Das Mate­ria­lis­mus­pro­blem und das Ver­sa­gen der Lin­ken. Eine Ant­wort auf Jan Müller

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Es freut mich sehr, daß mein Bei­trag zum Ver­sa­gen der Lin­ken in der Coro­na-Kri­se so stark gele­sen und bespro­chen wird. Ich hat­te an sich eini­ge Aspek­te von den mög­li­chen Ursa­chen für die­ses Ver­sa­gen in eige­nen Bei­trä­gen wei­ter aus­füh­ren wol­len. Aus zeit­li­chen Grün­den konn­te ich dazu bis­her nicht in der Tie­fe arbei­ten, wie ich es für not­wen­dig hal­te, und zum ande­ren habe ich beschlos­sen, eini­ge Wochen die­sem Land der Ver­rück­ten den Rücken zu keh­ren – solan­ge es noch geht.

Daher möch­te ich die Replik von Jan Mül­ler auf mei­nen Bei­trag zum Anlaß neh­men, in etwas kür­ze­rer Wei­se auf eini­ge Aspek­te ein­zu­ge­hen, die mir wich­tig erschei­nen und wo mich Jan Mül­ler offen­bar miß­ver­stan­den hat. Lei­der pas­siert das leicht, wenn man Kri­ti­sches zum Stich­wort Mate­ria­lis­mus schreibt.

Ich hal­te in keins­ter Wei­se das Ver­sa­gen der Lin­ken für ein rein ideo­lo­gi­sches Pro­blem. Ich ver­tre­te auch nicht die Ansicht, das Geis­ti­ge sei das Pri­mä­re und die mate­ri­el­len Erschei­nun­gen sei­en dar­aus abge­lei­tet. Der idea­lis­ti­sche Ideen­him­mel ist mir eher fremd. Den Begriff Ratio­na­li­tät hat­te ich im Text übri­gens über­haupt nicht benutzt, weder im Zusam­men­hang mit einem »zu viel« oder »zu wenig«.

Aber ich ver­te­te auch nicht die Ansicht, man kön­ne alles aus mate­ri­el­len Ver­hält­nis­sen, aus der öko­no­mi­schen Stel­lung oder peku­niä­ren Inter­es­sen ableiten.

In mei­nem Text hat­te ich eini­ge Fra­gen for­mu­liert, denen man nach­ge­hen könn­te, um das Ver­sa­gen der Lin­ken zu erklä­ren. In einem Punkt frag­te ich nach den struk­tu­rel­len, gene­ra­tio­nel­len, lebens­welt­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und ideo­lo­gi­schen Bedin­gun­gen; und im fol­gen­den Punkt nach den phi­lo­so­phi­schen und ideo­lo­gi­schen Grund­an­nah­men der mar­xis­tisch ori­en­tier­ten Lin­ken, die die Über­nah­me des Coro­na-Nar­ra­tivs sowie die Recht­fer­ti­gung der Maß­nah­men dage­gen begüns­tigt haben könnten.

Zu ers­te­rem hat Jan Mül­ler vie­les gesagt, dem ich auch voll zustim­men kann, vie­les ist mir aus eige­ner Erfah­rung aus den 80er/​90er Jah­ren bekannt. Inklu­si­ve der trau­ri­gen Ent­wick­lung von Tei­len der radi­ka­len Lin­ken und der Auto­no­men in Rich­tung Anti­deut­sche mit ihrem durch und durch reak­tio­nä­ren Welt­bild und pseu­do­lin­kem Gequat­sche. Die ver­blie­be­nen Res­te sowie die (Jung)Antifa sind ihnen mehr­heit­lich nun gefolgt.

Beim zwei­ten, den phi­lo­so­phi­schen und ideo­lo­gi­schen Grund­an­nah­men, ver­hält es sich etwas anders. Ich hal­te Welt­an­schau­un­gen und Ideo­lo­gien für mate­ri­el­le Gewal­ten aus eige­nem Recht, die die mate­ri­el­le Welt in erheb­li­cher Wei­se mit erzeugen.

