Zum Cha­rak­ter der Volks­re­pu­blik Chi­na – Arti­kel­se­rie zu Chi­na Teil XV

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Dies ist der fünf­zehn­te und letz­te Teil einer umfas­sen­den auf meh­re­re Tei­le ange­leg­ten Arti­kel­se­rie von Jan Mül­ler über Chi­na. Die Serie beinhal­tet fol­gen­de Teile:

  1. Das alte Chi­na (plus Einleitung)
  2. Die Ent­ste­hung des Kapi­ta­lis­mus in Chi­na und die Ers­te Chi­ne­si­sche Revolution
  3. Die Zwei­te Chi­ne­si­sche Revo­lu­ti­on (1925 – 27)
  4. Die KPCh wird Gue­ril­la­be­we­gung (1928 – 1945)
  5. Der Chi­ne­si­sche Bür­ger­krieg und die Drit­te Chi­ne­si­sche Revo­lu­ti­on (1945 – 49)
  6. Von der »neu­de­mo­kra­ti­schen« zur sozia­lis­ti­schen Revolution
  7. Im Bünd­nis mit der Sowjet­uni­on (1949 – 60)
  8. Gro­ßer Sprung nach vor­ne, Bruch mit der Sowjet­uni­on und Kul­tur­re­vo­lu­ti­on: Der Hoch­mao­is­mus (1958 – 69)
  9. Umkehr der Alli­an­zen und Drei-Wel­ten-Theo­rie: Der Spät­mao­is­mus (1969 – 78)
  10. Ers­te Etap­pe der Wirt­schafts­re­for­men und Putsch­ver­such (1978 – 89)
  11. Chi­na im Zeit­al­ter des Neo­li­be­ra­lis­mus (1989 – 2008)
  12. Klei­ner Wohl­stand und neue Sei­den­stra­ße (ab 2008)
  13. Chi­na und Corona
  14. Chi­na und der Ukrainekrieg
  15. Schluss­fol­ge­run­gen über den Cha­rak­ter Chinas

Die Arti­kel­se­rie als Bro­schü­re mit wei­te­ren Anhän­gen, Lite­ra­tur­ver­zeich­nis und wei­ter­füh­ren­der Lite­ra­tur kann man unter fol­gen­dem Link her­un­ter­la­den: Chi­na: Ein lan­ger Weg – wohin?

Zum Cha­rak­ter der Volks­re­pu­blik China

Nach­dem nun die Geschich­te Chi­nas im 20. und 21. Jahr­hun­dert dar­ge­stellt wur­de, kön­nen nun die in der Ein­lei­tung ange­schnit­te­nen Fra­gen beant­wor­tet wer­den: Ist Chi­na sozia­lis­tisch? Ist Chi­na ein impe­ria­lis­ti­sches Land? Wer herrscht in China?

Ist Chi­na sozialistisch?

Der schum­pe­te­ria­ni­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Wolf­ram Els­ner behaup­tet, das Chi­na bereits sozia­lis­tisch sei. Hier­für führt er unter ande­rem fol­gen­de Punk­te an:

  • kein Pri­vat­ei­gen­tum an Boden, Natur und Ressourcen,
  • ein gro­ßer, moder­ner, stra­te­gisch aus­ge­rich­te­ter staat­li­cher Produktionssektor,
  • ein eben­falls gro­ßer, moder­ner, stra­te­gisch aus­ge­rich­te­ter staat­li­cher Finanz- und Kre­dit­sek­tor, unab­hän­gig und wäh­rungs­po­li­tisch geschützt vor dem inter­na­tio­na­len Spekulationssektor,
  • die chi­ne­si­schen Kapi­ta­lis­ten haben kei­nen orga­ni­sier­ten Zugang zur poli­ti­schen Macht,
  • die Arbei­ter­schaft wird poli­tisch geför­dert und in ihren betrieb­li­chen For­de­rungs- und Mit­be­stim­mungs-Akti­vi­tä­ten poli­tisch unter­stützt und organisiert,
  • Rück­ver­tei­lungs­po­li­tik und ent­spre­chen­de Steu­er­po­li­tik.1

Fred Schmid sei­ner­seits kommt zu der Schluss­fol­ge­rung, dass sich das chi­ne­si­sche Modell in drei Merk­ma­len klar vom west­li­chen neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus unterscheidet:

  1. Grö­ße­re Rol­le des Staa­tes, der sei­ne wirt­schafts­po­li­ti­sche Sou­ve­rä­ni­tät behal­ten hat
  2. Plan und Markt als Allokationsinstrumente
  3. Ein beträcht­li­cher Sek­tor des staat­li­chen Eigentums

Wäh­rend der Wohl­stand im Wes­ten spä­tes­tens seit der Welt­wirt­schafts­kri­se von 2008 zunächst schlei­chend und seit 2020 galop­pie­rend zurück­geht, steigt er in Chi­na wei­ter. Real­lohn­er­hö­hun­gen von bis zu 10% im Jahr sind kei­ne Sel­ten­heit. Wenn die­se Ent­wick­lung so wei­ter geht, kann es pas­sie­ren, dass der Lebens­stan­dard in Chi­na bald höher sein wird als im Wes­ten. Das ist eine beein­dru­cken­de Bilanz. Aber ist das schon ein Sozialismus?

Gehen wir auf die ein­zel­nen Argu­men­te ein.

Ernest Man­del weist in sei­ner mar­xis­ti­schen Wirt­schafts­theo­rie dar­auf hin, dass eine Natio­na­li­sie­rung des Bodens sehr wohl mit dem Kapi­ta­lis­mus ver­ein­bar ist. Vor­kämp­fer der Bour­geoi­sie wie David Ricar­do und John Stuart Mill haben sich für die Abschaf­fung des Pri­vat­ei­gen­tums am Boden ein­ge­setzt. Die­ses Pri­vat­ei­gen­tum an Grund und Boden gene­riert die Grund­ren­te, ein leis­tungs­lo­ses Ein­kom­men, das einen Abzug vom Mehr­wert dar­stellt und damit die Pro­fi­tra­te der Kapi­ta­lis­ten absenkt. Zugleich erhöht die Grund­ren­te die Prei­se für Agrar­pro­duk­te und dem­nach auch die Löh­ne, was eben­falls die indus­tri­el­len Pro­fi­te angreift.2 Die Abwe­sen­heit von Pri­vat­ei­gen­tum an Grund und Boden belegt also noch kei­nen sozia­lis­ti­schen Cha­rak­ter der chi­ne­si­schen Gesellschaft.

Im Zeit­al­ter des Spät­ka­pi­ta­lis­mus (1945 – 1989) hat­ten eigent­lich alle west­li­chen Staa­ten einen gro­ßen staat­li­chen Indus­trie­sek­tor. In eini­gen Län­dern wie in Frank­reich war nach 1945 auch das Ban­ken­sys­tem ver­staat­licht worden.

Bekannt­lich haben die west­li­chen Staa­ten in der Nach­kriegs­zeit eine viel akti­ve­re Wirt­schafts­po­li­tik betrie­ben als heut­zu­ta­ge. In Frank­reich gab es die »Pla­ni­fi­ca­ti­on«, eine staat­li­che Wirt­schafts­pro­gram­mie­rung, wo in enger Abstim­mung mit den Groß­kon­zer­nen die wirt­schafts­po­li­ti­schen Schwer­punk­te, wich­ti­ge Inves­ti­tio­nen und Ähn­li­ches fest­ge­legt wur­den. Das hat sehr viel Ähn­lich­keit mit den heu­ti­gen chi­ne­si­schen »Fünf­jahr­plä­nen«.3

Die chi­ne­si­schen Kapi­ta­lis­ten dür­fen seit 2002 der KPCh bei­tre­ten und haben damit sehr wohl einen exklu­si­ven Zugang zur poli­ti­schen Macht.4 Gleich­zei­tig ist die För­de­rung der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Arbei­ter­klas­se rela­tiv gering. Auch die »Umver­tei­lungs­po­li­tik« der chi­ne­si­schen Füh­rung besteht vor allem in Lohn­er­hö­hun­gen für die Arbei­ter, nicht aber in einer wesent­li­chen Abschöp­fung des Reich­tums der chi­ne­si­schen Mil­li­ar­dä­re und Millionäre.

In Chi­na wir­ken die kapi­ta­lis­ti­schen Bewe­gungs­ge­set­ze. Auch die Arbeits­kraft ist zu einer Ware gewor­den.5 Die sozia­le Unsi­cher­heit des Men­schen ist des­halb immer noch groß. Die hier betrie­be­ne Wirt­schafts­pro­gram­mie­rung hat mit einer tat­säch­li­chen Plan­wirt­schaft nichts zu tun.

