China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008) – Artikelserie zu China Teil XI

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Dies ist der elfte Teil einer umfassenden auf mehrere Teile angelegten Artikelserie von Jan Müller über China. Beinhalten wird die Serie folgende Teile:

  1. Das alte China (plus Einleitung)
  2. Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution
  3. Die Zweite Chinesische Revolution (1925 – 27)
  4. Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
  5. Der Chinesische Bürgerkrieg und die Dritte Chinesische Revolution (1945 – 49)
  6. Von der »neudemokratischen« zur sozialistischen Revolution
  7. Im Bündnis mit der Sowjetunion (1949 – 60)
  8. Großer Sprung nach vorne, Bruch mit der Sowjetunion und Kulturrevolution: Der Hochmaoismus (1958 – 69)
  9. Umkehr der Allianzen und Drei-​Welten-​Theorie: Der Spätmaoismus (1969 – 78)
  10. Erste Etappe der Wirtschaftsreformen und Putschversuch (1978 – 89)
  11. China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)
  12. Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008)
  13. China und Corona
  14. China und der Ukrainekrieg
  15. Schlussfolgerungen über den Charakter Chinas

Die Artikelserie als Broschüre mit weiteren Anhängen, Literaturverzeichnis und weiterführender Literatur kann man unter folgendem Link herunterladen: China: Ein langer Weg – wohin?

China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)

Das Epochenjahr 1989 markiert die welthistorische Niederlage des Sozialismus. Der Westen siegte im Kalten Krieg. Damit waren die USA um Größenordnungen mächtiger als zuvor. Sie waren nun die einzige Supermacht. Die Planwirtschaft war hoffnungslos diskreditiert.

Andererseits war China immer noch ein armes Agrarland. Eine Industrialisierung war jetzt umso notwendiger, da spätestens der Putschversuch von 1989 zeigte, dass der Westen massiv Einfluss auf China nehmen, die Herrschaft der KPCh stürzen und das Land in den Status einer Halbkolonie zurückverwandeln wollte. Nur mit einer starken Industrie könnte China diesen Angriffen widerstehen.

Deng Xiao-​ping stellte 1991 die These auf, dass der Kapitalismus noch Raum für seine Entwicklung habe. Er verfüge nach wie vor über die Fähigkeit, seine Widersprüche in Triebkräfte für die Entwicklung der Produktivkräfte umzuwandeln. Dies würde sich in absehbarer Zukunft nicht ändern. Man müsse vom Kapitalismus lernen, um den Sozialismus zu errichten.1

Das war die Maxime für die nun folgende chinesische Wirtschaftspolitik. Im Grunde genommen lief sie darauf hinaus, die eigene Arbeiterklasse dem internationalen Kapital zur Ausbeutung anzubieten. Allein die Gier dieses Kapitals verschaffte der Volksrepublik China ein kurzes Zeitfenster, um die überfällige Industrialisierung endlich durchführen zu können.

Angesichts des nach 1989 entstandenen Kräfteverhältnisses gab es dazu wohl keine Alternative. Der Westen war politisch und militärisch so stark, dass er vor Kraft kaum laufen konnte. Die wenigen nach 1989 noch planwirtschaftlichen Länder wie die KDVR und Kuba wurden brutalen Sanktionen unterworfen und ihre wirtschaftliche Entwicklung abgewürgt.

Im Jahr 1992 bezeichnete Generalsekretär Jiang Zemin das chinesische Wirtschaftsmodell als sozialistische Marktwirtschaft. Der XIV. Parteitag der KPCh erklärte im Jahr 1992, China befinde sich mindestens 100 Jahre (ab 1949) im Anfangsstadium des Sozialismus. Wichtigste Aufgabe sei die Entwicklung der Produktivkräfte und die Erreichung des gemeinsamen Wohlstandes.

Tatsächlich erfolgte eine starke inhaltliche Anlehnung an den neoliberalen Kapitalismus, an seine Wege, Methoden und in bestimmtem Maße sogar an das Ziel der Produktion, so Helmut Peters.2

Die neoliberale Wirtschaftswissenschaft eroberte eine feste Position in China und beeinflusste auch die Reformpolitik.3 Dementsprechend sahen die Maßnahmen nach 1989 auch aus:

Privatisierung: Der Anteil der Staatsbetriebe am BIP sank von 65 Prozent im Jahr 1985 auf ungefähr 25 Prozent im Jahr 2005. Die Jahre 2000 bis 2001 waren der Höhepunkt der Privatisierungswelle. 60,6 Prozent der neuen Eigentümer hatten die jeweiligen Unternehmen vorher im Auftrag des Staates geleitet. Für die Privatisierungen gab es keine Vorgaben. Häufig wechselten die Betriebe für einen Spottpreis. Teilweise wurde Staatseigentum richtiggehend verschleudert.4