Es ist klar, daß die mate­ri­el­le Welt mit sei­nen Besitz- und Herr­schafts­ver­hält­nis­sen die vor­herr­schen­den Welt­an­schau­un­gen in star­kem Maße prä­gen; sie erzeu­gen im Men­schen qua­si das Bedürf­nis, die Welt in einer bestimm­ten Wei­se zu sehen. Neue Gedan­ken ent­ste­hen durch neue Erkennt­nis­se und Wider­sprü­che inner­halb der mate­ri­el­len Welt bzw. zwi­schen Rea­li­tät und Ideologie.

Ande­rer­seits wir­ken Welt­an­schau­un­gen auf die mate­ri­el­le Welt zurück, weil die­se im Inners­ten des Ein­zel­nen ver­an­kert sind, Teil der Cha­rak­ter­struk­tur, viel­leicht auch zu Psy­cho­pa­tho­lo­gien wer­den, und dadurch das Han­deln der Men­schen deter­mi­nie­ren. Der Frei­heits­grad des Men­schen ist dadurch eingeschränkt.

Jan Mül­ler sieht das im Grun­de auch so, sonst wür­den sei­ne (sehr rich­ti­gen) Aus­füh­run­gen zur Ideo­lo­gie­pro­duk­ti­on kei­nen Sinn erge­ben. Neben­bei bemerkt: Ich fra­ge mich schon län­ger, wie bei jun­gen Leu­ten, die 30 Jah­re Bertelsmann‑, PISA‑, Bolo­gna- Kita, Schu­le und Uni­ver­si­tät, samt ent­spre­chend kon­di­tio­nier­tem Lehr­per­so­nal, hin­ter sich haben, etwas ande­res her­aus­kom­men kann, als das, was wir heu­te sehen.

Das Mate­ria­lis­mus­pro­blem hat für mich zwei Facetten.

Erich Fromm beschreibt in sei­nem Buch: Die Furcht vor der Frei­heit, die gegen­sei­ti­ge Beein­flus­sung von mate­ri­el­len Ver­hält­nis­sen und Cha­rak­ter­struk­tur sehr plau­si­bel. Zur Umbruchs­zeit der Refor­ma­ti­on schreibt er:

Die neue Cha­rak­ter­struk­tur, die sich aus den neu­en wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen erga­ben, die durch reli­giö­se Dok­tri­nen noch inten­si­viert wur­de, spie­le dann bei der wei­te­ren gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Ent­wick­lung eine wich­ti­ge Rol­le. […] Wenn man sich die­sen neu­ent­stan­de­nen Cha­rak­ter­zü­gen ent­spre­chend ver­hielt, so war dies von der wirt­schaft­li­chen Not­wen­dig­keit aus gese­hen von Vor­teil. Außer­dem war es psy­cho­lo­gisch befrie­di­gend, weil es den Bedürf­nis­sen und Ängs­ten die­ser neu­en Art von Per­sön­lich­keit ent­sprach. […] Wäh­rend sie [die Cha­rak­ter­zü­ge, WS] sich ürsprüng­lich als Reak­ti­on auf die Bedro­hung durch die neu­en öko­no­mi­schen Kräf­te ent­wi­ckelt haben, wer­den sie im Lau­fe der Zeit selbst zu Pro­duk­tiv­kräf­ten, wel­che die neue wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung för­dern und inten­si­vie­ren (Erich Fromm (1990), Die Furcht vor der Frei­heit, Mün­chen: dtv, S. 79).

Und was waren das für Pro­duk­tiv­kräf­te? Erich Fromm zu Mar­tin Luthers reli­giö­sen Lehren:

Dadurch, daß er [Luther] den ein­zel­nen Men­schen das Gefühl der Wert­lo­sig­keit und Bedeu­tungs­lo­sig­keit in Bezug auf die eige­nen Ver­diens­te gab […], nahm er ihm sein Selbst­ver­trau­en und das Gefühl sei­ner Men­schen­wür­de, das die Vor­aus­set­zung für jeden Wider­spruch gegen welt­li­che Unter­drü­ckung ist.

