Kritische Anmerkungen zur Theorie der »Arbeiteraristokratie«

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1. Vorwort

In bestimmten linken Kreisen erfreut sich die Theorie der Arbeiteraristokratie zunehmender Beliebtheit. Ursprünglich wurde sie von Lenin aufgestellt als Erklärung für den Verrat der sozialdemokratischen Parteien Europas nach 1914. Im Vorwort zu seinem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus heißt es:

Wie in der vorliegenden Schrift nachgewiesen ist, hat der Kapitalismus jetzt eine Handvoll (weniger als ein Zehntel der Erdbevölkerung, ganz ›freigebig‹ und übertrieben gerechnet, weniger als ein Fünftel) besonders reicher und mächtiger Staaten hervorgebracht, die – durch einfaches ›Kuponschneiden‹– die ganze Welt ausplündern. Der Kapitalexport ergibt Einkünfte von 8 – 10 Milliarden Francs jährlich, und zwar nach den Vorkriegspreisen und der bürgerlichen Vorkriegsstatistik. Gegenwärtig ist es natürlich viel mehr.

Es ist klar, daß man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres ›eigenen‹ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der ›fortgeschrittenen‹ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ›Arbeiteraristokratie‹, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.1

Diese und einige weitere Stellen der Klassiker werden zum Beispiel von der neoliberalen Tageszeitung junge Welt gerne zitiert als Begründung für den angeblich notwendigen Verzicht der einheimischen Arbeiter. Weitere Stellen sind die Beschlüsse des Stuttgarter Sozialistenkongresses von 1907 zur Migration und einige Stellen von Engels zum Verhältnis von Mensch und Natur. Sie sind diffus genug, um sie neoliberal interpretieren zu können. Die junge Welt und Autoren in ihrem Umfeld vertreten also einen mit marxistisch-​leninistischen Floskeln verbrämten Neoliberalismus.

Der jW-Autor Peter Schaber zum Beispiel baut Lenins Theorie der Arbeiteraristokratie zur Theorie der imperialen Lebensweise aus, der sich die deutsche Arbeiterklasse angeblich befleißigt habe. Sie profitiere von der Ausbeutung der Entwicklungsländer und sei in Gänze (einschließlich der Hartz-​IV-​Empfänger) der Arbeiteraristokratie zuzurechnen.2 Die Schlussfolgerung solcher Aussagen liegt auf der Hand: Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen, um nicht mehr der Ausbeutung der Entwicklungsländer schuldig zu sein.

Eine Kritik an der Theorie der Arbeiteraristokratie müsste einerseits fragen, ob die faktischen Annahmen dieser Theorie zutreffen, aber auch die strategischen Implikationen solcher Aussagen betrachten.

2. Das Wesen des Surplusprofits

Bekanntlich existiert im Kapitalismus eine Tendenz in Richtung des Ausgleichs der Profitraten der einzelnen Kapitalien hin zu einer Durchschnittsprofitrate. Diese ist von dem im jeweiligen Betrieb erzeugten Mehrwert unabhängig. Vielmehr wird er umverteilt. Der Profit eines Kapitals kann als Anteil des Profits des durchschnittlichen Gesamtkapitals eines Landes gedacht werden. Seine Höhe richtet sich grundsätzlich nach der Größe des Kapitals und nicht nach dem im eigenen Betrieb erzeugten Mehrwert.

Der Ausgleich der Profitraten erfolgt vor allem durch das Ein- und Abströmen des Kapitals in bestimmte Branchen. Neues Kapital wird vor allem in Branchen mit außergewöhnlich hohen Profiten angelegt, während es aus Branchen mit geringen Profiten abfließt.3 Das aber benötigt eine gewisse Zeit. Der Ausgleich der Profitrate existiert also nur als Tendenz. Lassen wir hierzu Ernest Mandel das Wort: »Der normale Zustand der erweiterten Reproduktion ist also der des Profitgefälles, wobei die Suche nach Surplusprofit den Hauptanreiz zum Wachstum der Kapitalakkumulation bildet.»4

Die Quellen des Surplusprofits in der kapitalistischen Wirtschaft sind nach Mandel folgende:5

