Sanktionen: Die Bundesregierung hat nicht einmal nachdenken lassen

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Teil 1

Manchmal denkt man, es könne einen nichts mehr erschüttern. Ich dachte, ich wäre reichlich abgebrüht, was die Erwartungen an das Berliner politische Personal betrifft; wenn man die Einstellung »nichts Gutes« wählt, ist man immer auf der richtigen Seite. Und ich habe ihnen auch alle möglichen Dummheiten zugetraut und sogar schon zugeschrieben im Zusammenhang mit den Sanktionen. Nur gestern warf ich einen Blick auf ein paar Papiere, die belegen, dass es noch schlimmer ist, als ich gedacht hatte. Die haben nicht nur zu wenig nachgedacht. Die haben gar nicht nachgedacht. Noch schlimmer. Die Papiere, die jetzt erscheinen, haben als – wohlausgeschmückten und über Seiten ausdehnten – Inhalt ein »Wir sollten einmal nachdenken«.

Ich rede hier von aktuellen Arbeitspapieren der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Beschrieben wird diese Bundesakademie als »ressortübergreifende Weiterbildungsstätte der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Das auftraggebende Kuratorium ist der Bundessicherheitsrat«.

Im Bundessicherheitsrat wiederum befindet sich neben dem Bundeskanzler das halbe Kabinett; seine bekannteste Aufgabe ist die Genehmigung von Rüstungsexporten, seine eigentliche Funktion ist aber – ja, genau – das sicherheitspolitische Zusammenwirken der unterschiedlichen betroffenen Fachministerien. Anders gesagt: Wenn vorab Überlegungen stattfanden, welche Auswirkungen die geplanten Sanktionen gegen Russland auf Deutschland, seine Wirtschaft und seine Bürger haben, dann ist der Bundessicherheitsrat das Gremium, von dem eine Bearbeitung dieser Frage ausgeht oder ausgehen sollte.

Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist dabei die Denkfabrik, die das nötige wissenschaftliche Personal stellt oder koordiniert, unter anderem durch entsprechende Schulungen für das Personal der Ministerien. Dabei sollte man eines nicht vergessen: Selbst unter einer Außenministerin Annalena Baerbock existiert ein ganzer Apparat, in dem es durchaus Menschen gibt, die imstande sind, einen vollständigen deutschen Satz ohne Unfall auszusprechen oder gar einen komplexeren Gedanken zu haben. Auch wenn ein aktuelles Treffen des Bundessicherheitsrats eher eine Ansammlung von Nullnummern ist, denn erst auf der Ebene der Referatsleitung beginnen die politischen Posten – alles darunter muss sich zumindest irgendwie leistungsmäßig bewährt haben.

Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist Ekkehard Brose. Dass er im Verlauf seiner Karriere stellvertretender Büroleiter für Genscher und Kinkel war, weist ihn als einen FDP‐​Mann aus, vermutlich aus dem Kinkel‐​Tross. Er war unter anderem stellvertretender Botschafter bei der NATO, danach ein Jahr lang bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, und zwei Jahre lang Botschafter – im Irak. Dann saß er drei Jahre auf einem Aufbewahrungsposten im Auswärtigen Amt, bis er 2019 die Leitung der Akademie übernahm.

Also ein geheimdienstnaher Karrierediplomat, der, weil Tross Kinkel, mit Sicherheit ein intelligenter Mann ist (und angesichts von Frau Baerbock seine eigene Last an Fremdscham tragen dürfte), aber im Verlauf seiner Karriere auf parteipolitisch ungünstige Entwicklungen stieß, die einen krönenden Abschluss durch einen bedeutenden Botschafterposten verhinderten.

Da er ursprünglich Volkswirtschaft studiert hat, dürfte er über ein gewisses Maß an ökonomischer Bildung verfügen; nachdem er sogar an der Ausarbeitung der NATO‐​Russland‐​Grundakte beteiligt war, dürfte er auch ein gewisses Grundwissen über Russland haben, und bei dieser Geschichte und dieser Herkunft wären vier, fünf Sprachen eigentlich das Minimum. Rein technisch gesehen – und das muss man beim Zustand dieser Republik besonders betonen – durchaus eine Person, die geeignet wäre, die erforderlichen Überlegungen in die Wege zu leiten.