Mit weit­rei­chen­den Fol­gen, denn nun war er:

[…] psy­cho­lo­gisch so weit, auch das für das mit­tel­al­ter­li­che Den­ken so wich­ti­ge Gefühl zu ver­lie­ren, daß der Mensch sein ewi­ges Heil und sei­ne spi­ri­tu­el­len Zie­le der Zweck des Lebens sei­en; er war jetzt bereit, eine Rol­le zu über­neh­men, bei der sein Leben ein Mit­tel zu Zwe­cken wur­de, die außer­halb sei­ner selbst lagen, zu den Zwe­cken der wirt­schaft­li­chen Pro­duk­ti­vi­tät und der Anhäu­fung von Kapital.

Ähn­lich zu Calvin:

Die Selbst­er­nied­ri­gung und die Aus­rot­tung des mensch­li­chen Stol­zes sind die Leit­mo­ti­ve sei­nes gesam­ten Den­kens (ebd. S. 70f).

Ver­lust von Selbst­ver­trau­en und Men­schen­wür­de, Leben als Mit­tel für frem­de Zwe­cke, Selbst­er­nied­ri­gung und Aus­rot­tung des mensch­li­chen Stol­zes; das kommt einem wie die exak­te Beschrei­bung von Metho­den und Zie­len des Coro­na-Regimes vor. Wer sich dem wider­spruchs­los unter­wor­fen hat, hat­te das alles offen­bar bereits ver­lo­ren gehabt. Nach­dem er auf die­ser Grund­la­ge die dar­ge­bo­te­ne Coro­na-Dok­trin geschluckt und ver­in­ner­licht hat, wird er nun psy­cho­lo­gisch noch berei­ter sein, auch künf­ti­ge Maß­nah­men nicht nur mit­zu­tra­gen, son­dern sogar zu fordern.

In die­sem Sin­ne möch­te ich den Zusam­men­hang von Mate­rie und Geist/​Ideologie ver­stan­den wis­sen. Die zur Cha­rak­ter­struk­tur geron­ne­nen mate­ri­el­len Bedin­gun­gen repro­du­zie­ren dies fort­wäh­rend, trei­ben die Ent­wick­lung wei­ter in die vor­ge­ge­be­ne Rich­tung und radi­ka­li­sie­ren sie zuwei­len noch.

Das heißt dann aber auch, daß ohne Arbeit an der eige­nen Per­sön­lich­keit und Welt­an­schau­ung kei­ne ande­re Pra­xis ent­ste­hen kann. Wer nur den Ham­mer kennt, für den ist alles ein Nagel. Selbst­ver­trau­en, Wür­de und Stolz schei­nen nicht nur brei­ten Bevöl­ke­rungs­krei­sen, son­dern auch der Main­stream­lin­ken weit­ge­hend abhan­den gekom­men zu sein, ihre Wie­der­ge­win­nung ist der Schlüs­sel zur Bekämp­fung (nicht nur) des Coro­na-Regimes und was da noch kom­men soll. Über­zeu­gen kann man jeman­den, der dazu kei­ne Ver­an­las­sung sieht, nicht, das sehe ich auch so. Man muß das schon selbst wol­len; über­zeu­gen­de Ange­bo­te hel­fen dabei aber schon.