Der staatliche Sektor wurde auf die Beherrschung von Schlüsselpositionen und Branchen konzentriert, die für die ökonomische Sicherheit des Staates entscheidend sind. Das Ziel war, moderne große Unternehmen zu schaffen, die ökonomisch auch international konkurrenzfähig sind. Staatliche Unternehmen konzentrierten sich auf die Bereiche der militärischen Industrie, Energieressourcen, Verkehr, Produktion schwerer Ausrüstungen und Erschließung wichtiger Erzvorkommen. Noch 2006 wurden fast die gesamte Produktion von Erdöl, Erdgas und Äthylen sowie die gesamte Telekommunikation von staatlichen Unternehmen erbracht. Auf sie entfielen 55 Prozent der Stromerzeugung, 100 Prozent der Stromerzeugung aus Kernenergie, 82 Prozent des Gesamtumschlags im zivilen Lufttransport, 89 Prozent des Güterverkehrs zu Wasser, 48 Prozent der Automobilproduktion, 60 Prozent der Produktion von Stahlmaterial von hoher Wertigkeit, 70 Prozent der Produktion von Ausrüstungen für Wasserkraftwerke und 75 Prozent der Ausrüstungen für Wärmekraftwerke. Auch die großen Geschäftsbanken blieben in staatlicher Hand.5

Um diese Betriebe fit für den Markt zu machen, wurden vor allem in den Jahren 1995 bis 98 alle nicht benötigte Arbeitskräfte, insgesamt 36 Millionen Menschen, kurzerhand entlassen. Das bewirkte eine drastische Zunahme der sozialen Unsicherheit und verhinderte ein ganzes Jahrzehnt lang weitere Lohnsteigerungen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf 10 Prozent hoch und blieb während der ganzen 00er ein großes soziales Problem. Der Kern der chinesischen Arbeiterklasse wurde wesentlich geschwächt. Auch der Staatsapparat wurde verkleinert und ausgedünnt.6

Alle staatlichen Unternehmen wurden ab 1997 in Aktiengesellschaften umgewandelt. Die bisherigen Verpflichtungen dieser Unternehmen zum Bau von Werkswohnungen, Schulen und Kindergärten für die Kinder der Betriebsangehörigen sowie die Versorgung der Pensionäre wurden ersatzlos gestrichen.7

Auslandskapital: Ab 1992 importierte Chinas große Mengen ausländischen Kapitals. Es wurde angelockt zunächst durch extrem niedrige Arbeitskosten und ab den 00er Jahren durch den wachsenden chinesischen Binnenmarkt. Kapitalisten aus allen westlichen Ländern verlagerten arbeitsintensive Industrien nach China. Transnationale Konzerne begannen Teile der chinesischen Wirtschaft in ihre Produktions- und Absatznetzwerke einzubauen.

Der Bestand ausländischer Direktinvestitionen in China entwickelte sich wie folgt:8

Der Bestand der ausländischen Direktinvestitionen stieg bis 2004 auf 306,4 Milliarden Dollar an. China war damit nach den USA zum zweitgrößten Importeur von Auslandskapital geworden. Das Auslandskapital war zu 70 Prozent im verarbeitenden Gewerbe konzentriert.

Der Anteil der Unternehmen mit ausländischem Kapital am chinesischen Außenhandel belief sich 2002 auf 52,5 Prozent. Freie Produktionszonen gab es nun nicht mehr. Das Auslandskapital konnte sich überall in China ansiedeln. Zunächst konzentrierten sich die Auslandsinvestitionen auf Betriebe der Lohnveredelung, wo Rohstoffe importiert und in China aufgrund der niedrigen Löhne nur besonders arbeitsintensive Tätigkeiten ausgeführt wurden. Anschließend wurden die Produkte wieder exportiert. In den 00er Jahren investierte das Auslandskapital zunehmend in Betriebe, die für den chinesischen Binnenmarkt produzierten. Häufig wurden die ausländischen Kapitalisten gezwungen, ein Joint Venture mit chinesischen Staatsbetrieben einzugehen. Damit einher ging auch ein Technologietransfer an die chinesische Seite.

Kommodifizierung: Mit der Auflösung der Volkskommunen im Jahr 1985 endete auch kostenlose Grundschulausbildung und medizinische Versorgung, so unvollkommen sie auch waren. Auch in den Städten wurden Krankenhäuser nun ausschließlich nach Marktgesichtspunkten betrieben.

In den 90er und 00er Jahren stiegen die Kosten für medizinische Behandlungen und Medikamente rapide an. Während die Löhne der Arbeiter in den Jahren zwischen 1985 und 2005 um das 20fache gestiegen sind, nahmen die Kosten für ärztliche Behandlung und Medikamente um das 200fache zu. Viele Bauern und Arbeiter konnten sich eine Krankenbehandlung schlicht nicht mehr leisten.9

Die staatlichen Ausgaben für das Bildungswesen waren noch im Jahr 2005 mit 2 Prozent des BIP außerordentlich niedrig. Auch der Besuch der neunjährigen Grund- und Mittelschule war wieder kostenpflichtig. Die Kosten für den Schulbesuch erhöhten sich geschwind. In den Jahren 2004/​2005 kostete der Besuch der Oberstufe der Mittelschule (9. bis 12. Klasse) 15.000 Yuan, die Studiengebühren einer normalen Universität betrugen für vier Jahre 40.000 bis 50.000 Yuan. Das durchschnittliche Jahreseinkommen für Bauern betrug 2005 3.200 Yuan. Diese Entwicklung förderte eine soziale Auslese unter den Studierenden zugunsten des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie.10