Klar kann man nicht in solche Strukturen hineinsehen, aber weil für die Ergebnisse eine größere Reichweite erforderlich ist, sind die regelmäßig erscheinenden Arbeitspapiere durchaus ein valider Hinweis darauf, was in diesem Apparat vor sich geht. Es ist noch nicht einmal anzunehmen, dass diese Papiere über den Stand der Debatte täuschen sollen, dass also in Wirklichkeit der Apparat viel, viel weiter ist; dazu sind die Veröffentlichungen zu rudimentär, viel zu weit am Anfang und viel zu deutlich darauf ausgerichtet, ein Nachdenken überhaupt erst einmal auszulösen.

Nebenbei – wenn man an Stoltenbergs acht Jahre Vorbereitung denkt und sieht, wie NATO‐​nah die Tätigkeiten von Brose verliefen, kann man davon ausgehen, dass der deutsche Teil dieser Vorbereitungen, sofern es ressortübergreifende Konsequenzen anging, ebenfalls auf seinem Schreibtisch landete. Anders gesagt: Wenn es ein deutsches Nachdenken über die Frage »Seppuku: Ja oder Nein?« gegeben haben sollte, dann müssten sich die Spuren unter anderem in diesen Arbeitspapieren finden lassen. Alle Indizien deuten aber darauf hin, dass nicht gedacht wurde; und der Sinn dieser langen Vorrede besteht in der Aufforderung, man möge selbst diese Papiere betrachten und überprüfen, was darin zu finden ist.

Das erste dieser Papiere stammt aus dem März und trägt den Titel »Ein Kompass für die Zeitenwende«. Verfasst wurde es von einem Politikwissenschaftler und Unternehmensberater namens Jan Fuhrmann. Es beginnt schon mit dem üblichen Narrativ, man müsse nun »nach dem russischen Angriff auf die Ukraine« Konsequenzen ziehen, was die unvermeidliche Frage aufwirft, worin denn nun die acht Jahre Vorbereitung der NATO bestanden haben, neben der regelmäßigen Vergabe von Streicheleinheiten an die Kiewer Regierenden.

Eine nationale Sicherheitsstrategie besteht nicht. Das stellt dieser Text fest, und führt dann aus, dass es eine solche doch geben sollte:

Schon vor der viel beschriebenen Zeitenwende gab es viel zu tun für die deutsche Außen‐ und Sicherheitspolitik. Der russische Angriff auf die Ukraine verschärft zahlreiche Probleme und hat abermals Lücken offengelegt. Die nationale Sicherheitsstrategie – und insbesondere ihr Erstellungsprozess – bietet die Chance, den Blick für die eigenen Prioritäten zu schärfen.

Klingt das normal? Nur, wenn man einen etwas abgehobenen Blick auf die Aufgaben des Regierens hat. »Nationale Sicherheitsstrategie« – das ist etwas, da geht es nicht, oder nicht primär, um die Produktion von Kriegsgerät. Da geht es um Nahrungssicherheit, gesicherte Energieversorgung, um ökonomische Abhängigkeiten. Eine nationale Sicherheitsstrategie ist die Grundlage der Souveränität; und ich bin mir ziemlich sicher, der andere deutsche Staat existierte keinen Tag lang ohne, und die Regierungsverantwortlichen wären imstande gewesen, die Kernpunkte wiederzugeben, wenn sie nachts um drei aus dem Schlaf gerissen wurden. Durch die ungünstige Verteilung der industriellen Zentren war die Lage der DDR in dieser Hinsicht nämlich lange sehr schwierig, und es sind eigentlich die ersten Punkte, die eine Regierung im Blick haben sollte: Wie gewährleiste ich das sichere Überleben der eigenen Bevölkerung? Was ist erforderlich, damit die Industrie funktioniert, zumindest im Bereich lebensnotwendiger Produkte? Welche Importe könnten kritisch werden? Welche müssen möglicherweise ersetzt werden?