  1. Wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals geringer ist als der gesellschaftliche Durchschnitt, und institutionelle oder strukturelle Faktoren es verhindern, dass der überdurchschnittliche, in diesen Sektoren erzeugte Mehrwert in den allgemeinen Ausgleich der Profitrate eingeht. Beispiel: kapitalistische Grundrente.
  2. »Wenn beim Ausgleich der Profitraten die organische Zusammensetzung des Kapitals über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt, das heißt wenn ein bestimmtes Kapital einen Produktivitätsvorsprung ausnutzen kann und sich so einen Teil des in anderen Sektoren erzeugten Mehrwerts aneignet.»6
  3. Wenn der Preis der Ware Arbeitskraft unter seinen Wert gedrückt werden kann oder wenn die Arbeitskraft in Ländern gekauft wird, in denen ihr Wert unter dem Wert der Länder liegt, in denen die Waren verkauft werden. In diesem Fall resultiert der Surplusprofit aus einer sehr hohen Mehrwertrate.
  4. Wenn der für verschiedene Elemente des konstanten Kapitals bezahlte Preis unter den gesellschaftlichen Durchschnitt (den Produktionspreis) gedrückt werden kann. Dies ist in der Regel nur für das konstante zirkulierende (cz), nicht aber für das konstante fixe Kapital (cf) möglich.
  5. Wenn die Reproduktionsgeschwindigkeit des zirkulierenden Kapitals über der des gesellschaftlichen Durchschnitts liegt.

Diese Quellen des Surplusprofits können kurzfristig nicht in den allgemeinen Ausgleich der Profitrate aufgenommen werden. Sie können aber durchaus von einem Rückgang der Durchschnittsprofitrate begleitet sein, oder sogar, wenn ihr Umfang bedeutend ist, diesen Rückgang verstärken. Dies ist beim Monopolprofit der Fall.7

3. Die Hauptquellen des Surplusprofits

In der Periode des Kapitalismus der freien Konkurrenz (1790 – 1895) lagen die Hauptquellen des Surplusprofits innerhalb der sich jetzt industrialisierenden Länder Europas. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es überhaupt noch keine kapitalistische Großindustrie in der Welt. Der Wert einer Ware wurde zunächst durch die weitaus höhere benötigte Arbeitszeit bei ihrer handwerklichen Herstellung bestimmt. Die wenigen Kapitalisten, die zum Beispiel Stoffe mit mechanischen, dampfgetriebenen Webstühlen erzeugen ließen, hatten weitaus geringere Kosten und konnten beträchtliche Surplusprofite erzielen. Die langsame Zersetzung des Handwerks und die Einhegungen in der Landwirtschaft setzten große Menschenmassen frei; weitaus mehr, als in der Industrie Beschäftigung fanden. Die industrielle Reservearmee, sprich Arbeitslosigkeit, war also sehr groß. Dies bewirkte niedrige und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weiter fallende Löhne. Die Mehrwertrate war entsprechend hoch.

Mit der Verallgemeinerung der großen Industrie in Westeuropa ab 1850 verschwanden diese Surplusprofite langsam.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute sich ein neues Profitgefälle auf: In Westeuropa hatte die Industrialisierung eine erste Grenze erreicht. Der Anteil des variablen und des konstanten fixen Kapitals am Warenwert ging relativ zurück. Der Anteil des konstanten zirkulierenden Kapitals stieg dagegen, was sich in auch absolut steigenden Rohstoffpreisen bemerkbar machte. Diese Tendenz wurde durch die Tatsache verschärft, dass die Rohstoffe in den Ländern des Südens häufig unter vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen der Sklaverei oder der Leibeigenschaft erzeugt wurden.

Surplusprofite wurden nun bei der Rohstoffproduktion in den Kolonien, aber auch durch den Bau und Betrieb von Infrastruktureinrichtungen wie Eisenbahnen und Häfen sowie durch die Lieferung von Stahl für diese Bauwerke erzielt. Wegen der riesigen industriellen Reservearmee waren die Löhne in den Kolonien und Halbkolonien extrem gering. Deshalb war auch der Einsatz von Maschinen nicht rentabel. Das Kapital hat aber die Rohstoffproduktion sehr wohl in Form eines vorindustriellen, eines Manufakturkapitalismus umorganisiert und damit produktiver gestaltet.8

In den Kolonien und Halbkolonien wurde überschüssiges Kapital aus den Metropolen angelegt und die Profite nach dort transferiert. Hier haben wir die klassischen Merkmale des Imperialismus, den Lenin beschreibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brach aber auch dieses Profitgefälle zusammen. Mit der steigenden Arbeitsproduktivität der Industrie in den Metropolen wurde die frühindustrielle Rohstoffproduktion in den Kolonien von einer Quelle von Surplusprofiten zu einem Faktor des Rückgangs der Durchschnittsprofitrate: Die Rohstoffpreise stiegen wieder. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt am Anfang der fünfziger Jahre.