Das heißt, in Chi­na exis­tiert eine ordi­nä­re kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft. Aller­dings wur­de seit der Welt­wirt­schafts­kri­se von 2008 die neo­li­be­ra­le Ideo­lo­gie auf­ge­ge­ben. Das sich jetzt her­aus­ge­bil­de­te Wirt­schafts­sys­tem erin­nert stark an den Spät­ka­pi­ta­lis­mus (1945 – 1989) und das ist wohl kein Zufall. Auch der Spät­ka­pi­ta­lis­mus basier­te auf Mas­sen­kon­sum und Mas­sen­wohl­stand. Sicher­lich war die­se Wohl­stands­stei­ge­rung durch die Kon­kur­renz mit den sozia­lis­ti­schen Staa­ten bedingt, aber der stei­gen­de Mas­sen­wohl­stand hat­te zunächst auch hohe Pro­fi­te für die Kapi­ta­lis­ten gene­riert. Denn je höher die Löh­ne, des­to höher war auch die Nach­fra­ge nach Kon­sum­gü­tern. Das heißt, die­se Nach­fra­ge­stei­ge­rung war im lang­fris­ti­gen Inter­es­se der Kapi­ta­lis­ten­klas­se als gan­zer, wenn auch nicht des Einzelkapitalisten.

Einer­seits gibt es in Chi­na kein Pri­vat­ei­gen­tum an Grund und Boden. Auch ist die Kon­trol­le des Staa­tes über Ban­ken etwas stär­ker aus­ge­prägt, als im west­li­chen Spät­ka­pi­ta­lis­mus und der staat­li­che Indus­trie­sek­tor ist grö­ßer. Ande­rer­seits exis­tiert in Chi­na nur ein kapi­tal­ge­deck­tes Sys­tem der sozia­len Sicher­heit und die Woh­nungs­ver­sor­gung wird aus­schließ­lich dem Markt über­las­sen. So etwas gab es im west­li­chen Spät­ka­pi­ta­lis­mus nicht. Einer Haus­bau­för­de­rung für die obe­re Mit­tel­schicht stand ein bedeu­ten­der sozia­ler Woh­nungs­bau für die Arbei­ter­klas­se gegen­über. Die sozia­len Siche­rungs­sys­te­me waren den Wid­rig­kei­ten des Kapi­tal­mark­tes ent­zo­gen. Das heißt, die »sozia­lis­ti­schen« Merk­ma­le sind in Chi­na nicht unbe­dingt stär­ker aus­ge­prägt als im west­li­chen Spät­ka­pi­ta­lis­mus bis 1989.

Die sich im Spät­ka­pi­ta­lis­mus ent­wi­ckeln­de Regu­la­ti­ons­wei­se des For­dis­mus funk­tio­nier­te nur so lan­ge, wie es noch einen rie­si­gen unbe­frie­dig­ten Bedarf an Kon­sum­gü­tern gab. Als die­ser Bedarf Mit­te der 70er Jah­re weit­ge­hend gedeckt war, geriet das gan­ze Sys­tem in eine Kri­se. Die Pro­fi­te in der Indus­trie gin­gen zurück, die Arbeits­lo­sig­keit stieg, das Wirt­schafts­wachs­tum ver­lang­sam­te sich rapi­de und statt einer erwei­ter­ten Repro­duk­ti­on kon­zen­trier­ten sich die Kapi­ta­lis­ten auf Rationalisierungsinvestitionen.

Schließ­lich gab man im Wes­ten den For­dis­mus auf und der Neo­li­be­ra­lis­mus tri­um­phier­te. Die Löh­ne wur­den beträcht­lich abgesenkt.

Im Augen­blick gibt es in Chi­na eine rela­ti­ve Inter­es­sen­über­ein­stim­mung zwi­schen Kapi­ta­lis­ten­klas­se und Arbei­tern. Was pas­siert aber, wenn auch in Chi­na in ein oder zwei Jahr­zehn­ten der Grund­be­darf an Kon­sum­gü­tern eben­falls befrie­digt ist und das Sys­tem in eine Kri­se gerät? Dann tritt der Gegen­satz zwi­schen den Inter­es­sen der Kapi­ta­lis­ten und der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit wie­der schroff zuta­ge. Es ist voll­kom­men offen, wie die KPCh in die­sem Fall ent­schei­den wird. Allein die Tat­sa­che, dass man die chi­ne­si­sche Bevöl­ke­rung zwi­schen 1989 und 2008 zu einer neo­li­be­ra­len Ross­kur zwang, gibt kaum Anlass zu Optimismus.

