Über das Recht auf Widerstand

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Ich werde den Versuch unternehmen mit Ihnen einige Gedanken zum Thema Widerstand und Bürgerkrieg zu teilen. Ich werde Sie nicht daran zu erinnern brauchen, dass es ein Widerstandsrecht bereits in der Antike, in der Tyrannenmord traditionell gepriesen wurde, und im Mittelalter gab, Thomas [von Aquin] fasste die Position der scholastischen Theologie in dem Grundsatz zusammen, dass das tyrannische Regime, sofern es ein parteiisches Interesse an die Stelle des Gemeinwohls setzt, kein iustum sein kann. Widerstand – Thomas sagt perturbatio – gegen dieses Regime ist also keine seditio.

Es versteht sich von alleine, dass die Frage nach der Definition des tyrannischen Charakters eines bestimmten Regimes zwangsläufig eine gewisse Unklarheit mit sich bringt, wie die Vorsicht von [Taddeo di] Bartolo beweist, der in seiner Abhandlung über die Guelfen und die Ghibellinen zwischen einem Tyrannen ex defetcu tituli und einem Tyrannen ex parte exercitii unterscheidet, dann aber Schwierigkeiten hat, eine iusta causa resistendi zu identifizieren.

Diese Zweideutigkeit taucht in den Diskussionen über die Aufnahme eines Widerstandsrechts in die italienische Verfassung 1947 wieder auf. [Giuseppe] Dossetti hatte, wie Sie wissen, vorgeschlagen, in den Text einen Artikel aufzunehmen, der lautete:

Individueller und kollektiver Widerstand gegen Akte der öffentlichen Gewalt, die die von dieser Verfassung garantierten Grundfreiheiten und ‑Rechte verletzen, ist ein Recht und eine Pflicht der Bürger.

Dieser Text, der auch von Aldo Moro unterstützt worden war, wurde nicht aufgenommen. Und Meuccio Ruini, der der so genannten Kommission der 75 vorstand, die den Verfassungstext ausarbeiten sollte, und der sich einige Jahre später als Präsident des Senats dadurch auszeichnen sollte, dass er versuchte, die parlamentarische Debatte über das so genannte Betrugsgesetz zu verhindern, zog es vor, die Entscheidung auf die Abstimmung der Versammlung zu verschieben, von der er wusste, dass sie negativ ausfallen würde.

Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Bedenken und Einwände von Juristen – darunter Costantino Mortati – nicht unbegründet waren, als diese darauf hinwiesen, dass das Verhältnis zwischen positivem Recht und Revolution nicht gesetzlich geregelt werden kann. Dies ist das Problem, das [Carl] Schmitt im Hinblick auf die in der Moderne so wichtige Gestalt des Partisanen als das Problem der »Regulierung des Irregulären« definiert. Es ist seltsam, dass die Juristen von der Beziehung zwischen positivem Recht und »Revolution« sprachen: Es wäre richtiger gewesen, von »Bürgerkrieg« zu sprechen. Wie lässt sich die Grenze zwischen dem Recht auf Widerstand und dem Bürgerkrieg ziehen? Ist ein Bürgerkrieg nicht die unvermeidliche Folge eines Widerstandsrechts, das ernst gemeint ist.

Die Hypothese, die ich Ihnen heute unterbreiten möchte, lautet, dass diese Herangehensweise an die Problematik des Widerstands am Wesentlichen vorbeigeht, nämlich an einer radikalen Veränderung, die das Wesen des modernen Staates – das heißt des postnapoleonischen Staates – selbst betrifft. Man kann nicht von Widerstand sprechen, ohne vorher über diese Transformation nachzudenken.

Das europäische öffentliche Recht ist im Wesentlichen ein Kriegsrecht. Der moderne Staat definiert sich nicht nur allgemein durch sein Gewaltmonopol, sondern konkret durch sein Monopol auf das jus belli. Der Staat kann auf dieses Recht nicht verzichten, selbst wenn er, wie wir heute sehen, neue Formen des Krieges erfindet.