Nun wurden auch auf dem Sektor der Rohstofferzeugung hochindustrielle Techniken eingesetzt. Damit fiel der Anreiz weg, diese Industrien in den Kolonien anzusiedeln. Billige Arbeitskraft spielte nun eine geringere Rolle als zuvor. Wo nur möglich, wurde die hochindustrielle Rohstoffproduktion in die Metropolen verlagert Beispiele: Dünger aus Luftstickstoff statt aus Guano, Kunstgummi, Kunstfaser, Zuckerersatz, Industrialisierung der Landwirtschaft.

Der Zerfall der Kolonialreiche und die Kolonialrevolutionen vergrößerten das Verlustrisiko des in diesen Ländern angelegten Kapitals zusätzlich. Dies war ein weiterer Anstoß zu einer langfristigen Richtungsänderung der Kapitalströme.9

Das Versagen von anderen Quellen des Surplusprofits forcierte die Jagd nach technologischen Renten, die nur durch permanente technologische Erneuerung erlangt werden können. Surplusprofite können nun diejenigen Firmen erlangen, die neue Produktionsverfahren als erste anwenden oder begehrte technologische Neuentwicklungen zum Beispiel im Bereich der Konsumgüter als erste auf den Markt bringen. Dies bedingt eine Verkürzung der Umschlagszeit des fixen Kapitals und eine beschleunigte technologische Erneuerung.10

Die gewaltigen in Forschung und Entwicklung verausgabten Kapitalien erfordern maximale Erzeugung und maximalen Absatz der neuentwickelten Produkte. Dies bildet einen wichtigen Anreiz zur Produktion im internationalen Rahmen, die unterstützt wird durch leichten Zugang zu den großen Absatzmärkten der Industrieländer.

So entsteht eine auf Produktspezialisierung aufgebaute neue, den spätkapitalistischen multinationalen Großkonzernen adäquate Form der internationalen Arbeitsteilung.

4. Der Teufelskreis der Unterentwicklung

Die langfristige Entwicklung der Löhne hängt von der langfristigen Tendenz der industriellen Reservearmee ab. Diese wiederum wird durch zwei Faktoren bestimmt:

  • die Ausgangsposition bei der Nachfrage und dem Angebot der Ware Arbeitskraft und
  • der säkularen Tendenz der Akkumulation des Kapitals

Der erste Faktor erklärt, warum die Löhne in den leeren Siedlungskolonien USA, Australien, Kanada und Neuseeland von Anfang an hoch waren, der zweite, warum die Löhne in Westeuropa zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts langfristig sanken und warum sich diese Tendenz seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umkehrte.

Solange sich die Akkumulation des Kapitals hauptsächlich durch Zerrüttung vorkapitalistischer Produktionsverfahren und Gesellschaftsklassen auf dem inneren Markt vollzog, zerstörte sie mehr Arbeitsplätze, als dass sie neue schuf, wuchs die industrielle Reservearmee langfristig und damit einher ging die Unfähigkeit der Arbeiter, eine starke Gewerkschaftsbewegung aufzubauen, d. h. ein relatives Angebotsmonopol der Ware Arbeitskraft zu errichten. Der Reallohn sank langfristig.11

In der Epoche des Imperialismus wurde die ursprüngliche Kapitalakkumulation in den Kolonien und Halbkolonien den Bedürfnissen des Großkapitals der Metropolen unterworfen. Die Kapitalausfuhr der imperialistischen Länder bestimmte nun die Wirtschaftsentwicklung der dieser Länder. Diese wurde komplementär zu den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion in den Metropolen gestaltet. Es wurden nur solche Kapitalinvestitionen getätigt, die den Interessen der imperialistischen Bourgeoisie entsprachen.

