoisie wieder in den Rachen zurück schütten. Eine Tradition, die nicht gelebt wird, ist keine, sondern Museumsmüll.

Der Punkt ist hoffentlich klar. Auch wenn die klassischen Programme der marxistischen Tradition im Grunde noch valide sind, solange der Kapitalismus herrscht, so müssen sie, um bei Platon zu bleiben, wieder erinnert werden, in Kontakt mit der aktuellen gesellschaftlichen Debatte treten und sich dort bewähren, eben überhaupt erst wieder zu Bewusstsein kommen. Wenn dies aber nicht einmal im Umfeld der Freien Linken geschieht, diese ein loses Aggregat bleiben will, dann hätte die Veranstaltung ihren Zweck verfehlt und würde zurückfallen oder aufgehen im ahistorischen Indifferentismus der Querdenkerideologie. Das würde nur die Herrschenden freuen.

Genau sowenig ist zu vergessen, dass der gegenwärtige konterrevolutionäre Angriff der Bourgeoisie zunächst direkt nur dem Kleinbürgertum galt, das er somit weitgehend erfolgreich von der ohnehin demobilisierten Arbeiterklasse isoliert hat, indem letztere eben vorläufig finanziell verschont blieb, zumindest hierzulande. Dem Kleinbürgertum aber droht die Proletarisierung, weshalb es momentan viel empfänglicher für neue Ansichten ist als je zuvor. Indem man aber eine Programmdebatte führt und sich versucht ein offenes Programm zu geben, das als Richtschnur gelten kann, ist man automatisch viel seriöser als solche Organisationen, die eher an Spendeneinnahmen orientiert sind oder die Schwarmintelligenz in ihr Programm schreiben, um dann lediglich ohne Intelligenz zu schwärmen.

Offensichtlich aber kann nur eine gesellschaftliche Linke dafür prädestiniert sein, ein Programm für das Proletariat und die ins Proletariat gleitenden kleinbürgerlichen Schichten anzubieten. Nur, wenn man es nicht einmal schafft sich selbst zu einem Programm hin zu profilieren, wie will man denn dann überhaupt der Gesellschaft klar machen, dass ausgerechnet man selbst meint die richtigen Ansätze parat zu haben. Viele scheinen den Ernst der Lage noch nicht ganz begriffen zu haben. Es ist außer uns niemand da, der es wird machen oder richten können. Das Gros der Linken ist bekanntlich ausgefallen und hat sich bis heute nicht berappelt. Die bürgerlichen Teile der Bewegung haben keine ernsthaften Rezepte anzubieten, von den gefährlichen Irrungen der noch rechteren Demagogen ganz zu schweigen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass uns eine Verantwortung zukommt. Das Wedeln mit Fähnchen im bürgerlichen Stall allein tut es nicht. Als nächstes wird sich der Bourgeois dran gewöhnen, dass wir ihm die Demobühnen aufbauen und Getränke servieren. So lang man nicht selbst aktiv inhaltliche Akzente setzt, ist fraglich, was das Rumlaufen auf diesen Demos mit den immer gleichen seichten Reden eigentlich bringen soll. Das soll mitnichten heißen, wir müssen mit der Demokratiebewegung brechen. Überhaupt nicht. Aber wenn wir da sind, müssen wir uns bemerkbar machen und mehr darstellen als bloße Staffage.

Zur Programmdebatte: Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft

In gewisser Hinsicht sind die folgenden kurzen Bemerkungen durchaus teils eine Bestätigung der Positionen, die oben einer Kritik unterzogen worden sind. Das ist aber kein Widerspruch, denn ich sage ja nichts anderes, als dass die Debatte um ein Programm vornehmlich den Zweck hat das Anknüpfen an die verloren gegangene Tradition zu ermöglichen. Diese auf die heutige Zeit hin zuzuschneiden und auch die didaktische oder propagandistische und agitatorische Arbeit auf den speziellen Kontext an ein Milieu anzupassen, dass diese Tradition entweder vergessen hat oder ihr vordergründig sehr skeptisch gegenübersteht. Dann sind die Ausführungen auch ein teilweises Eingeständnis an den Einwand der Anarchisten, dass ein zu hoher Grad an inhaltlicher Bestimmtheit hinsichtlich gewisser Themen zumindest momentan noch zu früh und fehl am Platze ist, um den heterogenen Zusammenhang nicht zu starken Reibungen auszusetzen und vor allem, um sich auf das Wesentliche zu begrenzen: dieses aber ist das Thema Demokratisierung.