Die bisher staatlichen Wohnungen wurden in den 90er Jahren vollständig privatisiert. Die Verteilung von Wohnraum sollte der Markt übernehmen. Einzelne Unternehmen förderten den Erwerb von Wohnungen ihrer Angestellten durch Kredite oder Kreditbürgschaften.11

Allerdings wurden im Verlauf der 90er Jahre 150 Millionen Menschen aus der Armut geholt und damit die Armut im Lande halbiert. China war fast das einzige Land, das im neoliberalen Zeitalter eine Armutsreduktion in größerem Umfang erreichen konnte. Dem steht allerdings gegenüber, dass der Teile der bisher sozial gut abgesicherten Arbeiterklasse sowie Teile der Bauernschaft verarmten.12

Die Entlassungswelle der 90er Jahre zwang die KPCh, ein System der Sozialversicherung zu schaffen und zwar eine Arbeitslosen‑, Renten- und Krankenversicherung nach deutschem Vorbild. Allerdings erreichte dieses System bis zum Jahr 2003 nur 270 Millionen Menschen.13

Insgesamt wuchsen das Bruttoinlandsprodukt und auch Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 90er und 00er Jahren beträchtlich, wie folgende Tabellen zeigen:

Bruttoinlandsprodukt in Milliarden Yuan 1978 – 200414

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Yuan 1978 – 200415

Zwischen 1992 und 2002 konnte China bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 8,69 Prozent sein BIP um das 3,9 fache erhöhen. Die Wachstumsrate des BIP erreichte in dieser Zeit Spitzenwerte von 14,2 Prozent in einem Jahr. China rückte vom 10. auf den 6. Platz der größten Wirtschaftsmächte vor. Allerdings arbeiteten im Jahr 2004 immer noch 49 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Im selben Jahr trugen die Landwirtschaft 14,6 Prozent, die Industrie 52,2 Prozent und die Dienstleistungen 33,2 Prozent zum BIP bei.16

Mit dem Übergang zum Kapitalismus zog die auch Akkumulationsrate an. Sie stieg von 37,9 Prozent im Jahr 1978 auf 42,2 Prozent im Jahr 2003. Die Konsumtionsrate sank in dieser Zeit von 62,1 Prozent auf 57,8 Prozent.17

Die gewaltige Steigerung des BIP war aber zunächst noch nicht mit einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität verbunden, sondern das Wachstum war hauptsächlich extensiv. Der Ressourcenverbrauch war sehr hoch: Mit einem weltweiten BIP-​Anteil von 4 Prozent verbrauchte China 8 Prozent des Erdöls, 10 Prozent der Elektroenergie, 19 Prozent des Bleis und 31 Prozent der Kohle. Der Energieverbrauch für die Stahlerzeugung lag in China 40 Prozent über dem Weltdurchschnitt.18

In China nahm die Umweltverschmutzung stark zu. Größte Probleme waren die abnehmenden Trinkwasserreserven, die Zerstörung des Ackerbodens durch Erosion und Desertifizierung sowie die Luftverschmutzung. 16 der 20 Städte der Welt mit den größten Umweltproblemen lagen in China.19

Bereits im Jahr 2004 wurden in China 5,7 Millionen Kraftfahrzeuge produziert und 22,34 Millionen Computer (freilich nicht Computerprozessoren). Die Elektronik machte im Jahr 2002 schon 10,19 Prozent des BIPs aus. Ein Beispiel für einen schnellen Aufstieg war der chinesische PC-​Produzent Lenovo. Noch unter dem Namen Legend wurde 1990 der Nachbau von PCs begonnen. Sehr bald entwickelten die Techniker der Firma eigene Geräte für den chinesischen Markt. Am Ende des Jahre 2004 kaufte Lenovo die komplette Geräteproduktion von IBM auf. Nach Hewlett-​Packard und Dell war der chinesische Konzern nun mit einem Marktanteil von 8 Prozent, einem Umsatz von 12 Milliarden Dollar und 12 Millionen produzierten PCs im Jahr die Nummer drei in der Welt.20

Der Außenhandel Chinas entwickelte sich in den Jahren 1978 bis 2004 wie folgt (in Milliarden Dollar):21

China erreichte in den 90er Jahren einen großen Exportüberschuss und wurde im Jahr 2009 erstmals Exportweltmeister, also das Land mit dem größten Außenhandelsbeitrag. Wichtigster Handelspartner in dieser Periode waren die USA. Das Handelsvolumen USA – China hat enorm zugenommen, von 1 Milliarde US-​Dollar 1978 auf 285,3 Milliarden 2005. Das Gesamtvolumen der US-​Direktinvestitionen in China zwischen 1979 und 2005 betrug 51,1 Milliarden Dollar. Damit waren die USA nach Hong Kong der zweitgrößte Investor in China.22