Der imperialistische Kapitalexport erstickte die eigenständige Wirtschaftsentwicklung der Kolonien, indem er:

  • die vorhandenen Ressourcen für eine ursprüngliche Kapitalakkumulation abschöpfte
  • die übrig gebliebenen einheimischen Ressourcen auf diejenigen Sektoren lenkte, die für die Entwicklung der Unterentwicklung entscheiden waren: Außenhandel, Vermittlerdienste für die Imperialisten, Bodenspekulation, Kriminalität und Glücksspiel.
  • die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals durch ein langfristiges Bündnis mit der auf dem Lande herrschenden Klasse einschränkte. Dadurch wurde ein bedeutender Teil der Dorfbevölkerung außerhalb der Sphäre der Warenproduktion gehalten.

Da die Rohstoffproduktion aber eine primitiv industrielle war, die aufgrund der großen industriellen Reservearmee für eine ständige Modernisierung der Maschinerie keine Anreize schaffte, entstand auch ein wachsendes Produktivitätsgefälle zu der Industrie der Metropolen, das die reale Unterentwicklung gleichzeitig ausdrückt und verewigt. Mandels Kommentar hierzu:

Vom marxistischen Standpunkt aus gesehen, das heißt vom Standpunkt der konsequenten Arbeitswertlehre, ist Unterentwicklung letzten Endes immer quantitative (massenhafte Erwerbslosigkeit) und qualitative (niedrige Arbeitsproduktivität) Unterbeschäftigung (Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 57).

In den Ländern des Südens entstand eine Mischung von vorkapitalistischen und kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen, die die Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise und vor allem der kapitalistischen Großindustrie verhinderte.

Im Spätkapitalismus wurde es für das internationale Monopolkapital interessant, auch in den Ländern der »Dritten Welt« zu Monopolpreisen verkäufliche Fertigwaren produzieren zu lassen.

In den unterentwickelten Ländern erlaubte es die nun einsetzende Industrialisierung, die Reproduktionskosten der Arbeitskraft, aufgrund der Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität, bedeutend zu senken. Dieser verringerte Wert der Ware Arbeitskraft musste aufgrund der Inflation allerdings nicht immer mit einem sinkenden Geldpreis einhergehen.

Die riesige industrielle Reservearmee verhindert, dass moralisch-​historische Komponenten dem Wert der Ware Arbeitskraft einverleibt werden.

Die Existenz einer großen industriellen Reservearmee ist auf folgende Faktoren zurückzuführen:

  • Die nur langsam wachsende Industrie kann die sich jetzt doch vom Grund und Boden lösenden Bauern nicht absorbieren.
  • Die jetzt einsetzende Produktion von Fertigwaren war kapitalintensiv, während die Produktion von Rohstoffen arbeitsintensiv war. Die Zahl der industriellen Arbeitsplätze konnte also stagnieren oder sogar absolut zurückgehen.

Das durch die Existenz einer riesigen industriellen Reservearmee bedingte ungünstige Kräfteverhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern verhinderte meistens eine wirksame Organisierung der Arbeiterklasse in Gewerkschaften. Dies hatte zur Folge, dass die Ware Arbeitskraft meistens sogar unter ihrem Wert verkauft wurde.

Das Kapital konnte einen Rückgang der Profitrate durch eine Erhöhung der Mehrwertrate kompensieren. Die höherer Mehrwertrate und damit höhere Profitrate erklärt, warum ausländisches Kapital überhaupt in der Industrie der Länder der »Dritten Welt« investiert wird. Allerdings schaffte sie für die Akkumulation des Kapitals enge Grenzen, denn eine Ausdehnung des inneren Marktes war aufgrund der niedrigen Reallöhne und der Bedürfnislosigkeit der Arbeiter unmöglich.12

Fassen wir zusammen: Hauptquelle des Surplusprofits sind seit dem Spätkapitalismus, also seit 1945, technologische Renten und nicht mehr die Ausbeutung von Kolonien und Halbkolonien. Diese blieb allerdings quantitativ durchaus bedeutsam und nahm die Form von Gewinnabflüssen (Drain) und eines ungleichen Tausches an.