Die bürgerliche Demokratiebewegung zeichnet sich dadurch als solche aus, dass sie Demokratisierung höchstens auf die gesellschaftliche, meist gar nur auf die politische Ebene projiziert und dabei gemäß der bürgerlichen Ideologie die Wirtschaft von dieser Sphäre abtrennt. Dadurch entsteht ihre Blindheit für größere Gesamtzusammenhänge und die Verkürztheit ihrer Lösungsansätze. Weil nun aber die Trennung von Wirtschaft und Politik unser Denken beherrscht, ist, auch wenn es uns offensichtlich nur um das Einreißen dieser mystifizierenden Trennung gehen kann, mit Nachdruck neben der politischen und gesellschaftlichen Demokratisierung jene auch der Wirtschaft zu fordern und klar zu machen, dass jene überhaupt erst die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Demokratisierung darstellt.

Damit wird einerseits der Mangel der bürgerlichen Demokratiebewegung demaskiert und andererseits das Tor zum Eintritt in wesentliche Themen der kommunistischen Gedankenwelt aufgestoßen. Damit ist ferner eine Furt gefunden, die den Übertritt aus dem mystischen Sumpf bürgerlichen Denkens an das Ufer der Vernunft der kommunistischen Wissenschaftlichkeit ermöglicht, da sie am Hauptthema der Bewegung anschließt und nicht als künstliches äußeres in apodiktischer besserwisserischer Manier in die Bewegung rein getragen wird. Vielmehr ist der Demokratiekeim dort schon ausgeprägt, verbleibt aber noch ohne Hege und Pflege unter der mit antikommunistischer Gülle gedüngten Erde in der Dunkelheit unklarer Vorstellungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ohne die Demokratisierung der Wirtschaft wird es keine echte Demokratie geben. Letztere würde das Kautschukwort bleiben, das es seit langem ist. Heutzutage meint es im Mund der Herrschenden nichts anderes als »unsere Macht mitsamt der Zwangszustimmung dazu«. In großbürgerlichen liberalkonservativen Widerstandskreisen wie bei stark rechts denkenden sogenannten »Patrioten« meint es mithin meist nur einen Elitenwechsel mit ihnen an der Spitze, während die kapitalistische Wirtschaftsform unangetastet bleiben soll.

Eine Demokratisierung der Wirtschaft aber bedeutet die gesellschaftliche Verfügbarkeit über die Produktionsmittel als Mittel der gesellschaftlichen Reproduktion. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und deren Überführung an die Gesellschaft ist völlig unzweifelhaft die zentrale Voraussetzung für eine echte wirtschaftliche, ergo gesellschaftliche Demokratisierung, die überhaupt erst den Spielraum für wahre demokratische Entscheidungsfindungsprozesse eröffnet.

Erst dann, wenn die Arbeit direkt gesellschaftliche Arbeit ist, kann die sich dessen bewusste Gesellschaft wirklich sich selbst bestimmend wirtschaften und leben. Dazu aber ist eine Planwirtschaft unabdingbar. Dieser Punkt muss erklärt und ausgearbeitet werden, aber er kann nicht in Frage gestellt werden, wenn man es ernst meint mit Demokratisierung. Natürlich müssen Planwirtschaft und ihre Grundlagen diskutiert und entwickelt werden, nicht zuletzt wie sie in echt demokratische Entscheidungsfindung und Kontrollprozesse eingebunden werden. Momentan sehe ich deshalb, dass der Demokratisierungsgedanke als Art regulatives Prinzip zu dienen hat, der die Debatte anleitet. Sprich, dass es jenseits der Artikulation bestimmter inhaltlicher Fragen vornehmlich einmal nur darum gehen kann, wie die allgemeine Demokratisierung aussehen kann und vor allem wie die gesellschaftliche mit der wirtschaftlichen verschränkt werden kann, um die Trennung beider Bereiche aufzuheben.

Damit einher geht die einstweilige Zurückstellung partieller inhaltlicher Fragen, wie der nach dem Energieträger, der Kulturpolitik oder generell von Streitthemen, die eher das Potential haben die Klasse der Lohnabhängigen anhand von unwesentlichen Unterscheidungen zu spalten. Das will nicht heißen, das man gleichzeitig sehr wohl ganz konkrete und spezifische Programme für eine Übergangsregierung entwerfen kann und sogar muss; auch nicht, dass man diese Fragen nicht diskutieren soll, sondern lediglich, dass die programmatische Hauptachse den Fokus auf allumfassende Demokratisierung legen sollte mit dem Fokus auf deren vollständiger Voraussetzungen. Zudem würde ein Vorgreifen in energie- oder gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen das Programm letztlich dem Vorwurf aussetzen, dass es sich am Demokratiegedanken versündige. Eine zu starke Profilierung in Detailfragen würde in Zeiten enormer und schneller gesellschaftlicher Umbruchsprozesse womöglich auch Gefahr laufen aus der Zeit zu fallen und das Wesentliche zu verpassen oder den Kapitalismus vor lauter Geld nicht zu sehen.