Für Regierungen, die mit westlichen Sanktionen beglückt werden, und für Regierungen ärmerer Länder ist so etwas das tägliche Brot. Der Spielraum eigenen Handelns muss ständig gegen diese Notwendigkeiten errungen und oft genug gegen äußere Versuche, ihn zu nehmen, verteidigt werden.

Da geht diese Bundesrepublik also her und brütet über Jahre hinweg an einem Konflikt mit einer der größeren Mächte, nämlich Russland, unternimmt belegbar selbst das ihr Mögliche nicht, um diesen Konflikt zu vermeiden, und hat – keine nationale Sicherheitsstrategie. Was bedeutet, sie haben im besten Falle einmal ihre Panzer durchgezählt (schon das Ergebnis hätte sie vor Schreck zur Salzsäule erstarren lassen müssen), sich aber keinerlei Gedanken gemacht, welche Konsequenzen ein solcher Konflikt für die Sicherheit Deutschlands hat, oder anders herum, ob die Führung eines solchen Konflikts tatsächlich im deutschen Interesse liegt.

Wobei das Interesse in einem solchen Fall keine Frage von Vorlieben, geschweige denn von den vielbeschworenen »Werten« ist, sondern eine Fortführung dessen, was man mit einfachen Blicken auf die Rohstoffkarten in einem gewöhnlichen Schulatlas zu erkennen lernt (oder zu erkennen lernen könnte): Dass die allermeisten Länder bestimmte Materialien haben, andere aber nicht. Auf Handel angewiesen zu sein ist ein völlig normaler Zustand. Russland ist in dieser Hinsicht der Ausnahme von der Regel sehr nahe, aber gänzlich ist das selbst dort nicht der Fall. Man kann auf Karten auch Verkehrswege sehen und erkennen, wo diese Verkehrswege verwundbar sind. Man kann auch sehen, woher die Dinge, die möglicherweise fehlen, bezogen werden können.

Anders gesagt: Wenn man erfassen will, wo die nationalen Interessen liegen, fängt man mit solchen Fragen an. Welche Nahrungsmittel werden produziert und welche müssen eingeführt werden? (Übrigens, die tollen Pläne der niederländischen Regierung, der dortigen Landwirtschaft den Stickstoffeinsatz zu verbieten, werden in Deutschland, im Falle ihrer Umsetzung, zum einen das Gemüseangebot deutlich verknappen und zum anderen die Preise weiter in die Höhe treiben; nur als kleines Beispiel von Wechselwirkungen). Welche Industrien benötigen welche Rohstoffe? Welche davon sind gegebenenfalls ersetzbar und welche nicht? Mit welchen Mitteln ist eine kontinuierliche Energieversorgung sicherzustellen?

In diesem Bereich geschehen die allerwitzigsten Dinge. Der DDR wurde ja immer vorgehalten, sie nutze die »schmutzige«, weil besonders schwefelhaltige, Braunkohle. Die DDR konnte aber nichts dafür, weil auf ihrem Staatsgebiet schlicht keine Steinkohlevorkommen lagen, und die Belieferung mit Erdöl wurde erst mit Fertigstellung der Druschba‐​Pipeline stabil. Die heutige Bundesrepublik greift jetzt auch wieder zur Braunkohle. Zur Steinkohle kann sie nämlich nicht einfach greifen, da die Steinkohlebergwerke, die es einmal dutzendweise im Ruhrgebiet gab, nicht einfach geflutet, sondern zubetoniert wurden. Dies bedeutet, wollte man wieder Steinkohle fördern, müssten völlig neue Schächte gegraben werden … So viel zu einer nationalen Sicherheitsstrategie. Normalerweise hat man die, ehe man Grundsatzentscheidungen über die Energieversorgung trifft, und hält sich an das, was die Entwicklung dieser Strategie ergeben hat, und nicht an irgendwelche ideologischen Wünsche. Wie praktisch, dass es eine solche Strategie offenkundig gar nicht gibt.

