Dies ist der vierte Teil einer umfassenden auf mehrere Teile angelegten Artikelserie von Jan Müller über China. Beinhalten wird die Serie folgende Teile:
- Das alte China (plus Einleitung)
- Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution
- Die Zweite Chinesische Revolution (1925 – 27)
- Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
- Der Chinesische Bürgerkrieg und die Dritte Chinesische Revolution (1945 – 49)
- Von der »neudemokratischen« zur sozialistischen Revolution
- Im Bündnis mit der Sowjetunion (1949 – 60)
- Großer Sprung nach vorne, Bruch mit der Sowjetunion und Kulturrevolution: Der Hochmaoismus (1958 – 69)
- Umkehr der Allianzen und Drei‐Welten‐Theorie: Der Spätmaoismus (1969 – 78)
- Erste Etappe der Wirtschaftsreformen und Putschversuch (1978 – 89)
- China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)
- Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008)
- China und Corona
- China und der Ukrainekrieg
- Schlussfolgerungen über den Charakter Chinas
Die Artikelserie als Broschüre mit weiteren Anhängen, Literaturverzeichnis und weiterführender Literatur kann man unter folgendem Link herunterladen: China: Ein langer Weg – wohin?
Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
Mao Tse‐tung nahm am ersten Parteitag der KPCh teil und wurde zwei Jahre später, also 1923, in das Zentralkomitee gewählt. 1925 wurde er aber nicht mehr wiedergewählt. Wegen heute nicht mehr nachvollziehbarer Differenzen mit der Parteimehrheit zog er sich 1926 in seine Heimatprovinz Hunan zurück. Schnell erkannte er die revolutionären Möglichkeiten der Bauernbewegung, die im Zusammenhang mit der zweiten Chinesischen Revolution aufgekommen war. Bauern in zahlreichen Provinzen gingen dazu über, die Pacht zu verweigern oder sogar spontan die Güter der Großgrundbesitzer aufzuteilen.[1]
Diese Erfahrungen verarbeitete Mao in seinem Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan vom Februar 1927. Dort fordert er allerdings entsprechend der Parteilinie vorerst nur Pachtsenkungen, nicht aber eine Landumverteilung.
Auf dem 4. Parteitag im April 1927 trat Mao als Leiter der Bauernabteilung für eine radikalere Landpolitik ein. Er befürwortete jetzt eine generelle Aufteilung des Bodens der großen Grundbesitzer. Diese Forderung lehnte die KPCh jedoch aus Rücksicht auf die Kuomintang ab.[2]
In den folgenden Jahren entstand ein chinesisches Sowjetgebiet zunächst im Jinggangshan‐Gebirge an der Grenze von Hunan und Jiangxi südlich von Shanghai.[3] 1933 umfassten die Sowjetbezirke große Teile von Jiangxi und weite Teile von Fukien und Hunan. Es gab zudem noch kleinere Sowjetgebiete in den Provinzen Hunan, Hubei, Honan, Anhui, Sichuan und Shaanxi.[4] Das zentrale Sowjetgebiet nahm 1931 bereits 50. bis 60.000 Quadratkilometer ein und hatte eine Bevölkerung von 5 bis 6 Millionen Menschen.[5]
Das Land wurde neu verteilt und die Steuern herabgesetzt. Es gab zudem über 1.000 handwerkliche Sowjetkooperativen allein in Jiangxi.
Arbeitslosigkeit, Opiumsucht, Prostitution, Sklavenhandel mit Kindern, Zwangsheiraten und Füßeeinbinden wurden beseitigt. Es wurde eine große Alphabetisierungskampagne gestartet. Im fortschrittlichsten Bezirk Hsing Ko konnten 1933 bereits 80 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben.
Großgrundbesitzer, die Verbrechen begangen hatten, wurden vor ein Volksgericht gestellt und häufig hingerichtet.[6]
Im Jahr 1931 wurde Mao Tse‐tung zum Präsidenten der Chinesischen Sowjetrepublik gewählt.[7]
Die Partei hatte zunächst Schwierigkeiten, zu bestimmen, wie genau die Landaufteilung durchgeführt werden soll. Sollte auch das Land der reichen Bauern aufgeteilt werden? Sollen Grundherren auch Land bekommen und wenn ja, welches? Sollte eine Aufteilung nach Kopfzahl der Familie erfolgen oder nach Arbeitskräften? Was ist mit Soldaten der Roten Armee?