Letztlich müssen Voraussetzungen für echte Demokratie und demokratische Entscheidungsfindungsprozesse geschaffen werden, in deren Zuge eine demokratische Kultur wie eine freie gesellschaftliche Aneignung und Organisation des Wissens erst entstehen muss. Bekanntlich braucht es Generationen bis der bourgeoise Bullshit aus den Köpfen ist (nur um dann als Bananentrieb die Vernunft hinterrücks zu überrumpeln). Darauf kann man freilich nicht warten. Wie gehabt: das Programm einer Übergangsregierung kann, ja muss sehr konkret ausformuliert werden. Dasjenige für eine Neugestaltung der Gesellschaft hingegen sollte sich vor allem auf Grundsatzfragen und Hauptachsen fokussieren, die dann in weiteren Arbeiten gesellschaftlich ausformuliert und diskutiert werden. Je größer der gesellschaftliche Einfluss, desto konkreter sollte das Programm sein.

Des weiteren darf bei der Frage Bestimmtheit/​Unbestimmtheit nicht vergessen werden, dass im Zuge einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Umwälzung während ihres Vollzugs zwangsläufig gewisse Überbauerscheinungen ideologischer Natur in den Hintergrund treten beziehungsweise sich mit dem Wandel der materiellen Verhältnisse ändern werden. Deshalb sollten Fragen des von der herrschenden Klasse gerne propagierten Kulturkampfes von rechts oder links, also zum Beispiel Ethnopluralismus und Identitätspolitik, nicht im Vordergrund stehen. Es ist völlig klar, dass sowohl Nation, Region, Familie, Religion oder die Naturromantik allesamt die Funktion haben die Härten des Konkurrenzkapitalismus materiell oder ideell auszugleichen und abzumildern.

Das bedeutet aber überhaupt nicht, dass man diese als vermeintliche oder reale Abwehrkräfte gegen den weltweiten Kapitalmoloch zu den Keimzellen oder Organisationseinheiten der neuen demokratischen Welt verklären muss. Damit beginge man einen groben Fehler. Genauso beginge man aber einen groben Fehler, alle in Reaktion auf den Kapitalismus sich formierenden Gegenkräfte als reaktionär und protofaschistisch abzutun, zumal auf linker Seite genauso kleine Gemeinschaften und »Schutzräume« gebildet werden, die in der Regel nicht weniger borniert oder vor faschistischen Tendenzen gefeit sind als die erstgenannten.

Um abschließend auf die eingangs erwähnten Richtungen einzugehen, sei den Bordigisten gesagt: »Ja, es braucht ein Dogma, eine Partei und ein Programm, nämlich das des Marxismus«. Den Marxisten-​Leninisten sei gesagt: »Ja, das ist im Grunde unser Programm, es muss nicht alles neu erfunden werden und auch Stalin hat das Programm, anders als Bordiga behauptet, nicht verraten.«

Zu den Anarchisten muss ich dagegen doch noch ausholen, und zwar deshalb, weil es unklar ist, ob sie tatsächlich nur ideologischer Ausdruck der kleinbürgerlichen Produktionsform sind, das Dasein kapitalistischer Privatproduzenten ideologisch auf die Spitze treiben, sich lediglich mit Proudhon in die Utopie einer antimonopolistischen Kleinproduktion verbeißen oder eben doch die bisherigen Gesellschaftsform überwinden wollen und mit ihr das Privateigentum, die Warenform und den Kapitalismus. Ist ersteres der Fall, dann ist es offensichtlich unmöglich auf einen grünen Zweig zu kommen. Ist hingegen zweiteres der Fall, dann sollte eine Zustimmung der Anarchisten zu den Voraussetzungen der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Demokratisierung der Wirtschaft kein Streitgrund sein, zumal diese ja auch Voraussetzung für die Stärkung anarchistischer Gesellschaftsvorstellungen ist.

Der Sensibilität für willkürliche Herrschaftsstrukturen seitens der Anarchisten kann zweifellos eine wichtige Rolle beim Vorantreiben gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse in allen Bereichen zukommen und auch beim Ausarbeiten demokratischer Modelle und Kontrollstrukturen bietet der Anarchismus einen reichen Theorieschatz, den man nie einfach rundheraus ablehnen sollte.

Andererseits droht der Anarchismus Gefahr zu laufen zu einem unfreiwilligen Hilfstrupp der Herrschenden zu werden, wenn er den Aufbau starker Gegenmachtstrukturen durch seine bisweilen pubertär anmutende Phobie gegen die Bildung starker Arbeiterparteien ins Schädliche treibt. Eine Kritik und Selbstkritik des gegenwärtigen Anarchismus steht deshalb dringend auf der Tagesordnung. Meiner Kenntnis nach gibt es anders als unter Kommunisten keine Selbstreflektion über das Scheitern des Anarchismus, immerhin gleich alt wie Konservatismus oder Kommunismus. Das lässt die Vermutung zu, dass mehr als spontane Rebellion dann doch nicht angestrebt wird.