Eine geho­be­ne mate­ri­el­le oder gesell­schaft­li­che Posi­ti­on (was nicht immer zugleich gege­ben ist) erklärt noch nicht die Akzep­tanz selbst­schä­di­gen­den Ver­hal­tens, auch bei ent­spre­chen­der Sozia­li­sa­ti­on nicht. Und: Es sind bei­lei­be nicht nur bes­ser­ge­stell­te Lin­ke aus bür­ger­li­chen Krei­sen, die Coro­na-kon­form den­ken, son­dern auch vie­le mit eher pro­le­ta­ri­schem Hin­ter­grund und teils lan­ger und andau­ern­der pre­kä­rer beruf­li­cher Lauf­bahn. Nicht weni­ge die­ser pre­kä­ren Lin­ken hal­ten sich selbst dann noch für etwas »Bes­se­res«, wenn sie weni­ger ver­die­nen als jemand, der Trep­pen putzt. Wel­cher Intel­lek­tu­el­le mit dem Drang nach oben möch­te sich schon ein­ge­ste­hen, daß er in Wirk­lich­keit genau­so pro­le­ta­ri­siert ist, genau­so nach der Pfei­fe irgend­wel­cher Chefs zu tan­zen hat, wie die vor­geb­lich unte­ren Rän­ge der gesell­schaft­li­chen Stu­fen­lei­ter? Da eig­net sich die Über­nah­me der Herr­schafts­ideo­lo­gie doch bes­tens zur Abgren­zung nach unten.

Das Mate­ria­lis­mus­pro­blem hat noch einen zwei­ten Aspekt, der sich pro­ble­ma­tisch in der lin­ken Tra­di­ti­on aus­ge­wirkt hat.

Es ist die seit der Renais­sance zu beob­ach­ten­de Eli­mi­nie­rung alles Geis­ti­gen und Sub­jek­ti­ven aus Natur­wis­sen­schaft und Welt­an­schau­ung. Betrach­te­te man im Ani­mis­mus die gesam­te mate­ri­el­le Welt als beseelt, sodaß das irr­tie­ren­de Fak­tum des Todes uner­klär­lich blieb, setz­te sich mit Beginn der Renais­sance eine Sicht­wei­se durch, in der die leb­lo­se Mate­rie der Nor­mal­zu­stand ist. Aus dem mit (gött­li­chem) Sinn erfüll­ten Kos­mos wur­de das tote Uni­ver­sum der Gestir­ne, Ato­me und Strah­len ohne Geist und Sinn. Nun konn­te man das Phä­no­men des Lebens immer weni­ger erklä­ren, was das Leben­di­ge über­haupt ausmacht.

Durch die­sen Pro­zeß stell­te sich eine Ent­frem­dung zwi­schen Orga­ni­schem und Nicht-Orga­ni­schem, zwi­schen Mensch und Natur ein; der Geist ver­schwand aus der mate­ri­el­len Welt wie aus der Natur­wis­sen­schaft selbst. Zugleich fei­er­te die auf dem mate­ria­lis­tisch-mecha­nis­ti­schem Welt­bild basie­ren­de Wis­sen­schaft wah­re Tri­um­phe in der Natur­be­herr­schung. Genau das zu leis­ten, Natur zu beherr­schen, wur­de zu ihrer genui­nen Auf­ga­be. Der Blick auf die Natur und auf alle natür­li­chen Seins­zu­sam­men­hän­ge änder­te sich radi­kal; er wur­de immer geist­lo­ser im umfas­sen­den Sinn. Das heu­te so ver­brei­te­te Gefühl der Sinn­lo­sig­keit hat viel damit zu tun.

Fried­rich Schel­ling hat die zer­stö­re­ri­schen Fol­gen die­ses mecha­nis­ti­schen Welt­bil­des in der Nach­fol­ge von Des­car­tes, Bacon und New­ton bereits zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts auf den Punkt gebracht. In sei­ner Pole­mik gegen (Johann Gott­lieb) Fich­te schreibt er:

Denn was ist am Ende die Essenz sei­ner Mei­nung von der Natur? Es ist die, daß sie zu nichts wei­ter da ist, als gebraucht, benutzt zu wer­den; sein Prin­zip, wonach er die Natur ansieht, ist das öko­no­misch-teleo­lo­gi­sche Prinzip.