Hauptursache für die geringen Löhne in den später so genannten Entwicklungsländern war die riesige industrielle Reservearmee. Sie verhinderten zuverlässig eine Durchindustrialisierung dieser Länder. In den Industrieländern konnten höhere Löhne gerade wegen der schrumpfenden industriellen Reservearmee durchgesetzt werden.

Dies ist der von Mandel beschriebene Stand in der Epoche des Spätkapitalismus, die bis 1989 andauerte.

Im Neoliberalismus (ab 1989) nahm die Verlagerung von Industrieproduktionen in die Entwicklungsländer stark zu. Dadurch wurde die industrielle Reservearmee in den Industrieländern wesentlich vergrößert, was es den Kapitalisten ermöglichte, die Löhne herabzusetzen oder sie zumindest stagnieren zu lassen. Gleichzeitig konnten die Kapitalisten die Preise für die in den Entwicklungsländern hergestellten Produkte moderat senken, so dass die nominalen Reallohnverluste in den Industrieländern größer erschienen als die realen. Hierdurch kam es zur falschen Wahrnehmung, wir alle würden auf Kosten der Menschen in den Entwicklungsländern leben und wir müssten um der Gerechtigkeit willen auf große Teile unseres Wohlstandes verzichten.

Es wird aber durch diese rein moralische Argumentation verkannt, dass die Lohnhöhe wesentlich ein Resultat des Klassenkampfes ist und von der relativen Stärke der beiden Grundklassen Kapitalisten und Arbeiter abhängt. Diese wiederum ist vor allem eine Funktion der Größe der industriellen Reservearmee. Auch durch die Verlagerung von vielen Industriebetrieben in Länder der »Dritten Welt« konnte dort in der Regel keine Durchindustrialisierung erreicht werden. Die industrielle Reservearmee blieb sehr groß und die Löhne niedrig. Entwicklungsländer können aus dem Teufelskreis der Unterentwicklung überhaupt nur entkommen, wenn sie eine aktive Industriepolitik betreiben. Das aber ist gegenwärtig nur großen Ländern wie China möglich, die sich eine gewisse Unabhängigkeit vom internationalen Finanzkapital und seinen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds IWF bewahrt haben.

Selbst wenn wir auf größere Lohnbestandteile verzichten würden, würde das den Kapitalisten nutzen, aber die Situation der Menschen in den Entwicklungsländern um keinen Deut verbessern.

4. Soziologische Probleme mit der Theorie der Arbeiteraristokratie

Ernest Mandel weist darauf hin, dass die Metallarbeiter als die am besten bezahlte Schicht des Proletariats in Deutschland und Frankreich nach 1918 den Vortrupp der kommunistischen Bewegung gebildet haben. Erst durch die Gewinnung der Arbeiter in den Großbetrieben der Metallindustrie wurde der Kommunismus zu einer Massenbewegung.13 In Frankreich kontrollierten die Kommunisten die großen Metallbetriebe wie Renault noch bis zum Jahr 1968. Erst der historische Verrat der KPF am Generalstreik dieses Jahres führte zu einer Erosion des kommunistischen Einflusses.

Aber bereits in der Russischen Revolution von 1917 spielten die Metallarbeiter der Putilow-​Werke eine sehr wichtige Rolle.

Umgekehrt führte der Zerfall zum Beispiel des französischen Kolonialreiches nicht zu einem Verschwinden der Arbeiterbürokratie. Man könnte natürlich einwenden, die französische Bourgeoisie habe die koloniale durch eine neokoloniale Ausbeutung ersetzt. Allerdings erhielt Frankreich zumindest in Jahr 1967 nur sehr begrenzte Profite aus seinen ehemaligen Kolonien. Das gilt erst recht für die USA. Auslandsprofite machten zu diesem Zeitraum nur einen kleinen Teil der Profite der US-​amerikanischen Bourgeoisie insgesamt aus.14

Rein von der Lohnhöhe her gesehen müsste man die Arbeiter eines ganzen entwickelten Landes als Arbeiteraristokratie bezeichnen, was aber nach Mandel keinen Sinn macht.15

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg machte Rosa Luxemburg folgende Beobachtungen:

Der Organisierung sind nur zugänglich die obere Schicht der besser situierten Industriearbeiter, bei denen die Arbeitslosigkeit nur eine periodische oder fließende ist.