Im Jahr 2001 trat China der Welthandelsorganisation WTO bei. Da die USA dort über ein Vetorecht verfügten, musste China im Vorfeld bei den Beitrittsverhandlungen bittere Zugeständnisse machen und zahlreiche Branchen für ausländische Investitionen öffnen, die eigentlich den Staatsunternehmen vorbehalten werden sollten, darunter der Bankensektor, der Versicherungsmarkt und die Telekommunikation. Der Regierung wurde es verboten, auf die wirtschaftlichen Entscheidungen der staatlichen Unternehmen Einfluss zu nehmen. Nach einer Übergangsfrist von 6 Jahren war es China ebenfalls verboten bei ausländischen Investitionen in bestimmte Branchen einen Technologietransfer zu verlangen. Die staatlichen Agrarsubventionen durften höchstens 8,5 Prozent der Produktionspreise erreichen. Das ist weniger, als die WTO bei Entwicklungsländern erlaubt. Die Vorteile des WTO-​Beitritts für China waren ein Schutz vor willkürlichen Sanktionen und handelspolitischen Strafmaßnahmen des Westens sowie Einflussmöglichkeit auf weitere Verhandlungen im Rahmen der WTO.23

Die WTO war vom Westen als ein Peripherisierungsinstrument angelegt, das die reibungslose Ausbeutung der Entwicklungsländer sicherstellen und deren Entwicklung verhindern sollte. Im Fall von China passierte jedoch das Gegenteil. Nach 2001 strömte massenhaft Auslandskapital ins Land und die Industrie erlebte einen großen Aufschwung.24

Mit den Reformen vergrößerten sich die regionalen Unterschiede. Lag das durchschnittliche BIP pro Kopf im Landesdurchschnitt bei der Indexzahl 100, so lagen 2002 die Werte für Ostchina bei über 200, für Mittelchina bei 88 und für Westchina bei 70.25

Die führenden Wirtschaftsgebiete lagen allesamt Ostteil des Landes: Die Region um Shanghai, das Perlflussdelta in der Provinz Guangdong und die Shandong-​Halbinsel nördlich von Shanghai.26

Auch die sozialen Unterschiede zwischen den Klassen nahmen rapide zu. Der GINI-​Index misst die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft. Er schnellte von 0,1 im Jahr 1978 auf 0,46 im Jahr 2002 hoch. China wurde damit zu einem der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit der Welt, nur vergleichbar mit Brasilien und ähnlichen Ländern in Lateinamerika.27

Die Klassenverhältnisse stellten sich in China im Jahr 2003 wie folgt dar.28

Zum Kleinbürgertum zählen selbständige Kleinunternehmer, die Intelligenz, Leitendes Management, Angestellte im Partei- und Staatsapparat, Führungskader und Freiberufler.

Die chinesische Sozialstruktur glich einer Pyramide. Zum breiten Sockel von 70 Prozent gehörten Bauern, Arbeiter – darunter Wanderarbeiter – und städtische Arme. Bei 30 Prozent war selbst die Ernährungs- und Kleiderfrage noch nicht gelöst.

Die Arbeiterklasse nahm in den 90er und 00er Jahren zahlenmäßig stark zu. Von den 275 Millionen Arbeitern waren allerdings 100 Millionen Wanderarbeiter mit geringeren Rechten. Sie durften sich in den Städten nicht fest ansiedeln, sondern nur für eine begrenzte Zeit dort arbeiten. Das bewirkte international unschlagbar niedrige Löhne. Der Anteil der Facharbeiter war dagegen mit 5 Prozent gering geblieben.

Mit der Einführung des Kapitalismus wurde die Arbeitskraft zu einer Ware und die soziale Unsicherheit nahm stark zu. Die stets drohende Arbeitslosigkeit führte zu einer deutlich längeren Arbeitszeit, mangelnder Unfallsicherheit, geringer Bezahlung und häufig sogar ausbleibende Lohnzahlungen. 72 Prozent der Wanderarbeiter arbeiteten 6 oder gar 7 Tage in der Woche. Eine Sozialversicherung wurde erst ab 1997 langsam aufgebaut.29

Die Einkommen haben sich zwar im Durchschnitt erhöht, die Preise aber auch. Während die wenigen Facharbeiter zu den Gewinnern der Reform gehörten, gehörte die Masse der ungelernten Arbeiter zu den Verlierern. Streiks und Protestaktionen der Arbeiter nahmen in den 00er Jahren immer mehr zu. Diese beschränkten sich jedoch auf einzelne Betriebe. Eine unabhängige überregionale Organisierung der Arbeiter wurde unterbunden.

Die Ansiedlungs- und Stadtplanungspolitik – darunter das System der Wanderarbeiter – verhindert zusammen mit dem leistungsfähigen Industriesektor immerhin die Entstehung von Slums. Die hieraus resultierende Stadtentwicklung glich daher nicht der Verstädterung im Süden, sondern dem Urbanisierungsmodell von Manchester, Berlin oder St. Petersburg im Zeitalter des Imperialismus.30

Auch die chinesische Bauernschaft war in den 90er Jahren sozial stark polarisiert. Eine kleine Zahl von Großbauern lieferte einen beträchtlichen Teil der landwirtschaftlichen Produkte für den Markt, beschäftigte Lohnarbeiter und hatte ein hohes Einkommen. Ein mittlerer Teil der Bauern stützte sich auf die familiären Arbeitskräfte und hatte ein relativ stabiles Einkommen. Für sie war das Problem von Nahrung und Kleidung gelöst. Die ärmsten Teile der Bauernschaft lebten am Rande des Existenzminimums und mussten sich zusätzlich als Lohnarbeiter verdingen.