Wirklich wenig konstruktiv im Hinblick auf eine echte Veränderung der Verhältnisse ist zudem, dass der Anarchismus in seiner Phobie gegenüber dem Sozialismus meistens die antikommunistische bürgerliche Lügenpropaganda eins zu eins schluckt und sie mit Anarchofolklore wiedergekäut nochmals ausspuckt, ja überhaupt eine Obsession mit vermeintlichen kommunistischen Verbrechen hat, kaum aber mit den echten des Bürgertums, was dann eben doch auch die Skepsis unter Kommunisten nährt. Ein übriges tun dann mehr oder weniger aktuelle Beispiele der Kooperation zwischen Imperialisten und Anarchisten hinzu: von Hong Kong über Rojava zur Ukraine oder den diversen Farbenrevolutionen ist eine ganz unglückliche Rolle des zeitgenössischen Anarchismus bestens dokumentiert. Zugegebenermaßen gilt das leider auch für nicht wenige sich kommunistisch heißende Klein- und Großgruppen.

Natürlich gibt es auch umgekehrt durchaus einige Gründe, die Anarchisten negativ gegen Kommunisten einstellen, das sei zugestanden, gilt aber vice versa. Dennoch müssen Anarchisten sich eingestehen, dass sie so gut wie keine Erfolge vorzuweisen haben, was das Große und Ganze angeht. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Klassenkampf kein Tageswerk ist und auch nach einer erfolgreichen Revolution weiter tobt, wie die russische oder chinesische Geschichte gelehrt haben. Auch dass der Imperialismus nicht einfach einem sozialistischen Staat wohlwollend entgegentritt, sprich, dass es Notwendigkeiten gibt, starke und teilweise auch hierarchische Strukturen wie das Militär oder Geheimdienste aufzubauen, sollte bedacht werden, wenn man wirklich an einer langfristigen Veränderung der Verhältnisse interessiert ist und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beenden will. Der Anarchismus bleibt ansonsten reine Utopie und wird nicht zur Wissenschaft, hätte Engels gesagt.

Die Kommunisten sollten also durchaus bei den Anarchisten in die Schule gehen, damit es nicht noch einmal zu einer antidemokratischen bürokratistischen Verkrustung kommt. Umgekehrt, sollten die Anarchisten von Kommunisten lernen, dass es durchaus Struktur und starke Organisationen braucht, um den Kapitalismus überhaupt ernsthaft herausfordern zu können; dass es einen langen Atem braucht, mehrere Generationen, die Revolution mehr ist als ein Rausch zwischen Feierabend und Lohnsklaverei oder Selbstausbeutung.

Stellt man aber nun beide oder mehrere Gruppierungen und Richtungen unvermittelt nebeneinander ohne zu einer programmatischen und strategischen Diskussion voranzuschreiten, dann kann auch der oben angemahnte gegenseitiger Lern- und Entwicklungsprozess nicht stattfinden. Dieser aber ist Voraussetzung, dass die Freie Linke mehr wird als ein bloßes Aggregat von Ansichten und Individuen oder Querdenken mit linkem Vorzeichen. Deshalb hat sich die Freie Linke Zukunft zu dieser offenen Programmdebatte entschlossen. Nicht um die Idee der Freien Linken zu beerdigen, sondern dieser Form gebend sie zur Zukunft zu wenden.

7 thoughts on “Allumfassende Demokratisierung – ein Zwischenruf in die Programmdebatte

  1. >dass die Programmdebatte durchaus als Ausdruck eines Reflektionsprozesses aufgefasst werden kann.

    ich bin nicht sicher, ob man den reflektionsprozess anstarten muss, ob er nicht schon – eben mit mal mehr mal weniger erloes – von anfang an dort im gange ist, wo einzelne, von dort, dort und dort ausgeschieden, gruppen- und bezugslos neu zusammenfinden und ueberlegen, warum gerade sie jetzt sich in der neuen lage wiederfinden: das erkennen dieser lage ist schon der in gang gekommene prozess der reflektion nach innen, der dann, nach aussen angewandt, als methode der selbsterkennung der ganzen bewegung herhalten kann.