Eine Konferenz vom 7. Februar 1930 in Jiangxi bestimmte, dass generell alles Land nach der Anzahl der Personen in einer Familie gleichmäßig umzuverteilen ist. Das bedeutete, es wird auch Land der reichen und teilweise sogar der mittleren Bauern in die Verteilung einbezogen. Aber auch diese sollen Land bekommen. Der Verkauf von Land wurde verboten und alles Land wurde nationalisiert. Die Bauern bekamen nur Besitzrechte. Diese radikalen Maßnahmen wurden später etwas abgemildert.[8]
Chiang Kai‐shek führte zwischen 1930 und 34 vier Ausrottungs‐ und Vernichtungsfeldzüge gegen die Sowjetgebiete durch und zwar mit jeweils mehreren 100.000 Soldaten. Die rasch aufgestellte Rote Armee war zahlenmäßig weit unterlegen, konnte aber diese Angriffe allesamt zurückschlagen. Zunächst wurden die Weißen, also die Soldaten Chiangs tief in die Rätegebiete gelockt und dann unter exzellenter Ausnutzung des Terrains überraschend angegriffen. Bei diesen Angriffen wurde durch geschickte Schwerpunktbildung ein lokales Übergewicht der eigenen Kräfte erreicht.
Erleichtert wurde die Strategie durch die niedrige Kampfmoral der weißen Truppen, die sich häufig den Roten anschlossen.
Diese Entwicklung hatte Folgen für die Partei. Denn ab 1928 war die KPCh de facto in zwei Teile gespalten.
Ein Teil war konspirativ in den weißen Zonen aktiv, also in Gebieten, die sich in der Gewalt von Chiang Kai‐schek oder anderen Generäle befanden.
Die übrige Partei kämpfte an der Spitze der hauptsächlich aus Bauern bestehenden Armeen gegen die Heere Chiangs und später der Japaner. Sie befand sich in den ländlichen Gebieten, wo sie eine von der chinesischen Bourgeoisie unabhängige Macht ausübte.
Die Partei wurde in den weißen Zonen nach wenigen Jahren fast völlig aufgerieben. In den roten Zonen sammelten sich die späteren Führer der Volksrepublik China unter Mao: Zhu De, Peng Dehuai, Lin Biao, He Long und Zhou Enlai.[9]
Die Rote Armee und die Kommunistische Partei bestanden in den Rätegebieten fast nur noch aus Bauern. Industriearbeiter gab es dort kaum. Ein Hinweis hierauf gibt die soziale Zusammensetzung der Delegierten des zweiten Allchinesischer Rätekongresses vom Januar 1934. Ihm gehörten an: 8 Industriearbeiter, 244 Handwerker, 53 Kulis, 2 Handlungsgehilfen, 122 Landarbeiter, 303 arme Bauern, 25 mittlere Bauern und 64 Händler.[10]
Diese Bauern hatten weder ein Interesse noch die Möglichkeit, die Führung zu kontrollieren. Sie waren politisch unerfahren und zunächst noch Analphabeten. Ihr Hauptinteresse richtete sich auf die Verteilung des Grund und Bodens, also die Agrarrevolution. Für sie war der Marxismus‐Leninismus eine Methode, die Grundherren zu schlagen. Eine Guerillabewegung bietet zudem keine guten Voraussetzungen für den demokratischen Zentralismus.[11]
Zwischen 1921 und 27 gab es in der Partei noch kontroverse Diskussionen, obwohl man sich letztlich der Komintern unterordnete. Nach 1929 spielten sich Auseinandersetzungen innerhalb der KPCh nur noch innerhalb der Führungsgruppe ab. Es gab Differenzen zwischen Mao Tse‐tung und dem mehr auf die Städte orientierten Wang Ming. Da aber die Partei in den Weißen Gebieten nach wenigen Jahren völlig zerschlagen wurde, siegte Mao.[12]
In den 30er und 40er Jahren entstanden zahlreiche klassische Werke von Mao Tse‐tung, die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann. Hier eine Auswahl:
- Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan (März 1927)
- Theorie des Guerillakrieges (Zusammengestellt aus Strategie des chinesischen revolutionären Krieges vom Dezember 1936 und weiteren Schriften)
- Über die Praxis (Juli 1937)
- Über den Widerspruch (August 1937)
Im Oktober 1933 rüstete Chiang Kai‐shek zum fünften Ausrottungs‐ und Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetgebiete. Er stellte hierfür etwa 900.000 Mann auf. Die Rote Armee konnte nur 180.000 Mann mobilisieren. Hinzu kamen allerdings 200.000 Guerillas. Sie besaß aber nur 100.000 Gewehre, hatte keine schwere Artillerie und nur einen beschränkten Vorrat an Munition. Chiang hatte mehr als 400 Kriegsflugzeuge, die Roten nur wenige erbeutete Flugzeuge, die aber wegen Benzinmangels nur selten fliegen konnten.