Das Dorf war in jeder Hinsicht hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben. Analphabetentum und Armut waren in den 00er Jahren vor allem noch im Dorf verbreitet. Die Mehrheit der Bauern konnte es sich nicht mehr leisten, einen Arzt oder gar ein Krankenhaus aufzusuchen. Die soziale Unsicherheit im rückständigen Dorf schuf einen fruchtbaren Boden für das Wiederaufleben archaischer Ideologien und Sitten, traditioneller Religiosität und Aberglauben. Ein Beispiel hierfür ist die Falun Gong Sekte.31

Ursache dieser Entwicklung ist die dualistische chinesische Wirtschafts- und Sozialstruktur. Bereits seit Mitte der 50er Jahre schottete sich die Stadt vom Dorf ab und zog es zur Finanzierung der ursprünglichen Akkumulation der Industrie heran.32

Die Bauern wurden in den 90er Jahren von der örtlichen Macht mit dutzenden von willkürlichen Abgaben belegt; ihr Einkommen stagnierte oder ging zurück. Hiergegen wehrten sie sich mit teils gewaltsamen Protesten.33

Teile der Arbeiter und Bauern waren in den 00er Jahren immer noch arm und hatten oftmals nicht das allernötigste Geld für das tägliche Leben, geschweige denn für die Bildung ihrer Kinder und die Gesundheit.

22,6 Prozent der Bevölkerung gehörten zum Kleinbürgertum oder der Mittelschicht. Angehörige dieser Klasse waren bereits relativ wohlhabend. Dies zeigte sich im Besitz von modernen und größeren Wohnungen und von langlebigen Konsumgütern. Neue Möbel, Waschmaschinen, Kühlschränke, Farbfernseher, Telefon und Mobiltelefon, z.T. auch Computer und PKW waren bereits in Mittelklassehaushalten anzutreffen. Damit entstand ein attraktiver Markt für das internationale Kapital.34

Im Jahr 2003 gab es 3,4 Millionen registrierte privatkapitalistische Unternehmen, die von 6 Millionen Kapitalisten getragen wurden. Das Lohnniveau in diesen Betrieben war deutlich geringer als in Staatsbetrieben. Die Kapitalisten führten nur für 15 Prozent ihrer Beschäftigten Sozialversicherungsbeiträge ab und nur 2/​3 hatten überhaupt einen schriftlichen Arbeitsvertrag.

Im Jahr 2004 gab es 300.000 Dollar-​Millionäre in China, also Personen, die über ein Privatvermögen von umgerechnet mehr als einer Million Dollar verfügten.35

Die neue chinesische Kapitalistenklasse entstand als Klasse hauptsächlich im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation durch Aneignung von staatlichem Vermögen, Korruption, Ausnutzung von Gesetzeslücken, Umgehen von Steuern sowie unseriösen Marktpraktiken.36

Im Jahr 2002 erlaubte die KPCh offiziell den Eintritt von Kapitalisten in die Partei. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2003 sollen 33,9 Prozent aller kapitalistischen Unternehmer des Landes der KPCh angehören. Viele von ihnen waren vor der Privatisierung Leiter von staatlichen Unternehmen, die sie nun selbst besaßen.37

In den 00er Jahren nahm die Korruption von Parteikadern ungeahnte Ausmaße an. Die KPCh drohte, sich in einen reinen Machtapparat zu verwandeln. Die von der Parteiführung verbreitete Ideologie des marktwirtschaftlichen Sozialismus schien niemanden zu überzeugen.38

In den 70er Jahren schloss die Volksrepublik China ein Bündnis mit den USA, um den »sowjetischen Expansionismus«, also die Ausbreitung der Weltrevolution, zu kontern. Als die Sowjetunion in den 80er Jahren schwächer wurde, löste sich die Volksrepublik China aus dem engen Bündnis mit den USA und praktizierte eine Schaukelpolitik zwischen den beiden Supermächten.

Das war nach 1989 nicht mehr möglich. China musste sich – ob es wollte oder nicht – erneut an die USA anlehnen. Denn das Land benötigte den riesigen US-​Markt als Ziel für seine Exporte. Die von den USA kontrollierten internationalen Finanzmärkte mussten »Vertrauen« in die Volksrepublik China fassen, um Kapital dorthin zu exportieren.

China verabschiedete sich deshalb praktisch für zwei Jahrzehnte von einer aktiven Außenpolitik. Das Land folgte nun den von Deng Xiao-​ping im Jahr 1993 aufgestellten vier Prinzipien:

  1. Keine Konfrontation wünschen.
  2. Keine Konfrontation provozieren.
  3. Sich nicht konfrontieren.
  4. Sich vor Sanktionen nicht ängstigen und sich ihnen nicht widersetzen.39

Die chinesische Führung hatte sich entschieden ein Teil der von den USA dominierten globalen Ordnung zu sein und allenfalls von einem immanenten Standpunkt aus Alleingänge der USA als der natürlichen Führungsmacht des Imperiums zu kritisieren. Noch am 17. März 2011 erlaubte China durch seine Enthaltung in UN-​Sicherheitsrat das Inkrafttreten der UN-​Resolution 1973 und damit die absehbare Zerstörung des libyschen Staates.