    >den Massen klar zu machen, dass die ganze Schweinerei, die wir in den letzten zwei Jahren erleiden mussten, durchaus etwas mit der Funktionsweise kapitalistischer Gesellschaft zu tun hat.

    hier dann: sich selber aufschluss geben, mittels kritik, warum und wie dieses und jenes miteinander zu tun hat, das ist erstmal das programm, das was zu tun ist. die konsequenzen aus diesen erkenntnismomenten zu ziehen, liegt wie immer in der hand derer, mit denen man so gut man kann, diese erkenntnismomente teilt (bevor es jemand anderes in entgegengesetzte richtung tut)

    >sondern aus der Bewegung heraus und zurückgebunden an die aktuelle Lage uns Gedanken machen

    die bewegung kommt von sich aus zu – wie dir auch auffaellt, oft falschen – schluessen ueber sich selbst und die welt in der sie sich abspielt, programm ist, die bewegung darin zu unterstuetzen, sich ueber sich selbst und den ganzen rest richtig auskunft zu geben, anstatt weiterhin auf seine eigenen lebensluegen hereinzufallen.

    >Wir müssen keine Kommunisten vom Kommunismus überzeugen, sondern Nichtkommunisten, wenn möglich auch Antikommunisten.

    stimmt.

    >Bordiga

    ich versteh den tradierungsgedanken – hermeneutik der kontinuitaet, sagen die theologen – aber der ist genausoviel und genauswenig wert wie er uns hilft, die lage zu begreifen und begreifbar zu machen. ob du dafuer eine alte sache ausgraebst oder eine neue erfindest bleibt am masstab der hilfreichigkeit dieser sache gemessen.

  2. Anarchisten die die Vergesellschaftung von Produktionsmittel wollen sind Sozialisten. Klar muß ihnen sein daß Kapitalisten nie aufgeben werden und sich auch jederzeit neu bilden können. Dazu wird nun mal eine Obrigkeit benötigt die diese Ausbeuter unten und das Proletariat hoch hält. Dazu ist der Marxismus-​Leninismus da.

    Antistalinisten+Trotzkisten sind Antikommunisten, sie sind ahnungslos und auf kapitalistische Propaganda hereingefallen. Abhilfe schaffen geht nur mit Informieren und Lesen – und zwar nichts von kapitalistischen/​trotzkistischen Authoren.

    Zur Demokratisierung der Wirtschaft gehört auch die Demokratisierung der Poltiik, denn im Kapitalismus ist keins von beiden demokratisch sondern es wird das getan was das Kapital will. Was auch kein Wunder ist denn mit Geld kann man sich alles kaufen, auch Politik und damit die Macht. Daher muß auch ein Verbot kapitalistischer Parteien gefordert werden denn letztendlich vertreten diese nur die 0,1% und das kann nie demokratisch sein. »Letztendlich«, weil im Kapitalismus nur die »stärkste« Firma überlebt, also diejenige Firma die am meisten Profit macht, egal ob mit Sklaverei, totaler Ausbeutung, Umweltzerstörung, gekaufter Politik. Es bleibt am Ende immer nur ein Monopol/​Oligopol übrig was Wirtschaft/​Politik beherrschen wird. Parteien die den Kapitalismus nicht abschaffen wollen können also nie demokratisch sein.

  3. >Die Angst, dass Profilierung und Überwindung der Indifferenz zu Spaltung … führt, ist wie erwähnt unbegründet, vielmehr scheint das Gegenteil der Fall

    Spaltung (je nachdem Meinungsverschiedenheiten bis organisatorische Spaltung) entsteht dann, wenn Aussagen für eine Gesamtheit gemacht werden sollen, die die Gesamtheit nicht trägt. Das ist keine Angstfrage, sondern eine Zweckfrage: Zu welchem genauen Zweck soll eine Aussage X für eine Gesamtheit gemacht werden, die die Gesamtheit nicht trägt?

    — — — -

    Beispiel:

    Eine Untergruppe A will für die Gesamtheit einen Krieg in Land X verurteilen und Kriegspartei Y als »die Guten« hinstellen, womit einige Beteiligte der Gesamtheit nicht einverstanden sind.

    Untergruppe A sollte, bevor sie Aktivitäten in diese Richtung startet, für sich selbst und die Gesamtheit beantworten: Worin besteht der beobachtbare/​überprüfbare Nutzen, (a) die Gesamtheit über diese Frage zu entzweien, (b) Ressourcen der Gesamtheit für Diskussionen über diese Frage zu verbrauchen? Hat die Gesamtheit z.B. überhaupt so viel Einfluss, dass sich, was immer in ihrem Namen gefordert wird, praktisch auf den Krieg in Land X auswirkt? Welchen Nutzen könnte das Vorhaben einer Aussage für die Gesamtheit, die die Gesamtheit nicht trägt, sonst haben? Welcher Schaden entsteht? Überwiegt der Nutzen den Schaden? Weshalb kommt eine Aussage zum Krieg in Land X, die die Gesamtheit trägt, nicht in Frage? Weshalb sollte die Aussage nicht enthalten: einige von uns meinen dies, andere das? Was wäre der Schaden?