Teil 2

Kommen wir zum nächsten dieser Arbeitspapiere. Der Titel lautet »Mehr Realismus und Fantasie: Gedanken zu einer zukünftigen deutschen China‐​Politik.« Der Autor arbeitet bei einer Brüsseler Denkfabrik und war zuvor bei der Konrad‐​Adenauer‐​Stiftung für Asien und den Pazifik zuständig.

Er ist strammer Transatlantiker, und das zeigt sich auch an seiner Kritik der bestehenden »Leitlinien zum Indo‐Pazifik«:

Die Hoffnung, sich mit der Dreifaltigkeit von »Partner, Wettbewerber und systemischem Rivalen« einen flexiblen Handlungsraum deutscher (und europäischer) China‐​Politik schaffen zu können, dürfte sich allerdings als trügerisch erweisen. Denn hier wird doch suggeriert, dass die europäische, insbesondere aber deutsche Politik noch einen erheblichen und eigenständigen Einfluss darauf hätte, wie die bilateralen Beziehungen zu Peking ausgestaltet werden können – und dies gegebenenfalls auch im Widerspruch zu den Vereinigten Staaten, sollten hier Interessengegensätze existieren. Ein solcher Gestaltungsanspruch kann aber nur in engem Verbund mit den anderen Mitgliedsstaaten der EU, den USA und weiteren demokratischen Partnerländern in Asien‐​Pazifik erreicht werden. Das bedeutet jedoch auch, dass offen über die Kosten verschiedener Handlungsoptionen debattiert werden muss. Davor scheut die deutsche Politik bislang zurück, insbesondere vor einer klaren Positionierung etwa in einem möglichen Konflikt zwischen den USA und China um Taiwan.

Der Gedanke, es gäbe keinen Spielraum für eine eigenständige Position unabhängig von den Vereinigten Staaten zieht sich, trotz der Betonung einer Notwendigkeit einer »europäischen Position«, durch den ganzen Text. Die Frage ökonomischer Verwundbarkeiten findet sich nur an einer Stelle, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Lage schon erheiternd ist:

Der Krieg in der Ukraine hat einen unerwarteten Quantensprung in der strategischen Kultur Europas und Deutschlands bewirkt. Das wird sich auch positiv auf eine Reihe von transatlantischen, nichtmilitärischen Kooperationsfeldern auswirken, etwa bei der Entwicklung von Hochtechnologien und der Resilienz von Lieferketten, aber auch bei Klimaschutz und der Durchsetzung von Standards und Normen.

Resilienz von Lieferketten ist eines der Stichworte, die eigentlich bearbeitet werden sollten, ehe man solche Konflikte vom Zaun bricht. Aber sei’s drum – auch dieser Autor hat den Schuss nicht gehört und schlägt allen Ernstes gegen Ende vor, doch ein bisschen enger mit Taiwan zusammenzuarbeiten, also im Grunde zusammen mit den US‐​Amerikanern die Chinesen zu reizen. Die Position, die er letztlich empfiehlt, ist also bei einem Konflikt zwischen den USA und China die Seite der USA.

Was überhaupt nicht überrascht. Aber man hätte doch auch hier ein, zwei konkrete Gedanken über die möglichen Konsequenzen erwartet. Spätestens, seit sichtbar ist, dass diese Russlandsanktionen in die Hose gingen. Das Papier erschien im April, da war das eigentlich schon erkennbar. Und hätte sämtliche Alarmsignale aufleuchten lassen müssen, was ähnliche Überlegungen gegen China angeht. Nein, solche Alarmsignale scheint es nicht zu geben. Wenn die Sanktionen gegen Russland schon drohen, die deutsche Industrie zu töten, dann wären solche Sanktionen gegen China eine Beerdigung in zehn Metern Tiefe mit anschließender Komplettbetonierung der Oberfläche.