Kommentatoren setzten das Schlagwort von »Chinmerica« in die Welt. Es ist eine Anspielung an den Begriff Chimäre und sollte eine symbiotische Beziehung zwischen der Volksrepublik China und den USA ausdrücken. China braucht die USA als Absatzmarkt für seine Produkte und die USA brauchen China als Käufer für ihre Staatsanleihen, wodurch der Supermachtstatus gesichert bleibt.

Trotzdem konnte China in den 90er Jahren einen bedeutenden außenpolitischen Erfolg verbuchen: Am 1. Juli 1997 wurde die britische Kronkolonie Hong Kong an China zurückgegeben. Das Land darf sein kapitalistisches System 50 Jahre lang behalten. Am 19. Dezember 1999 folgte die portugiesische Kolonie Macao unter den gleichen Bedingungen.40

Auch gab es Gegentendenzen, die im Westen aber zunächst nicht wahrgenommen wurden: Seit dem Jahr 2007 spricht China von einer multipolaren Welt als Ausdrucke eines internationalen Kräftegleichgewichts. Damit wird implizit der Weltherrschaftsanspruch der USA und des Westens im Allgemeinen zurückgewiesen.41

In dieser Zeit hat die Volksrepublik China ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den Entwicklungsländern in Asien, Lateinamerika und vor allem in Afrika wesentlich verstärkt. Chinesisches Ziel war die Sicherung des Rohstoffbedarfs, aber die Länder hatten auch ähnliche politische Interessen. Vor allem setzten sie sich für eine neue Weltwirtschaftsordnung ein. Dieses Konzept sah unter anderem höhere und berechenbare Preise für Rohstoffe vor.

China hatte Ende 2006 1,6 Milliarden Dollar in 49 afrikanischen Ländern investiert und dort rund 800 Unternehmen gegründet. An den regelmäßig stattfindenden chinesisch-​afrikanischen Gipfeltreffen nahmen regelmäßig die Staatschefs Chinas und fast aller afrikanischer Staaten teil.42

Im Unterschied zum Westen stellte China keine politischen Bedingungen für den Handel mit den Entwicklungsländern. Die Handelsbeziehungen basieren auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und des gemeinsamen Nutzens. In der Praxis findet ein Tausch von Rohstoffen gegen die Lieferung von Industrieanlagen sowie Projekten im Bereich der Landwirtschaft, der Infrastruktur und des Gesundheits- und Bildungswesens statt. Auch kam es zu Schuldenstreichungen. Die afrikanischen Länder bekamen zudem zollfreien Zugang zum chinesischen Markt. Außerdem bildete China bis 2007 15.000 Afrikaner an seinen Universitäten aus.43

Damit trug China dazu bei, dass sich viele afrikanische Länder von den neoliberalen Schocks der 80er und 90er Jahre erholen konnten und ihre Wirtschaft langsam wieder zu wachsen begann. Peters resümiert:

Die ökonomische Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China vergrößert objektiv die Möglichkeit der Länder der Dritten Welt, sich aus dem System der neokolonialen Ausbeutung durch den Westen zu befreien und einen eigenständigen Weg des sozialen Fortschritts zu gehen.44

Deng sagte bekanntlich im Jahr 1991, der Kapitalismus hätte noch nicht seine Fähigkeit verloren, Widersprüche produktiv zu lösen. Dies ist eine empirische Feststellung, aber keinesfalls eine tiefschürfende ökonomische Analyse basierend auf dem Marxismus. Viele Linke waren in den 80er Jahren geblendet von der militärischen und politischen Stärke des Westens. Tatsächlich aber war in diesem Jahrzehnt seine wirtschaftliche Situation nicht gerade berauschend. Die Profite in der Industrie waren niedrig, an den Börsen häuften sich Kurseinbrüche, so zum Beispiel am schwarzen Montag, dem 19. Oktober 1987, wo der Dow-​Jones-​Index innerhalb eines Tages um 23 Prozent fiel.

Diese Situation änderte sich erst mit der welthistorischen Niederlage des Sozialismus im Jahr 1989. Mit einem Schlag strömten in den 90er Jahren in Osteuropa, Russland und China mehrere 100 Millionen Menschen auf den globalen Arbeitsmarkt, so dass der Wert der Ware Arbeitskraft rapide sank. Unternehmen verlagerten besonders arbeitsintensive Produktionen nach China, wo die Arbeitskraft unschlagbar billig war. Andere Produktionen, die zum Beispiel Metallfacharbeiter verlangten, wurden nach Osteuropa verlagert. Auch hier waren die Löhne sehr niedrig. In den westlichen Staaten blieben häufig nur noch Forschungsabteilungen und bestenfalls noch Werke für die Endmontage. Aber auch hier wirkte die Drohung mit Betriebsverlagerungen ins Ausland und setzte die Arbeiter und Gewerkschaften massiv unter Druck.