    Argumentiert Untergruppe A, statt solche Fragen zu stellen und zu beantworten, so: »Der Krieg in Land X ist zu verurteilen und Kriegspartei Y sind ›die Guten‹, weil … – und daher muss eine Aussage für die Gesamtheit gemacht werden, obschon nicht alle einverstanden sind.« ist das papistischer Blödsinn. (Leider die Norm in linken Zusammenhängen, der eine gewaltige Überschätzung der Bedeutung der eigenen Aussagen zugrunde liegt.)

    — — — -

    Analog wäre mit allen Aussagen zu verfahren, auch z.B. mit einer Forderung »Sozialismus«, wenn Beteiligte der Gesamtheit lieber »Anarchie« wollen. Hier sollten sich »Sozialismus«-Befürwortende zusätzlich für sich selbst fragen: Welcher beobachtbare/​überprüfbare Nutzen entsteht hinsichtlich der Erreichung des Ziels des Sozialismus, wenn wir unter den gegebenen Bedingungen (a) die Gesamtheit über diese Frage entzweien, (b) Ressourcen der Gesamtheit für Diskussionen über diese Frage verbrauchen? Welcher Schaden entsteht? Gibt es bessere Möglichkeiten, dem Sozialismus näher zu kommen? 

    Bei einigen Aussagen kann (je nach den Bedingungen jetzt oder später) durchaus herauskommen: Spaltung hat einen höheren Nutzen als Schaden.
    Genau solche Aussagen gehören in ein Programm. Diese Aussagen gilt es zu finden.

    Zuallererst gehören aber solche Aussagen in ein Programm, die die Gesamtheit trägt. Diese Aussagen gilt es zu finden.
    Gute Jobs in diese Richtung sind: der FL-​Gründungsaufruf https://​freielinke​.net/ (das ist ein Programm), Strategische Forderungskomplexe https://​freie​-linke​.de/​l​a​r​i​s​s​a​/​2​0​2​1​/​1​0​/​4​554, Berlin https://​freie​-linke​-berlin​.de/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​s​t​e​h​en/. Seit Gründung der FL hat erkennbar eine Konkretisierung des Programms stattgefunden.

  4. >Die Angst, dass Profilierung und Überwindung der Indifferenz zu Spaltung … führt, ist wie erwähnt unbegründet, vielmehr scheint das Gegenteil der Fall

    Spaltung (je nachdem Meinungsverschiedenheiten bis organisatorische Spaltung) entsteht dann, wenn Aussagen für eine Gesamtheit gemacht werden sollen, die die Gesamtheit nicht trägt. Das ist keine Angstfrage, sondern eine Zweckfrage: Zu welchem genauen Zweck soll eine Aussage X für eine Gesamtheit gemacht werden, die die Gesamtheit nicht trägt?

    — — — -

    Beispiel:

    Eine Untergruppe A will für die Gesamtheit einen Krieg in Land X verurteilen und Kriegspartei Y als »die Guten« hinstellen, womit einige Beteiligte der Gesamtheit nicht einverstanden sind.

    Untergruppe A sollte, bevor sie Aktivitäten in diese Richtung startet, für sich selbst und die Gesamtheit beantworten: Worin besteht der beobachtbare/​überprüfbare Nutzen, (a) die Gesamtheit über diese Frage zu entzweien, (b) Ressourcen der Gesamtheit für Diskussionen über diese Frage zu verbrauchen? Hat die Gesamtheit z.B. überhaupt so viel Einfluss, dass sich, was immer in ihrem Namen gefordert wird, praktisch auf den Krieg in Land X auswirkt? Welchen Nutzen könnte das Vorhaben einer Aussage für die Gesamtheit, die die Gesamtheit nicht trägt, sonst haben? Welcher Schaden entsteht? Überwiegt der Nutzen den Schaden? Weshalb kommt eine Aussage zum Krieg in Land X, die die Gesamtheit trägt, nicht in Frage? Weshalb sollte die Aussage nicht enthalten: einige von uns meinen dies, andere das? Was wäre der Schaden?

    Argumentiert Untergruppe A, statt solche Fragen zu stellen und zu beantworten, so: »Der Krieg in Land X ist zu verurteilen und Kriegspartei Y sind ›die Guten‹, weil … – und daher muss eine Aussage für die Gesamtheit gemacht werden, obschon nicht alle einverstanden sind.« ist das papistischer Blödsinn. (Leider die Norm in linken Zusammenhängen, der eine gewaltige Überschätzung der Bedeutung der eigenen Aussagen zugrunde liegt.)

    — — — -

    Analog wäre mit allen Aussagen zu verfahren, auch z.B. mit einer Forderung »Sozialismus«, wenn Beteiligte der Gesamtheit lieber »Anarchie« wollen. Hier sollten sich »Sozialismus«-Befürwortende zusätzlich für sich selbst fragen: Welcher beobachtbare/​überprüfbare Nutzen entsteht hinsichtlich der Erreichung des Ziels des Sozialismus, wenn wir unter den gegebenen Bedingungen (a) die Gesamtheit über diese Frage entzweien, (b) Ressourcen der Gesamtheit für Diskussionen über diese Frage verbrauchen? Welcher Schaden entsteht? Gibt es bessere Möglichkeiten, dem Sozialismus näher zu kommen? 