Gehen wir zum dritten Papier, noch einen Monat später. Diesmal ist der Autor ein aufstrebender Doktorand, und der Titel erweckt erst einmal den Eindruck, da habe jemand angefangen, nachzudenken: »Warum Rohstoffsicherheit ein Teil der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands werden sollte.« Aha. Immerhin. Da steht jemand mitten im Gewitterregen und sinniert, dass Regenschirme vielleicht doch eine sinnvolle Erfindung sind.

Natürlich folgt auch dieser Autor dem gegebenen Narrativ, Klimawandel eingeschlossen. Und stellt fest: »Bei der Verkündung des European Green Deal im Jahr 2019 war die EU bereits hochgradig abhängig von ausländischen Rohstofflieferungen; auch fördert sie bislang nicht die eigenen Vorkommen in Europa. Die Kehrseite der angestrebten erneuerbaren »Freiheitsenergien« (Bundesfinanzminister Christian Lindner) sind somit die benötigten Rohstoffe aus China, Russland und autokratischen Staaten in Afrika und Asien, auf die Deutschland und die EU auch in Zukunft nicht verzichten können.«

Böse Menschen vermuteten hinter dem Putsch in Bolivien, den auch die Bundesregierung mitgetragen hatte, ja den Griff nach den bolivianischen Lithium‐​Vorkommen. Das ist einer der Rohstoffe, die hier gemeint sind, neben seltenen Erden und einigen Metallen. Wie groß die politischen Folgen für Länder mit wichtigen Rohstoffen zu sein pflegten, zeigte auch der Putsch gegen Allende in Chile 1973, bei dem es um Kupfer ging. Der Bedarf nach und die Abhängigkeit von Rohstoffen haben sich im Verlauf der gesamten Industriegeschichte nicht geändert, nur die konkreten Materialien waren jeweils andere.

Manchmal stößt ein Mangel sogar weltbewegende Entwicklungen an, wie die Erfindung der Kokskohle durch die Brauer von Derbyshire im 18. Jahrhundert, die durch ein Fehlen importierter Holzkohle ausgelöst wurde und mit dem Koks einen der Bausteine der industriellen Revolution lieferte. Nein, das, was neu ist und nicht richtig benannt werden darf, ist, dass die globalen Machtverhältnisse sich ändern und die Kernländer des Westens nicht mehr darauf setzen können, jede Regierung, die ihnen nicht zusagt und die dem Griff nach bestimmten Ressourcen im Weg steht, stürzen zu können.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat mit Blick auf die deutsch‐​russischen Energiebeziehungen unmittelbar existenzielle Fragen nach gesicherten Lieferoptionen, volkswirtschaftlicher Versorgungssicherheit und politischen Erpressbarkeiten aufgeworfen – bei einer vergleichsweise weniger hohen Abhängigkeit als im Fall kritischer Metalle.

Also noch einmal, diesmal von einem anderen Autor: es wurde vorher nicht nachgedacht. Mal abgesehen davon, dass es nicht die EU oder Deutschland ist, die erpresst werden oder wurden, sondern vielmehr diese zu erpressen suchen, aber dabei scheitern – »volkswirtschaftliche Versorgungssicherheit« ist etwas, das eigentlich im Kern jedes Regierungshandelns stehen müsste. Schon seit dieser alten Geschichte mit Joseph, dem Pharao und den sieben fetten und den sieben mageren Jahren.

Oder, schärfer formuliert – eine Regierung, die besagter »volkswirtschaftlicher Versorgungssicherheit« keinen Gedanken widmet, weil sie lieber Großmacht oder Großmachtdiener spielt, vergisst völlig jenen Teil staatlichen Handelns, der dem Staat überhaupt eine Legitimität verleiht.

»Die bisherige deutsche Rohstoffpolitik ist für eine Welt konzipiert worden, in der die geltenden internationalen Handelsregeln durch alle Staaten weitgehend respektiert werden.« Das ist ein Teil des Problems. Es ist schließlich die EU, es ist die Bundesregierung, die durch die Sanktionspolitik eben diese internationalen Handelsregeln untergräbt. Was sich der Westen lange erlauben konnte, weil er erstens kleinere Gegner wählte, und zweitens stark genug war.