Der KPCh sei es gelun­gen, den »Tiger zu rei­ten«, also den Markt zur Stei­ge­rung des Wohl­stan­des der Men­schen aus­zu­nut­zen, behaup­tet Wolf­ram Els­ner. Das ist rich­tig. Aber eine sol­che Kon­stel­la­ti­on lässt sich im Kapi­ta­lis­mus nicht dau­er­haft kon­ser­vie­ren. Frü­her oder spä­ter muss das gan­ze Sys­tem in eine Kri­se gera­ten. Els­ner kann kei­nen Weg ange­ben, wie der gegen­wär­ti­ge chi­ne­si­sche Kapi­ta­lis­mus in einen tat­säch­li­chen Sozia­lis­mus über­führt wer­den kann.

Der Sozia­lis­mus zeich­net sich durch Gemein­ei­gen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­teln, die Plan­wirt­schaft, einem Über­fluss an Kon­sum­gü­tern, das Abster­ben von Waren- und Geld­wirt­schaft, den inter­na­tio­na­len Tri­umph der neu­en Gesell­schaft und das Abster­ben des Staa­tes aus.6 Kei­nes die­ser Merk­ma­le ist in Chi­na vor­han­den. Also exis­tiert dort kei­ne sozia­lis­ti­sche Gesellschaft.

Ist Chi­na imperialistisch?

Wolf­ram Els­ner geht davon aus, dass Chi­na kein impe­ria­lis­ti­sches Land ist. Er begrün­det das wie folgt:

  • Die chi­ne­si­schen Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen gehen ohne jede mili­tä­ri­sche Beglei­tung oder Bedro­hung vonstatten.
  • Chi­nas Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen sind nicht durch eine Über­pro­duk­ti­on von Kapi­tal erzwun­gen wor­den, wel­ches nun eine pro­fit­träch­ti­ge Anla­ge suchen muss. Sie sind den lang­fris­ti­gen Inter­es­sen des chi­ne­si­schen Staa­tes etwa nach guten Bezie­hun­gen zu einem afri­ka­ni­schen Land oder nach Roh­stoff­si­che­rung untergeordnet.
  • Die chi­ne­si­schen Inves­ti­tio­nen för­dern die natio­na­le Unab­hän­gig­keit und sozia­le Ent­wick­lung der Län­der der Drit­ten Welt. Ziel der Krie­ge des Wes­tens ist es unter ande­rem, genau die­se Ent­wick­lung zu torpedieren.

Lenin dage­gen defi­niert den Begriff Impe­ria­lis­mus wie folgt:

  1. Kon­zen­tra­ti­on der Pro­duk­ti­on und des Kapi­tals in einem sol­chen Aus­maß, dass Mono­po­le ent­ste­hen, die im Wirt­schafts­le­ben eine ent­schei­den­de Rol­le spielen.
  2. Ver­schmel­zung des Bank­ka­pi­tals mit dem Indus­trie­ka­pi­tal und Ent­ste­hung einer Finanz­olig­ar­chie auf der Basis des Finanzkapitals
  3. Der Kapi­tal­ex­port, im Unter­schied zum Waren­ex­port, gewinnt beson­de­re Bedeutung.
  4. Es bil­den sich inter­na­tio­na­le mono­po­lis­ti­sche Kapi­ta­lis­ten­ver­bän­de, die die Welt unter sich aufteilen.
  5. Die ter­ri­to­ria­le Auf­tei­lung der Erde unter die kapi­ta­lis­ti­schen Groß­mäch­te ist been­det.7

In die­sem Sin­ne ist der Impe­ria­lis­mus ein beson­de­res Ent­wick­lungs­sta­di­um des Kapitalismus.