    Bei einigen Aussagen kann (je nach den Bedingungen jetzt oder später) durchaus herauskommen: Spaltung hat einen höheren Nutzen als Schaden.
    Genau solche Aussagen gehören in ein Programm. Diese Aussagen gilt es zu finden.

    Zuallererst gehören aber solche Aussagen in ein Programm, die die Gesamtheit trägt. Diese Aussagen gilt es zu finden.
    Gute Jobs in diese Richtung sind: der FL-​Gründungsaufruf https://​freielinke​.net/ (das ist ein Programm), Strategische Forderungskomplexe https://​freie​-linke​.de/​l​a​r​i​s​s​a​/​2​0​2​1​/​1​0​/​4​554, Berlin https://​freie​-linke​-berlin​.de/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​s​t​e​h​en/. Seit Gründung der FL hat erkennbar eine Konkretisierung des Programms stattgefunden.

  5. Ein gutgesinnter Text, der auf Konsens aus ist und ihn in der Forderung nach Demokratisierung findet. Ob organisierte Anhänger Bordigas zustimmen würden, wenn es sie in Deutschland gäbe? – beinahe eine akademische Frage…

    Es hat etwas Bizarres: Während auf der Seite der Freien Linken Berlin sich recht abfällig über eine Veranstaltung geäußert wird, auf der der linke Journalist P. Novak einen covidskeptischen Vortrag gehalten hat, der irgendwann auf den Linkskommunismus kam – der verschnittenen Fassung nach fand er ihn vermutlich beim Containern in den Hinterhöfen haupstädtischer Intellektuellencliquen – , wird sich hier recht tolerant zu ihm gestellt.

    Man braucht aber kein Bordigist zu sein, um zu der Einschätzung zu kommen, dass es ebenfalls keine Perspektive für eine echte Mitarbeit von Linkskommunisten welcher Richtung auch immer in der FLZ geben kann; nicht mit den Marxisten-​Leninisten und nicht mit dem libertären Clübchen.

    Es wäre allerdings wünschenswert, dass die bestehenden Gegensätze dargelegt und erklärt werden. Und da böte der »Zwischenruf« besonders mit seinem Exkurs zur Protestideologie von Querdenken erfreulicherweise eine gute Gelegenheit.

    Was die Forderung nach umfassender Demokratisierung angeht aber möchte man beinahe anmerken, dass die Kritik der Gülle die Kritik durch die Gülle nicht ersetzen kann…

  6. Im großen und ganzen gefiel mir der Artikel. Da es mich alte kleine Proletarierin schon seit einigen Jahren fuchst, dass sich die Antkapitalisten eher selbst zerfleischen und damit die Arbeit der Schergen ihres Gegners übernehmen, als dass sie ihm entgegengetreten, freue ich mich über jeden Versuch, hier aufeinander zuzugehen.

    Hier hätte ich einen Vorschlag. Wie wäre es, statt schon am Anfang die Differenzen zu betonen, erst einmal bei den Übereinstimmungen zu beginnen und sich quasi von diesem Kern nach außen zu den unterschiedlichen Sichtweisen vorzuarbeiten. 

    Vielleicht auch nochmal die Entwicklung des Kapitalismus betrachten, der hatte lange vor der politischen Revolution seine ökonomische Entwicklung im alten System begonnen. Es wird wahrscheinlich auch auf dem Weg in die nachkapitalistische Produktion und Gesellschaft nicht die alleingültige one size fits all Lösung geben. Das einzig unabdingbare wird wohl sein müssen, reaktionäre/​konterrevolutionäre Kräfte zu erkennen und unschädlich zu machen. Und das ist eine Aufgabe, die permanent besteht.
    Jetzt bin ich noch gespannt, was daraus wird. Ich hatte mich aus der offiziellen Debatte verabschiedet, da ich die Ernsthaftigkeit anzuzweifeln begann.

  7. Ich fange, auch in Anbetracht der Kommentare, mal SO an:
    Die radikallinke (Sammlungs?)Bewegung ist und war einmal eine Bewegung – etwas von selbst Zustandekommendes bei vielen Leuten. Zum andern gab es da auch eine Theorie, Bewusstmachung, die praktisch einen Unterschied machte, das hiess: Wenn man die Theorie kannte, verfolgte man das allen gemeinsame (und sowieso vertretene) Bewegungsziel auf andere Weise als ohne, oder womöglich gleich ein besseres, besser durchdachtes Ziel.
    Was aber das Ziel war, oder die Ziel-​Reihenfolge, der Plan, Nahziele und Fernziele, war schon in der Bewegung vielfältig. In der Theorie erst recht.
    Beides: das von selbst bei vielen Einzelnen Stattfinden, und das aufklärend, agitierend Überzeugen und dadurch (mit wenigstens subjektiv guten Gründen) Lenken, Gestalten fand immer zugleich statt, wenn auch höchst unterschiedlich gewichtet, es gab spontanes, aus unerträglichen Lagen heraus erzwungen Disruptives, ebenso wie reife Überlegung und organisierte Vermittlung; und alles mögliche zwischendrin.