Anstatt in das Gebiet der Roten einzudringen, was diesen die Möglichkeit gegeben hatte, die Weißen aus dem Hinterhalt anzugreifen und sie auszumanövrieren, setzten diese nun auf Belagerung und eine totale Wirtschaftsblockade. Auf den Rat des deutschen Generals von Falkenhausen bauten sie tausende kleiner hölzerner Befestigungen, die sich wie ein Ring um die roten Gebiete legten. Die Weißen wagten sich nur bei guter Deckung durch Artillerie und Flugzeuge aus diesen Festungen hinaus und verlegten sie langsam, aber systematisch nach vorne. Auf diese Weise wurde auch der niedrigen Kampfmoral der Weißen Truppen Rechnung getragen.
Diese Strategie erwies sich als erfolgreich. Die Rote Armee erlitt bei der Verteidigung der Sowjetgebiete hohe Verluste. Es zeigte sich, dass sich ihre Stellung in Südchina nicht mehr lange halten ließ. Eine Militärkonferenz in Ruijin beschloss den Rückzug aus dieser Region und am 16. Oktober 1934 wurde der Befehl für den Langen Marsch gegeben.[13]
90.000 Menschen, Männer und Frauen, machten sich auf den Weg. Der erste Schritt war die Durchbrechung der Befestigungslinie im Südwesten der Provinz Jiangxi an der Grenze zu Hunan und Guangdong.
Nachdem die Hauptstreitkräfte der Roten Armee evakuiert waren, vergingen noch viele Wochen, bis die Nanking‐Truppen die wichtigsten Roten Stützpunkte besetzen konnten. Tausende von Roten Bauernmilizen setzten den Guerillakrieg fort. Nach der Wiedereroberung von Bezirken und Kreisen verübten die Weißen regelmäßig Massaker an den Bauern. Die Kuomintang gab in der eigenen Presse zu, dass nach der Eroberung des sowjetischen Jiangxi 1.000.000 Menschen getötet wurden. Es können aber durchaus noch viel mehr gewesen sein.[14]
Die Roten mussten insgesamt vier Verteidigungslinien der Chiang‐Truppen durchbrechen. Die erste wurde am 21. Oktober genommen, die zweite in Hunan am 3. November, eine Woche später fiel die dritte und 29. November nach extrem blutigen Kämpfen die vierte in Guanxi.
Anschließend wollten die Roten nach Sichuan marschieren. Allerdings boten Chiang Kai‐shek und die Militärmachthaber der Provinzen mehr als 110 Regimenter gegen sie auf. Die Roten kämpften in neun Schlachten und erlitten schwere Verluste. Als sie die Grenze der Provinz Guizhou erreichten, war ihre Zahl auf 30.000 reduziert.
Deshalb veränderten sie ihre Taktik. Die Vorhuten begannen eine Reihe von Ablenkungsmanövern und die Hauptstreitkräfte marschierten des Nachts, so dass sie von Flugzeugen nicht mehr angegriffen werden konnten.