Teile der westlichen Industrieproduktion wurden stillgelegt, zum Beispiel im Ruhrgebiet. Ein Lohngefälle von 1 zu 20 führt dazu, dass die Industriebasis der westlichen Länder stark schrumpfte. Industriearbeitsplätze wurden von China geradezu abgesaugt. Die westlichen Ökonomien nahmen zunehmend parasitäre Züge an. So sind zwischen 1997 und 2003 allein in den USA drei Millionen Industrie-​Arbeitsplätze verloren gegangen.45

Die konkurrierenden Kapitalinteressen wurden nun nicht mehr nur von den Nationalstaaten gebündelt. Quer zu diesen dehnt sich die Herrschaft des transnationalen Kapitals aus, die von den Einrichtungen der Weltmarktregulation flankiert ist und als deren bewaffneter Arm das US-​Militär und die NATO fungiert. Das US-​Imperium ist das Imperium des transnationalen Kapitals. Den nationalen Regierungen weist es die Aufgabe zu, den Gesetzen des Weltmarktes und den Ansprüchen des Finanzkapitals und der transnationalen Konzerne im Lande Geltung zu verschaffen.46

Koordiniert wurden die zahlreichen, nun über die ganze Welt nach Profitgesichtspunkten verstreuten Firmen durch das Internet. Es entstanden Netzwerkfirmen, wo Spitzenunternehmen eine strikte Kontrolle der weltweit fragmentierten Produktionsprozesse ausüben.

  1. An der Spitze des Netzwerks steht das Hauptunternehmen, welches sich auf Kernkompetenzen wie Produktentwicklung, Design, Endmontage (manchmal), Vertrieb und zunehmend auf Dienstleistungen wie Kreditgewährung, Leasing, Versicherungen, Wartungsverträge etc. konzentriert.
  2. In geographischer Nähe dazu findet sich eine Reihe von primären Zulieferern (Automobilindustrie) beziehungsweise Kontraktfertigern (Computerindustrie). Sie sind bezogen auf die hergestellte Produktgruppe selbst verantwortlich für Forschung und Entwicklung, beziehungsweise für Prozessinnovationen. Die in Konkurrenz zueinander stehenden Unternehmen entwickeln Formen der Kooperation, zum Beispiel gemeinsame Infrastrukturen, Produktionsstandards oder gemeinsame Forschung und Entwicklung. Diese Subunternehmen können noch einen relativ großen Teil des bei ihnen produzierten Mehrwerts für sich beanspruchen.
  3. Primäre Zulieferer beziehungsweise Systemlieferanten greifen zurück auf ein Netzwerk von sekundären Zulieferern, die Einzelteile kostengünstig fertigen. Geordert wird dort, wo die günstigste Kostenstruktur bei vorgegebenen Qualitätsstandards zu finden ist. Die hierarchisch strukturierten Beziehungen zwischen Abnehmern und Zulieferern in vertikal dezentralisierten Formen von Netzwerken erlauben es großen Unternehmen, Lieferverträge zu einem Preis abzuschließen, der den von den Zulieferern produzierten Mehrwert zum Großunternehmen transferiert. Die Kontrolle wird, anders als bei den »verlängerten Werkbänken« des Fordismus, nicht länger über Produktions‑, sondern über Qualitäts- und Preisvorgaben ausgeübt. Die konkurrierenden sekundären Zulieferer können selbständig entscheiden, wie sie die Vorgaben umsetzen. Sie stehen unter dem Druck, die geringen Gewinnspannen durch niedrige Lohnkosten auszugleichen. Diese Form der Einbindung in Produktionsnetzwerke lässt Abhängigkeiten entstehen, ohne dass eine juristische oder finanzielle Verflechtung zwischen den Unternehmen bestehen würde.47 Solche sekundäre Zulieferer finden sich besonders in Niedriglohnländern wie Mexiko oder in den 00er Jahren in China.

China musste sich also fürs Erste mit seiner Position am unteren Ende der Wertschöpfungskette abfinden als Billiglohnland, das seine Massenwaren gegen Hochtechnologiegüter austauscht oder seine Arbeitskräfte ausländischem Kapital zur Ausbeutung anbietet.

Vier Fünftel des in China produzierten Wertes werden nach Haug im Westen realisiert.48 Die Profite in der Industrie stiegen deshalb im Verlauf der 90er Jahre beträchtlich an. Die Börsen traten in eine neue Boomphase ein, zunächst spekulierten sie mit Computer- und Internetfirmen (Dotcom-​Blase bis 2001), dann mit Immobilien bis 2007.

Der globale Kapitalismus hat in den 90er Jahren tatsächlich einen großen Aufschwung erlebt. Er trat in eine neue lange Welle mit expandierendem Grundton ein, die bis 2007 dauerte. Das lag aber vor allem daran, dass besonders durch die Öffnung Chinas die Profitraten global nach oben schossen.

Viel brachliegendes Kapital wurde nun im Bereich der Computerindustrie, der Telekommunikation und des Internet angelegt. Die Produktivkräfte wurden erneut umgewälzt. Damit wurde auch eine massive Verschärfung der geistigen Eigentumsrechte möglich, die dem Kapital neue rentenartige Einnahmen bescherten. Die neuen Techniken nutzten damit vor allem den Kapitaleignern und weniger den Beschäftigten. Der unabhängige Tausch von Inhalten etwa über Tauschbörsen wie Napster wurde brutal mit Hilfe der Staatsmacht unterbunden. Auch fand eine neue Landnahme des Kapitals statt durch Expansion in Bereiche, die ihm bisher nicht offenstanden (Gesundheit, Bildung, Wohnen etc.).