Die tiefer stehende Schicht der ständig vom Lande in die Stadt strömende ungelernten Bauarbeiter, sowie alle halbländlichen unregelmäßigen Berufe wie Ziegelfabrikation, Erntearbeiten eignen sich durch die räumlichen und zeitlichen Bedingungen ihrer Beschäftigung sowie durch ihr soziales Milieu bedeutend weniger zur gewerkschaftlichen Organisation.

Die breiten unteren Schichten der Reservearmee, die Arbeitslosen mit unregelmäßiger Beschäftigung, die Hausindustrie und die zufällig beschäftigten Armen sind nicht organisierbar.

Allgemein: Je größer die Not und der Druck in einer proletarischen Schicht, um so geringer ist die Möglichkeit einer gewerkschaftlichen Organisierung.16

Diese Aussage gilt mit bestimmten Abstrichen noch immer.

5. Die problematische Parole der »Arbeiteraristokratie«

Es ist aus strategischer Sicht grundfalsch der Arbeiterklasse ihre Passivität vorzuwerfen und dies mit einer »Bestechung« durch die Bourgeoisie zu erklären. Tatsächlich wird in normalen Zeiten immer der größte Teil der Beherrschten die ideologischen Vorgaben der Herrschenden akzeptieren. Nur ein kleiner Teil der Klasse wird in diesen ruhigen Zeiten in der Lage sein, sich dem ideologischen Trommelfeuer und der immer ausgefeilteren Propaganda der Bourgeoisie zu entziehen.

Dieser Teil der am weitesten fortgeschrittenen Arbeiter muss aber unermüdlich für sein sozialistisches Programm agitieren. Allerdings sind nur in Krisenzeiten wie den heutigen größere Erfolge zu erwarten.

Bei der Agitation müssen Formeln gefunden werden, die die Klasse gegen die Kapitalisten zusammenschließen. Der Vorwurf der Arbeiteraristokratie bewirkt aber das Gegenteil. Er spaltet die ohnehin stark zerklüftete Arbeiterklasse weiter und nutzt nur den Kapitalisten. Er ist unbedingt zu vermeiden.

Erst nach einer sozialistischen Revolution wird sich die elende Lage der Menschen in den Entwicklungsländern verbessern können. Ein industrialisierter Arbeiterstaat wird sehr große Ressourcen aufwenden, um eine rasche Durchindustrialisierung der Entwicklungsländer zu erreichen. Allerdings muss die Akkumulationsrate so berechnet werden, dass der Wohlstand sowohl der Entwicklungsländer wie auch der Industrieländer kontinuierlich wächst. Aber der Wohlstand der Entwicklungsländer wird bedeutend schneller zunehmen, so dass in einigen Jahrzehnten gleiche Lebensbedingungen im gesamten sozialistischen Block existieren. Dies ist deswegen so wichtig, weil der Aufbauenthusiasmus der Massen eine eigenständige Produktivkraft ist. Dieser kann aber nur bei merklich steigendem Wohlstand dauerhaft erhalten bleiben.17

6. Verweise und verwendete Literatur

Verweise

1 Lenin: Der Imperialismus, in: Lenin Werke 22, S. 198, Berlin 1971

3 Vgl. Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie, Band 1, S. 185ff, Frankfurt am Main 1985

4 Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1974, S. 71

5 Vgl. Mandel 1974, S. 72.

6 Mandel 1974, a.a.O, S. 72.

7 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 73.

8 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 51ff.

9 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 59ff.

10 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 178f, 205ff, 230ff, 296.

11 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 334

12 Vgl. Mandel 1974, a.a.O, S. 61ff

13 Vgl. Ernest Mandel: Die Bürokratie, ISP-​Theorie 4, Frankfurt am Main 1976 (Erstveröffentlichung 1967), S. 32.

14 Vgl. Mandel 1976, a.a.O., S. 31.

15 Vgl. Mandel 1976, a.a.O., S. 31f.

16 Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, S. 276f, zitiert nach Mandel 1974, a.a.O., S. 144

17 Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie, Band 2, Frankfurt am Main 1979, S. 768ff.

Verwendete Literatur

Bild: Hipster with a selfie stick punished by old Lady, Lisbon, Portugal CC BY 2.0 (Autor: Sonse)

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