Ursprünglich wollte die Rote Armee den Jangtsekiang westlich von Chongqing überqueren. Da aber Chiang Kai‐shek dort mehrere 100.000 Mann konzentrierte, machten die Roten kehrt und marschierten wieder nach Süden. In Guizhou besiegten sie den Warlord General Wang, nahmen seinen Palast ein, besuchten zahlreiche Dörfer und Städte der Provinz, wobei sie Massenversammlungen einberiefen und die Jugend organisierten. Sie rekrutierten 200.000 Mann vor allem für Guerillaeinheiten.
Die Rote Armee versorgte sich, in dem sie Vorräte der Reichen – Grundbesitzer, Beamten, Bürokraten – beschlagnahmte. Große Teile dieser Vorräte verteilte sie an die Armen.
Auf der einer erweiterte Konferenz des Politbüros der KPCh in Zunyi in der Provinz Guizhou vom 15. bis 17. Januar 1935 mitten auf dem Langen Marsch wurde Mao Tse‐tung unter heute nicht mehr nachvollziehbaren Umständen zum Vorsitzenden der Partei gewählt.
Im Mai 1935 zog die Rote Armee durch die Südprovinz Yunnan. Sie marschierte nur zehn Kilometer an der Provinzhauptstadt Kunming vorbei. Dann wendete sie sich wieder nach Norden, um endlich den Jangtsekiang zu überqueren. Hier fließt er durch tiefe Schluchten, wo die Felswände kilometerweit aufragen. Es gibt überhaupt nur ganz wenige Stellen, wo man den Fluss überqueren kann. In einem Gewaltmarsch näherte sich die Rote Armee der Festung Chou‐Ping. Mit erbeuteten Nanking‐Uniformen betrat ein Bataillon der Roten in der Dämmerung ohne Aufsehen zu erregen die Stadt und entwaffnete in aller Stille die Garnison.
Boote gab es jedoch nicht. Sie waren befehlsgemäß an das Nordufer gebracht aber nicht zerstört worden. Nach Einbruch der Dämmerung begleiteten die Roten einen Beamten und zwangen ihnen, den Wachen am Nordufer zuzurufen, dass Regierungstruppen angekommen seien und ein Boot bräuchten. Wider Erwarten wurde eines hinüber gerudert. In dieses Boot stieg eine Abteilung »Nanking‐Soldaten«, die bald am Nordufer landeten. Diese betraten dort die Garnison, überraschten die Wachen und nahmen den Mah‐Jongg spielenden Soldaten kampflos ihre zusammengestellten Waffen ab.
Die Überquerung des Jangtsekiang war jetzt einfach. Sechs Boote arbeiteten ununterbrochen neun Tage lang. Die ganze Armee wurde ohne Verluste nach Sichuan transportiert.[15]
Ein weiteres Hindernis war der Tatu‐Fluss, ein Nebenflusses des Jangtsekiang weiter nördlich. Hier stand das Schicksal der Roten Armee auf des Messers Schneide. Gelang es ihr nicht, diesen Fluss zu überqueren, würde sie vermutlich von den sie verfolgenden Weißen vernichtet werden.
Zunächst einmal kam die Rote Armee in das Gebiet der Volksgruppe der Lolos, heute Yi genannt. Diese Lolos waren niemals besiegt worden und sie hassten die Chinesen. Allerdings gelang es dem roten Kommandanten Lio Po‐cheng in Verhandlungen mit den Stammeshäuptlingen ein Bündnis zustande zu bringen. Die Lolos waren gegen die Warlords und die Kuomintang. Die Lolos wollten in Unabhängigkeit leben, die Roten befürworteten die Autonomie der nationalen Minderheiten. Die Lolos hassten die Chinesen, weil sie von ihnen unterdrückt wurden, aber es gab weiße und rote Chinesen und es waren die Weißen, die die Lolos immer getötet und unterdrückt hatten. Sollten sich die Roten Chinesen und die Lolos nicht gegen ihre gemeinsamen Feinde, die Weißen Chinesen vereinigen? Um zu testen, ob die Roten es ernst meinen, baten die Lolos um Waffen, die ihnen die Roten umstandslos aushändigten.
Das Bündnis wurde geschlossen und die Rote Armee konnte ungehindert durch die tiefen Wälder von Lololand ziehen. Sie tauchte anschließend völlig überraschend vor der Flussstadt Anschungtschang auf. Zudem war eine der drei Fähren sogar am Südufer befestigt.