Das jus belli ist nicht nur das Recht, Kriege zu machen und zu führen, sondern auch das Recht, die Kriegsführung rechtlich zu regeln. Sie unterscheidet also zwischen dem Kriegszustand und dem Friedenszustand, zwischen dem Staatsfeind und dem Verbrecher, zwischen der Zivilbevölkerung und der kämpfenden Armee, zwischen dem Soldaten und dem Partisanen.

Nun wissen wir, dass genau diese wesentlichen Merkmale des jus belli seit langem verschwunden sind, und meine Hypothese ist, dass dies eine ebenso wesentliche Veränderung im Charakters des Staates impliziert.

Bereits im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde die Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und kämpfendem Heer immer weiter verwischt.

Ein verräterisches Zeichen dafür ist, dass die Genfer Konventionen von 1949 der Bevölkerung, die am Krieg teilnimmt, ohne der regulären Armee anzugehören, einen legalen Status zuerkennen, vorausgesetzt, die Befehlshaber können identifiziert werden, die Waffen werden offen gezeigt und es existiert eine sichtbare Kennzeichnung.

Noch einmal: Diese Bestimmungen sind für mich nicht deshalb interessant, weil sie zu einer Anerkennung des Widerstandsrechts führen – das, wie Sie gesehen haben, sehr begrenzt ist: ein Partisan, der Waffen trägt, ist kein Partisan, er ist ein unbewusster Partisan –, sondern weil sie eine Umwandlung des Staates selbst zum Inhaber des jus belli implizieren.

Wie wir gesehen haben und weiterhin sehen werden, hebt der Staat, der nun rein rechtlich gesehen fest in den Ausnahmezustand eingetreten ist, das jus belli nicht auf, sondern verliert ipso facto die Möglichkeit, zwischen regulärem Krieg und Bürgerkrieg zu unterscheiden. Wir haben es nun mit einem Staat zu tun, der eine Art planetarischen Bürgerkrieg führt, den er in keiner Weise als solchen anerkennen kann.

Widerstand und Bürgerkrieg werden daher als terroristische Akte bezeichnet, und es ist nicht unangebracht, daran zu erinnern, dass das erstmalige Auftreten des Terrorismus in der Nachkriegszeit das Werk eines französischen Armeegenerals war, Raoul Salan, Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte in Algerien, der 1961 die OAS [Organisation armée secrète] gründete. Denken Sie an die Formel »Geheimarmee«: Die reguläre Armee wird irregulär, der Soldat wird mit dem Terroristen verwechselt.

Es scheint mir klar zu sein, dass man angesichts dieses Zustands nicht von einem »Widerstandsrecht« sprechen kann, das möglicherweise in der Verfassung kodifizierbar oder aus ihr ableitbar ist. Zumindest aus zwei Gründen: Der erste ist, dass der Bürgerkrieg nicht reguliert werden kann, was der Staat stattdessen durch eine unbestimmte Reihe von Dekreten versucht, die das Prinzip der Stabilität des Rechts von Grund auf verändert haben. Wir haben einen Staat in unserer Mitte, der eine Larvenform des Bürgerkriegs führt und zu kodifizieren versucht.

Die zweite, für mich unumstößliche These ist, dass Widerstand unter den gegenwärtigen Bedingungen keine eigenständige Aktivität sein kann: Er kann nur zu einer Lebensform werden.

Wirklichen Widerstand wird es nur dann geben, wenn jeder weiß, wie er die Konsequenzen aus dieser These ziehen kann.

Zuerst auf Italienisch erschienen am 2. Juni auf www​.quodlibet​.it

Bild: Denkmal für die Partisanendivision Kosmaj aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gipfel des Berges Kosmaj in der Nähe von Belgrad, Serbien


Dieses Gespräch von Giorgio Agamben mit Alexander Kluge ist erhellend im Zusammenhang mit dem obigen Text:

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