Wie oben gezeigt, exis­tie­ren in Chi­na zahl­rei­che natio­na­le Groß­kon­zer­ne, die glo­bal expan­die­ren wol­len. Bei­spie­le hier­für sind Leno­vo, ZTE, Hua­wei, Ali­baba, Ten­cent und Dong­feng. Auch ein Finanz­ka­pi­tel exis­tiert in Chi­na, wobei aller­dings die größ­ten Ban­ken staat­lich sind.

Chi­na hat einen Devi­sen­schatz von vier Bil­lio­nen Dol­lar ange­häuft, der gegen­wär­tig vor allem in US-Staats­an­lei­hen ange­legt ist. Damit liegt das Geld weit­ge­hend brach. Die neue Sei­den­stra­ße dient auch dem Zweck, die­ses Kapi­tal zu mobi­li­sie­ren und die von Über­ka­pa­zi­tä­ten geplag­te chi­ne­si­sche Grund­stoff­in­dus­trie aus­zu­las­ten. Inter­na­tio­na­le Expan­si­on ist auch für das kapi­ta­lis­ti­sche Chi­na die ein­zi­ge Mög­lich­keit ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum und damit einen hohen Beschäf­ti­gungs­grad auf­recht zu erhalten.

Im Jahr 2017 betru­gen die chi­ne­si­schen Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen (FDI-out­flows) 158,3 Mil­li­ar­den Dol­lar, dem­ge­gen­über die­je­ni­gen der USA 300 Mil­li­ar­den und der EU 412,9 Mil­li­ar­den. Sie sind also noch ver­gleichs­wei­se gering.8

Die chi­ne­si­schen Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen die­nen vor allem der Ver­sor­gung der eige­nen Indus­trie mit Roh­stof­fen. Das war aller­dings auch im klas­si­schen Impe­ria­lis­mus (1890 – 1945) die wich­tigs­te Moti­va­ti­on für den Kapi­tal­ex­port. Im Zeit­al­ter des Neo­li­be­ra­lis­mus haben die Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen des Wes­tens stark zuge­nom­men. Sie dien­ten vor allem dem Zweck, von den nied­ri­gen Löh­nen in den ehe­mals sozia­lis­ti­schen Län­dern und der Drit­ten Welt zu pro­fi­tie­ren und so die eige­nen Gewin­ne zu stei­gern. Die­sem Bei­spiel ist Chi­na bis­her nicht gefolgt.

Seit Lenins Impe­ria­lis­mus-Schrift sind mehr als 100 Jah­re ver­gan­gen. Damals teil­ten sich die Kolo­ni­al­mäch­te die Welt unter sich auf und muss­ten die schmut­zi­ge Arbeit der Zer­stö­rung der vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se in ihren Kolo­nien leis­ten. Das war nur mit extre­mer Gewalt mög­lich. Inzwi­schen exis­tie­ren die Kolo­ni­al­rei­che nicht mehr. Die ehe­ma­li­gen Kolo­nien haben alle­samt ihre for­mel­le Unab­hän­gig­keit erlangt. Sie sind aller­dings öko­no­misch vom Wes­ten abhän­gig geblie­ben. Wenn Chi­na als New­co­mer in die­sen Län­dern Geschäf­te machen will, muss es bes­se­re Bedin­gun­gen als der Wes­ten bie­ten. Die­se bestehen vor allem im Auf­bau von Infra­struk­tur sowie im Ver­zicht auf neo­li­be­ra­le Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gram­me und einer poli­ti­schen Ein­mi­schung. Inso­fern pro­fi­tie­ren die Län­der der Drit­ten Welt erheb­lich von dem chi­ne­si­schen Enga­ge­ment und es ist sogar eine Durch­in­dus­tria­li­sie­rung denk­bar. Aber auch die­ses Merk­mal schließt einen impe­ria­lis­ti­schen Cha­rak­ter der VR Chi­na nicht aus. Die USA hiel­ten nach dem zwei­ten Welt­krieg zwar an den bru­ta­len, archai­schen Aus­beu­tungs­me­tho­den in ihrem Hin­ter­hof Latein­ame­ri­ka fest, aber sie haben sehr wohl die Indus­tria­li­sie­rung ihrer Ein­fluss­ge­bie­te Japan, Süd­ko­rea und Tai­wan geför­dert. Dies geschah vor allem, um ein Gegen­ge­wicht zum »kom­mu­nis­ti­schen« Chi­na und der Sowjet­uni­on zu schaf­fen. Aus der glei­chen Moti­va­ti­on her­aus för­der­ten sie den Wie­der­auf­bau West­eu­ro­pas nach 1945.