Aber mit den Sanktionen gegen Russland, mit der Beschlagnahmung russischen Vermögens, Anlandeverboten für russische Schiffe und Ähnlichem werden Regeln außer Kraft gesetzt, die den internationalen Handel überhaupt erst möglich machten. Und was lernen wir aus dem obigen Satz? Auch in dieser Hinsicht ist über die Konsequenzen der politischen Handlungen nicht nachgedacht worden.

Eine mögliche Antwort auf die gerade in Bezug auf Materialien für die Lieblingsprojekte Wind‐ und Solarenenergie gegebene Abhängigkeit von China sieht er in der Diversifizierung der Lieferströme. Das ist nett gedacht, setzt aber voraus, dass die anderen Anbieter gern mit diesem Abnehmer handeln.

Allerdings hat sich auch das durch diese Sanktionen geändert. Es sind erstaunlich viele Staaten auf diesem Planeten, die, vom Westen vor die Wahl gestellt, mit ihm oder mit Russland und China Handel zu treiben, klar letztere wählen. Und dann? Die Bundesmarine hinschicken? Oder ins Eck kriechen und weinen?

Der letzte Vorschlag, den der Autor liefert, lautet »Lagerhaltung«. Sprich, unter Bundeskontrolle angelegte Lager für sensible Rohstoffe zu schaffen. Auch das im Grunde kein verkehrter Gedanke. Aber es gilt das Gleiche wie bei allen anderen – zu spät. Denn die globalen Frontlinien sind bereits gezogen, und die möglichen Lieferanten, auch jene, die nicht Russland oder China heißen, liegen auf der anderen Seite.

Zum Zwecke historischer Bildung würde ich in diesem Zusammenhang eine alte DDR‐​Serie empfehlen: »Über ganz Spanien wolkenloser Himmel«. Die spielt im Jahr des Franco‐​Putsches und erzählt, auf welche spanischen Rohstoffe es das Nazireich abgesehen hatte. Im Jahr 1936. Oder, um es deutlich zu sagen, die machten sich solche Gedanken vor dem Krieg, nicht mittendrin. Und verloren haben sie ihn trotzdem.

Diese Papiere sind wirklich erschütternd. Sie zeigen nicht nur, dass selbst minimale Überlegungen bezüglich der »volkswirtschaftlichen Versorgungssicherheit« nicht Teil der angeblich sorgfältigen Vorbereitungen der Sanktionen waren, und wohl nichts als transatlantische Hybris die Feder führte. Sie zeigen auch, dass mit keiner funktionsfähigen Antwort auf das angerichtete Chaos zu rechnen ist. Und sie zeigen weiter, dass nicht einmal Ansätze von Überlegungen dafür bestehen, wie man mit der multipolaren Welt umgehen könnte, die gerade entsteht.

Die Schwäche des kollektiven Westens ist für die Welt drumherum längst offensichtlich. Wenn dieser Groschen auch bei ihm selbst irgendwann gefallen ist, wird er, wird auch Deutschland seinen Rohstoffbedarf (sofern dann noch Industrie übrig ist) auf kooperativem Wege befriedigen müssen.

Das ist ein grundsätzlich anderes Umfeld als in den Jahrhunderten zuvor. Wären in den Denkfabriken auch entsprechende Denker am Werk, sie würden, selbst als eingefleischte Transatlantiker, längst auf zwei Schienen denken und jede Zukunftsplanung auch in einer Variante für den Fall der eigenen Niederlage entwickeln. Falls die Menschheit mit heiler Haut aus diesem Konflikt herauskommt, wird die völlige Unfähigkeit, vor dem Handeln auch nur ansatzweise nachzudenken, und dadurch den eigenen Untergang zu beschleunigen, in künftigen Jahrhunderten als abschreckendes Beispiel in den Geschichtsbüchern stehen.

Erstveröffentlichung von Teil 1 am 08.07.2022 auf RT DE, Teil 2 am 09.07.2022. Übernommen von freidenker​.org

Bild: Pixabay

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