    Die praktische Aufgabe nun, die »Demokrati(si)e(rung« lösen will, ist eine Bestimmung kollektiven Handelns durch ein Maximum an (wenn auch nicht von allen) geteilten Willensinhalten und Meinungen. Das alles unterlag und unterliegt meist beiden genannten Einflüssen zugleich, dem spontan Mitgebrachten und unter Leidens-​Druck geratenen VON SELBST, und der von einem oder mehreren überlegenden Zentren per »Veröffentlichung« in eine unbestimmte Masse (eben die bestimmte »Öffentlichkeit«) ausstrahlenden Agitation und Aufklärung.

    Diese Aufgabe ist aber zu einfach gestellt, und genau darum stellt sie sich in den fortgeschrittenen Verhältnissen heute so nicht mehr, oder nur noch in einer sehr abgeleiteten Form.
    Die praktisch zu lösende Frage lautet vielmehr: Wie können immer grössere Gruppen sachgerecht (!) kollektiv lernen, dh unter Umständen komplexe Sachverhalte sachgerecht kollektiv, gemeinsam beurteilen und ihr daraus abgeleitetes (das womöglich erstmal im seinerseits »sachgerechten« Verbreiten dieser Urteile besteht) koordinieren?

    Ich erinnere hier an die einzig korrekte und darum REVOLUTIONÄRE Kommunismus-​Formel, die Marx uns gegeben hat (natürlich meine Wiedergabe des Gedankens von Marx, schon klar): K herrscht im Mass und dort, wie und wo der Kenntnisfortschritt jedes einzelnen Beteiligten das Mass der Fortgeschrittenheit darstellt, das die Gruppe als ganze erreicht. Anders gesagt: Arbeits-​TEILUNG (iSv ‑aufteiung) hört beim Wissen alles fürs kollektive Handeln Relevanten auf; Wissens‑, Kenntnis- und Erkenntnis-​TEILEN muss aller vernünftigen Arbeitsteilung vorausgegangen sein und ihr zugrundeliegen.

    Zweierlei halte ich fest: Erstens, es handelt sich um KENNTNISSE auch Erkenntnisse; nicht um MEINUNGEN.
    Zweitens, das Mass an K wird an der Fähigkeit festgemacht, solche Kenntnisse überhaupt zu teilen und gemeinsam zu haben. Da geteilte Einschätzungen heute fast immer Meinungscharakter haben (der Unterschied Meinung/​Urteil (Kenntnis, Erkenntnis usw) wäre zu erläutern), und wenn nicht, von nur ganz wenigen in höherem Masse geteilt werden, gibt es heutzutage keinen K. Nirgendwo.
    Die Frage bleibt, ob er sich spontan herstellt, oder was seiner Herstellung von selbst, spontan, entgegenkommt. Oder ob es ein Erkenntnisprozess, womöglich auhc ein von aussen (immer wieder?) angestossener solcher, ist, der ihn bei immer mehr, in immer grösseren Gruppen, erzeugt.
    Unbewiesene These: Wenn das Zustandekommen von K in diesem Sinn nicht gelingt, lösen wir, Menschheit, die am Ende der bürgerlichen Moderne angehäuften Probleme nicht, und gehen unter. K ist das Produktionsverhältnis, das dem zu diesem Endzeit-​Punkt erreichten (durchaus auch traurigen. destruktiven) Stand der Produktivkraftentwicklung einzg angemessen ist.
    Er ist keine Utopie, sondern BITTER NOTWENDIG.

    PS: Und das war nur der EINE von vier vermeinttlichen Nebenwidersprüchen, Kopf/​Hand, die – wie ich behaupte – gelöst sein müssen, um die Eigentums- und Machtfrage endgültig angehen (dh auflösen) zu können (so dass sie sich nicht mehr stellt; das unreife bürgerliche Verhältnis zwischen Leuten Geschichte ist).
    Für die andern: Mann/​Frau, Stadt/​Land, Zentrum/​Peripherie gilt dasselbe, sage ich. Und da sollte klar sein, dass es sich in allen vier Fällen um Chiffren handelt für überaus bedrückende »Verhältnisse« – in und zwischen Einzelnen, und mehr oder weniger grossen Gruppen von ihnen.

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