Aller­dings sind gegen­wär­tig nicht mehr die Aus­beu­tung von Kolo­nien Haupt­quel­le der Sur­plus­pro­fi­te, son­dern die tech­no­lo­gi­schen Ren­ten, die anfal­len, wenn es einem Unter­neh­men gelingt, begehr­te Hoch­tech­no­lo­gie­pro­duk­te als ers­te auf den Markt zu brin­gen.9 Hier liegt Chi­na noch sehr viel wei­ter hin­ter dem Wes­ten zurück als auf ande­ren Gebie­ten. Dies zeigt sich zum Bei­spiel dar­an, dass sehr viel mehr Zah­lun­gen für die Nut­zung von geis­ti­gen Eigen­tums­rech­ten von Chi­na in die USA gehen als umge­kehrt. Aber Chi­na holt auch im High­tech-Sek­tor auf. Die­sem Zweck dient auch das Pro­gramm Made in Chi­na 2025 und die mög­li­chen Folgeprogramme.

Im Augen­blick ist die Welt dabei, sich in zwei kapi­ta­lis­ti­sche Blö­cke auf­zu­spal­ten. Auf der einen Sei­te ste­hen die USA, Euro­pa, Japan, Aus­tra­li­en und Neu­see­land. Auf der ande­ren Sei­te Chi­na und Russ­land, denen sich zahl­rei­che asia­ti­sche, ara­bi­sche und afri­ka­ni­sche Län­der anschlie­ßen kön­nen. Zwi­schen die­sen Blö­cken fin­det kaum noch Han­del statt und sie ste­hen stän­dig am Ran­de eines gro­ßen Krie­ges. Auch das ist ein von Lenin genann­tes Merk­mal des Imperialismus.

Die VR Chi­na ist als Leit­na­ti­on des eura­si­schen Blocks eine impe­ria­lis­ti­sche Macht nach Lenins Kri­te­ri­en. Aber sie ver­tritt als auf­stei­gen­de Macht zumin­dest im Augen­blick ein weit­aus mensch­li­che­res Ent­wick­lungs­mo­dell als der Wes­ten. Im Wes­ten domi­nier­te schon seit Jahr­zehn­ten eine Plün­de­rungs­öko­no­mie, wo sich die eige­nen Olig­ar­chen alle Reich­tü­mer der Gesell­schaft aneig­nen und durch das Wahn­sinns­pro­jekt Gre­at Reset auch nach der unmit­tel­ba­ren poli­ti­schen Macht gie­ren. Wäh­rend der Wes­ten in sei­nem Wirt­schafts­krieg gegen Russ­land alles auf eine Kar­te setzt und dabei ist sei­ne Wirt­schaft voll­stän­dig zu zer­stö­ren, fin­den im Osten ein beträcht­li­cher Indus­trie­auf­schwung und eine Stei­ge­rung des Lebens­stan­dards statt. Wäh­rend im Wes­ten Hys­te­rie, hohl­dre­hen­de Medi­en, Hass­aus­brü­che und Wahn­sinn gras­sie­ren – die Gesell­schaft also in einen tota­len zivi­li­sa­to­ri­schen Zer­fall ein­ge­tre­ten ist – wird der Osten zum Hort einer wenigs­tens kapi­ta­lis­ti­schen Ratio­na­li­tät und Restvernunft.

Wer herrscht in China?

Seit 1949 herrscht eine aus der Arbei­ter- und Bau­ern­be­we­gung her­vor­ge­gan­ge­ne Büro­kra­tie. Das ist eine sozia­le Schicht, nicht aber eine Klas­se, da sie sich nicht auto­ma­tisch repro­du­zie­ren kann. Von 1949 bis 1954 muss­te sie ihre Herr­schaft im Bereich der Wirt­schaft mit der chi­ne­si­schen Bour­geoi­sie tei­len. Die­se Bour­geoi­sie war nicht bereit, die Herr­schaft der KPCh zu akzep­tie­ren und stell­te die Macht­fra­ge. Des­halb wur­de sie schließ­lich enteignet.