Und an ande­rer Stelle:

In älte­ren Sys­te­men war es wenigs­tens die Offen­ba­rung der Güte, Weis­heit und Macht des ewi­gen Wesens, das als Urzweck der Natur zu Grun­de gelegt wur­de: im Fich­te­schen Sys­tem hat sie den letz­ten Rest von Erha­ben­heit ver­lo­ren, und ihr gan­zes Dasein läuft auf den Zweck ihrer Bear­bei­tung und Bewirt­schaf­tung hin­aus. (zitiert nach Jochen Kirch­hoff (1982), Schel­ling, Rein­bek: Rowohlt Taschen­buch Ver­lag, S. 63)

Der Gedan­ke einer toten Natur, Objekt hem­mungs­lo­ser Aus­beu­tung durch den Men­schen, oft Aus­druck »blindeste[r] Ver­ach­tung der Natur«. (ebd.), ist, so sehe ich es, die domi­nie­ren­de Sicht­wei­se der letz­ten bei­den Jahr­hun­der­te gewe­sen. Auch wenn Marx und Engels davon nicht völ­lig frei waren, zumin­dest in ihren spä­te­ren Schrif­ten nicht, wur­de sol­ches Den­ken auf lin­ker Sei­te erst im leni­nis­tisch-trotz­kis­tisch-mao­is­ti­schen Den­ken domi­nant. In Bezug auf die Natur­be­trach­tung (wie auch in ande­rem) ist die­ses Den­ken ledig­lich die Rück­sei­te der bür­ger­li­chen zweck­ra­tio­na­len und uti­li­ta­ris­ti­schen Sicht.

Eine sol­che Sicht hat die Wis­sen­schaft um wesent­li­che Tei­le der Wirk­lich­keit beraubt, ist also reduk­tio­nis­tisch. Eine Über­win­dung die­ses Reduk­tio­nis­mus heißt also, die vor­mals abge­trenn­ten Erkennt­nis­be­rei­che wie­der zu inte­grie­ren, die Wis­sen­schaft somit wie­der voll­stän­dig zu machen. Ohne sich dabei in den Fal­len der Eso­te­rik zu verfangen.

Die reduk­tio­nis­ti­sche Sicht auf die mate­ri­el­le Welt und auf das Leben­di­ge über­haupt, hat seit lan­gem auch die Betrach­tung des Men­schen selbst erfaßt, wie Ten­den­zen in der Neu­ro­wis­sen­schaft und ganz beson­ders im sog. Trans­hu­ma­nis­mus zei­gen. Einem sol­chen Men­schen­bild frö­nen gro­ße Tei­le des medi­zi­nisch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes, der Mensch besteht nur noch aus Zel­len, Ner­ven­bah­nen, Genen, Hor­mo­nen, Stoff­wech­sel; aus Bits und Bites, sozu­sa­gen. Alles geis­tig-see­li­sche wird zuneh­mend dekon­stru­iert, sodaß der Mensch sich in exakt die Rich­tung ent­wi­ckelt, in der Des­car­tes die Tie­re sah: als Maschi­nen. Das kom­ple­xe Zusam­men­spiel von Kör­per und Geist wird weit­ge­hend igno­riert; der Mensch »schrumpft auf ein Nichts« zusam­men, wie es ein Arzt in einem Coro­na-krit­schen Bei­trag bezeichnete.

Den Men­schen in die­ser Wei­se zu sehen, ist für den medi­zi­nisch-indus­tri­el­len Kom­plex natür­lich mehr als nahe­lie­gend, da über­aus pro­fi­ta­bel. Men­schen durch einen ganz­heit­li­chen Blick nicht etwa vor Gesund­heits­schä­den zu bewah­ren und umfas­send zu hei­len, son­dern an die Nadel zu bekom­men und zu einem Objekt umfas­sen­der und fort­wäh­ren­der medi­zi­ni­scher Behand­lung (=Aus­beu­tung) zu machen, liegt in der Logik des Sys­tems. Es ist für alle Akteu­re natür­lich öko­no­misch höchst ver­nünf­tig, ent­spre­chend zu handeln.