Angesichts der realen politischen, ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnisse nach der Niederlage des Sozialismus hatte China freilich kaum eine andere Wahl, als so zu handeln, wie das Land gehandelt hat. Die Ideologisierung dieser Entwicklung könnte sich allerdings in Zukunft als eine schwere Hypothek erweisen, auch dann, wenn sich die Kräfteverhältnisse wieder ändern sollten. Insbesondere die Aufnahme von Kapitalisten in eine marxistisch-​leninistische Regierungspartei ist hochproblematisch. Haben sie doch so die Möglichkeit, alle für sie relevanten Entscheidungen von innen zu beeinflussen.

In den 00er Jahren dachten viele Menschen, die Entwicklung in China sei gelaufen. Es schien so, als habe sich hier der neoliberale Kapitalismus vollumfänglich durchgesetzt. Dieser Eindruck wurde von interessierten Kreisen bewusst geschürt, zum Beispiel durch den Dokumentarfilm China Blue von 2006, der brutale Ausbeutungspraktiken in einer privatisierten Textilfabrik zeigt, die an frühkapitalistische Zustände erinnern. Dieser Film wurde in den Festivalzyklus eingespeist, bevor er im Fernsehen zu sehen war. Er richtete sich zunächst mit einer großen Werbekampagne speziell an Linke, zum Beispiel an Attac-​Ortsgruppen. Das in China Blue gezeigte abstoßende China-​Bild geistert noch in den Köpfen vieler Menschen herum.

Zunächst schien es so, als würde sich auch personell alles in Richtung Neoliberalismus entwickeln und das Bekenntnis der KPCh zum Sozialismus wäre zu einer reinen Ideologie verkommen. Deng Xiao-​ping starb 1997 im Alter von 92 Jahren. Auf ihn folgte der Generalsekretär Jiang Zemin als oberster Repräsentant Chinas. Auf dem XV. Parteitag, der im Dezember 1997, also nach Dengs Tod, abgehalten wurde, rückten zahlreiche Parteikader aus Shanghai in Führungspositionen auf. Diese Angehörigen der später so genannten Shanghai-​Gruppe, allen voran Jiang Zemin, hatten die neoliberale Ideologie in besonders hohem Maße verinnerlicht.49

Im Jahr 2002 wurde jedoch Hu Jintao zum Generalsekretär der KPCh gewählt. Er sah seine wichtigste Aufgabe darin, die zunehmende soziale Polarisierung nicht weiter eskalieren zu lassen und gab das Programm der »harmonischen Gesellschaft« aus. Zunächst dachten viele, das sei reine Propaganda, da sich in der Praxis nicht viel änderte. Allerdings hätte ein Aspekt doch stutzig machen sollen: Neoliberale Politiker geben grundsätzlich keine sozialen Versprechungen ab, sondern rechtfertigen die soziale Ungleichheit. Erst mit der Weltwirtschaftskrise 2007/​08 zeigte sich, dass das auf Export ausgerichtete Akkumulationsmodell Chinas an sein Ende gelangt war. Erst jetzt steuerte der Staatsapparat energisch um in Richtung auf eine binnenmarktzentrierte Entwicklung. Die harmonische Gesellschaft war doch ernst gemeint.

Verweise

1 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 410

2 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 486

3 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 486

4 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 476ff

5 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 479

6 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 459

7 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 459

8 Vgl. Helmut Peters: China zwischen Gestern und Morgen, isw-​Report Nr. 61, 2005, S. 20

9 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 497

10 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 499

11 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 461

12 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 473

13 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 17

14 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 7

15 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 7

16 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 8

17 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 24

18 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 493

19 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 493

20 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 10

21 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 13

22 Vgl. Hyekung Cho: Die USA – Ein unbequemer Patron für Chinas Wirtschaftswunder, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Großer Widerspruch China, Das Argument Buch 268, Berlin 2006, S. 42

23 Vgl. Cho a.a.O., S. 44, Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 490ff

24 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Großer Widerspruch nach vorn? in: in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Großer Widerspruch China, Das Argument Buch 268, Berlin 2006, S. 3

25 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 12

26 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 12

27 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 25

28 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 29

29 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 29

30 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 33

31 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 30

32 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 30

33 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 483

34 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 15

35 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 16

36 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 25

37 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 30

38 Vgl. Peters 2005 a.a.O., S. 30

39 Vgl. Cho a.a.O., S. 43

40 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 449

41 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 536

42 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 541

43 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 542

44 Peters 2009 a.a.O., S. 543

45 Vgl. Haug .a.a.O., S. 4

46 Vgl. Haug .a.a.O., S. 6

47 Vgl. Mario Candeias: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie, Hamburg 2004, S. 169ff

48 Vgl. Haug .a.a.O., S. 4

49 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 458

Bild: Deng Xiaoping 1985 im Gespräch mit Staatsgast Hans-​Dietrich Genscher. Bundesarchiv, B 145 Bild-​F071362-​0014 /​Wienke, Ulrich /​CC-​BY-​SA 3.0

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