Seit den 90er Jah­ren haben wir eine ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on. Die Büro­kra­tie herrscht poli­tisch, aber die Bour­geoi­sie ent­stand neu und mel­det nun auch ihre Herr­schafts­an­sprü­che an. Seit dem Jahr 2002 beka­men Kapi­ta­lis­ten auch Zugang zur KPCh. Es ist für Außen­ste­hen­de nicht ersicht­lich, in wie star­kem Maße die­se Kapi­ta­lis­ten die Poli­tik der Par­tei bereits beeinflussen.

Aber die KPCh muss natür­lich allein schon im Inter­es­se des Funk­tio­nie­rens der kapi­ta­lis­ti­schen Markt­wirt­schaft die­se Inter­es­sen berück­sich­ti­gen, ein gutes Inves­ti­ti­ons­kli­ma schaf­fen. Damit wer­den sich die Kapi­ta­lis­ten lang­fris­tig aber nicht zufrie­den geben. Denn als Funk­tio­nä­re ihres Kapi­tals müs­sen sie die abso­lu­te Macht anstre­ben, die ihre Klas­sen­brü­der im Wes­ten schon besit­zen. Um dies zu errei­chen, müss­te aber die KPCh gestürzt und durch eine offen pro­ka­pi­ta­lis­ti­sche Par­tei ersetzt wer­den. Das aber ist nicht so ein­fach. Die KPCh ist eine mehr als 100 Jah­re alte Par­tei und im Klas­sen­kampf sehr erfah­ren. Die chi­ne­si­sche Kapi­ta­lis­ten­klas­se dage­gen ist noch sehr jung und poli­tisch uner­fah­ren. Sie hat sich erst in den 90er und 00er Jah­ren neu gebildet.

Ein Sturz der KPCh könn­te das Land in ein Cha­os stür­zen und dank der sehr gro­ßen Soft Power des Wes­tens Kräf­te an die Macht brin­gen, die Chi­na ent­we­der ganz zer­stö­ren oder das Land in eine Halb­ko­lo­nie zurück­ver­wan­deln wol­len. Dar­an wie­der­um kann auch die chi­ne­si­sche Kapi­ta­lis­ten­klas­se kein Inter­es­se haben. Des­halb ist sie wohl in ihrer Mehr­heit bereit, die Herr­schaft der KPCh vor­erst noch zäh­ne­knir­schend zu akzeptieren.

Das gilt wohl aber nicht für alle Kapi­ta­lis­ten. Tho­mas Röper berichtet:

Und Chi­na hat gera­de 2021 sehr hart gegen sei­ne eige­nen Mil­li­ar­dä­re durch­ge­grif­fen, als die ver­sucht haben, enge Koope­ra­tio­nen mit west­li­chen Olig­ar­chen ein­zu­ge­hen und die Poli­tik zu beein­flus­sen. Sie wur­den zu Straf­zah­lun­gen in Mil­li­ar­den­hö­he ver­don­nert und seit eini­gen Mona­ten hört man von denen poli­tisch nichts mehr.10

Die­se Aus­sa­ge bezieht sich unter ande­rem auf Jack Ma, den Grün­der von Ali­baba. Er ist einer der reichs­ten Män­ner Chi­nas. Ma for­der­te einen unre­gu­lier­ten Kapitalismus.

Per­spek­ti­ven des Sozia­lis­mus in China

Offi­zi­ell herrscht schon der Sozia­lis­mus in Chi­na, so die KPCh und eini­ge west­li­che Chi­na-Bewun­de­rer wie Wolf­ram Els­ner. Ande­re Autoren wie Hel­mut Peters haben die Hoff­nung, dass es Chi­na gelingt, den Kapi­ta­lis­mus aus­zu­nut­zen, um schließ­lich auf einen tat­säch­li­chen Sozia­lis­mus »umzu­schal­ten«. Aber wie genau das funk­tio­nie­ren soll, kann nie­mand ange­ben. Alle seit 1978 getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen füh­ren auf jeden Fall vom Sozia­lis­mus weg und nicht auf ihn zu, auch men­ta­li­täts­mä­ßig. Das Sozi­al­punk­te­sys­tem ist ein Ver­such, pro­ka­pi­ta­lis­ti­sche Ver­hal­tens­wei­sen zurück­zu­drän­gen, ohne den Kapi­ta­lis­mus selbst auf­zu­ge­ben, also ein Her­um­dok­tern an Symptomen.