Um obi­ges Argu­ment wie­der auf­zu­neh­men: Ist ein sol­cher Blick auf den Men­schen erst ein­mal domi­nant, wird er zur Pro­duk­tiv­kraft, der die wei­te­re Ent­wick­lung deter­mi­niert und wei­ter in die gege­be­ne Rich­tung drängt (und radi­ka­li­siert). Wer die­sen reduk­tio­nis­ti­schen Blick teilt, wird kaum auf ande­re, scho­nen­de­re (und erheb­lich bil­li­ge­re) Behand­lungs­me­tho­den kommen.

Wis­sen­schafts­feind­lich ist so eine Hal­tung alle­mal. Schon Schel­ling hat der New­ton­schen Mecha­nik wegen ihres Reduk­tio­nis­mus die Wis­sen­schaft­lich­keit abge­spro­chen (Goe­the dach­te ähn­lich). Schel­ling for­der­te mehr Wis­sen­schaft, indem sie voll­stän­dig zu wer­den habe. Wei­te Tei­le der deut­schen Lin­ken hän­gen einem Wis­sen­schafts- und Natur­ver­ständ­nis des 18. und 19. Jahr­hun­derts an. Und mit sol­chem Augen schau­en sie auch auf den Menschen.

Das macht anfäl­lig für die Über­nah­me der theo­re­ti­schen Grund­la­gen des medi­zi­nisch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes, wie in der Cau­sa Coro­na und mRNA-Gen­sub­stan­zen zu beob­ach­ten ist. Daß die Mehr­zahl der Main­stream­lin­ken unfä­hig ist, die­sem reduk­tio­nis­ti­schen Welt­bild wider­spre­chen­de Lehr­mei­nun­gen auch nur zur Kennt­nis zu neh­men, ist fatal und irri­tie­rend. Wie man zugleich Gen-Mais ableh­nen und Gen-Sprit­zen befür­wor­ten kann, scheint mir ein Mus­ter­bei­spiel Orwell­schen Dop­pel­denks, eigent­lich ein Fall für den Seelenklempner.

In den 70er und 80er Jah­ren war man schon ein­mal wesent­lich wei­ter, es gab eine umfang­rei­che Debat­te zur Natur­phi­lo­so­phie, an der auch vie­le Lin­ke teil­nah­men. Der Begriff Öko­so­zia­lis­mus stammt aus die­ser Zeit. Vie­le der dama­li­gen Publi­ka­tio­nen sind es wert, wie­der aus dem Bücher­re­gal geholt zu wer­den, vie­les lei­der nur noch anti­qua­risch erhält­lich. In den 70er/​80er gab es auch eine sub­stan­ti­el­le und intel­li­gen­te Tech­nik­kri­tik. Die Behaup­tung einer angeb­li­chen Neu­tra­li­tät von Tech­nik ist eine wei­te­re Ursün­de der mar­xis­tisch ori­en­tier­ten Lin­ken; weder Pes­ti­zi­de, Atom- oder Nano­tech­nik und das meis­te ande­re auch nicht, zu schwei­gen von Gen­tech­nik und mRNA-Sprit­zen sind neu­tral. Eine der­ar­ti­ge The­se ent­springt der glei­chen Art uti­li­ta­ris­ti­scher Naturbetrachtung.

Sich (erneut) dem Werk von Ivan Illich, Hans Jonas, Mur­ray Book­chin, Gus­tav Land­au­er, Lewis Mum­ford, E.F. Schu­ma­cher und beson­ders dem unver­gleich­li­chen Gün­ther Anders zu wid­men, wäre gera­de jetzt eine loh­nens­wer­te Angelegenheit.

Bild: La Leçon de Clau­de Ber­nard par Léon Lher­mit­te, toi­le de 1889

One thought on “Das Mate­ria­lis­mus­pro­blem und das Ver­sa­gen der Lin­ken. Eine Ant­wort auf Jan Müller

  1. Zitat aus dem Text und eigent­lich soll­te es ja Kon­sens-Wis­sen sein: »Die Behaup­tung einer angeb­li­chen Neu­tra­li­tät von Tech­nik ist eine wei­te­re Ursün­de der mar­xis­tisch ori­en­tier­ten Linken«

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