Ein tat­säch­li­cher Sozia­lis­mus setzt die Ent­eig­nung der chi­ne­si­schen Kapi­ta­lis­ten­klas­se und die Wie­der­ein­füh­rung der Plan­wirt­schaft vor­aus. Dies wird sich nicht ohne eine gro­ße Mobi­li­sie­rung der Bevöl­ke­rung errei­chen las­sen. Ob die KPCh dazu wil­lens und über­haupt noch in der Lage ist, darf bezwei­felt werden.

Unter wel­chen Bedin­gun­gen wäre ein Über­gang zum Sozia­lis­mus in Chi­na mög­lich und sogar wahr­schein­lich? Chi­na tritt nicht als Gegen­macht zum glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus auf wie einst die Sowjet­uni­on, son­dern hat sein Schick­sal mit dem Welt­ka­pi­ta­lis­mus ver­bun­den. Letzt­lich hängt also das Schick­sal des chi­ne­si­schen Kapi­ta­lis­mus vom dem­je­ni­gen des Welt­ka­pi­ta­lis­mus ab. Wenn es dem Kapi­ta­lis­mus gelingt, erneut in eine lan­ge Wel­le mit expan­die­ren­dem Grund­ton ein­zu­tre­ten, sei es unter west­li­cher oder chi­ne­si­scher Füh­rung, dann ist das Schick­sal des Sozia­lis­mus in Chi­na wohl besie­gelt. Wenn aber der Kapi­ta­lis­mus welt­weit auf­grund des Geset­zes des ten­den­zi­el­len Fal­les der Pro­fi­tra­te an sein Ende ange­langt ist, dann wird er wohl auch in Chi­na gestürzt.

In die­sem Sin­ne las­sen sich vier Sze­na­ri­en identifizieren:

  • Der Wes­ten gewinnt den Zwei­ten Kal­ten Krieg. Fol­ge: Sturz der KPCh und Ein­set­zen einer neo­ko­lo­nia­len pro­ka­pi­ta­lis­ti­schen Marionettenregierung.
  • Chi­na gewinnt den Zwei­ten Kal­ten Krieg. Fol­ge: Sturz der KPCh wahr­schein­lich. Chi­ne­si­sche Kapi­ta­lis­ten regie­ren aus eige­nem Recht.
  • Der Kapi­ta­lis­mus bricht im Welt­maß­stab zusam­men und der Gre­at Reset wird durch­ge­setzt. Chi­na geht zwangs­läu­fig zur Plan­wirt­schaft über und ent­eig­net die Kapi­ta­lis­ten. Chi­na wäre dann ein­zi­ge Hoff­nung in einer sich ver­düs­tern­den Welt.
  • Der Kapi­ta­lis­mus bricht im Welt­maß­stab zusam­men. Im Wes­ten set­zen sich sozia­lis­ti­sche Kräf­te durch, die die Kapi­ta­lis­ten ent­eig­nen und eine Plan­wirt­schaft ein­füh­ren. Chi­na wird sich die­ser Ent­wick­lung nicht ent­zie­hen kön­nen und ent­eig­net eben­falls sei­ne Kapitalisten.

Die Ent­wick­lung in Chi­na noch nicht end­gül­tig ent­schie­den. Im Augen­blick ist es wahr­schein­li­cher, dass sich der Kapi­ta­lis­mus end­gül­tig durch­setzt, als dass Chi­na erneut zum Sozia­lis­mus über­geht. Aber es ist auch nicht völ­lig aus­ge­schlos­sen. Die Hoff­nung stirbt bekannt­lich zuletzt.

Ver­wei­se

1 Els­ner 2020, a.a.O., S. 324

2 Vgl. Ernest Man­del: Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, Band 1, Frank­furt am Main 1972, S. 327

3 Vgl. Ernest Man­del: Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus, Frank­furt am Main 1974, S. 205ff.

4 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 469.

5 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 557.

6 Vgl. Ernest Man­del: Ein­füh­rung in den Mar­xis­mus, Frank­furt am Main 1998, S. 167ff.

7 Vgl. W.I. Lenin: Der Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus, Ber­lin 1988, S. 101f.

8 UNC­TAD, World Invest­ment Reports

9 Vgl. Man­del 1974, a.a.O., S. 205 und 234ff.

10 Röper 2022, a.a.O., Kapi­tel »Wel­che Rol­le spie­len Russ­land und China?«

Bild: Shang­hai (Pix­a­bay)

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