Die Rote Armee konnte die nur mit schwachen weißen Kräften besetzte Stadt im Handstreich einnehmen. Auch das Boot konnte erobert werden. Wie sich später herausstellte, hatte der Regimentskommandeur entgegen einem ausdrücklichen Befehl des Warlords Liu Wen‐hui nach Anschungtschang übersetzen lassen, um dort seine Verwandten zu besuchen und mit ihnen zu feiern. Rotarmisten fanden ihn im Bett einer Konkubine.
Eine Gruppe von mehreren Freiwilligen bestieg das Boot und konnte die feindlichen Stellungen am Nordufer nach einem heftigen Gefecht einnehmen. In den folgenden Tagen setzten die Fähren immer weitere Rotarmisten an das Nordufer über. Aber der Fluss wurde wegen der Regenzeit immer reißender, die Überfahrt immer schwieriger. Inzwischen dauerte es vier Stunden, einmal über den Fluss zu setzen. Bei dieser Geschwindigkeit würde es Wochen brauchen, bevor die ganze Armee mit Tieren und Vorräten übergesetzt wäre. Dann aber wären sie längst von den Weißen eingekesselt.
Ungefähr 200 Kilometer weiter nordwestlich, wo die Schluchten des Tatu sehr tief und der Fluss eng und reißend war, gab es eine Hängebrücke aus Eisenketten. Dahin marschierten jetzt die Roten und zwar sowohl die Hauptstreitmacht am Südufer des Flusses als auch die bereits übergesetzte Division am Nordufer. Dabei mussten sie zahlreiche Gebirgszüge überqueren.
Schließlich erreichte eine Vorhut am Südufer nach einem Gewaltmarsch die Brücke. Sie war mehr als 100 Meter lang und ihr Boden normalerweise mit dicken Holzbrettern bedeckt. Jetzt war die Hälfte dieses hölzernen Belages entfernt worden. Auf der anderen Seite bewachte ein Regiment weißer Truppen die Brücke. Todesmutig balancierten rote Freiwillige über die Ketten. Dabei wurden sie von den Weißen mit Maschinengewehren beschossen. Nach großen Verlusten gelang es den Roten, die Brücke einzunehmen. Der Feind zog sich schließlich in Panik zurück. Größere Truppenteile der Weißen schlossen sich sogar der Roten Armee an, die den Tatu nun vollständig und ohne weitere Verluste überqueren konnte.[16]
Nördlich des Tatu operierten nur noch wenige weiße Truppen und die Rote Armee konnte weitgehend ohne Feindberührung marschieren, aber das Gelände war extrem schwierig. So überquerten die Roten zahlreiche Gebirgszüge. Der höchste war der Große Schneeberg mit 5.500 Metern. Zwar war Sommer, aber dennoch erfroren viele Rotarmisten und sehr viele Packtiere fielen aus. Auf einigen Bergen mussten die Roten vorher Straßen bauen, um sie überhaupt mit so vielen Menschen überqueren zu können.
Am 20. Juli 1935 erreichte die Roten Armee das Moukung‐Gebiet. Hier ruhten sie sich aus. Von ursprünglich 90.000 Mann waren noch 45.000 dabei. Nicht alle waren gefallen. Es wurden Verwundete zurückgelassen und einige Einheiten blieben als Partisanen zurück, wo sie die Weißen beunruhigten.
Im August 1935 setzten die Hauptstreitkräfte der Roten Armee ihren Marsch nach Norden fort.
Jetzt führte der Weg durch die Gebiete der Mantzu und der nomadischen Hsifan. Leider misslangen alle Versuche, mit diesen Völkern wie mit Lolos zu einer Vereinbarung zu kommen. Niemand der Roten beherrschte deren Sprachen und von den Volksgruppen konnte niemand Mandarin. Die Manzu griffen die Rotarmisten ständig aus dem Hinterhalt an und diese waren gezwungen, sich von ihren zurückgelassenen Feldern zu versorgen.
Anschließend durchquerte die Rote Armee die großen Grasländer. Diese völlig unbewohnten Landstriche mit mannshohem Gras hatten sich durch Dauerregen in einen einzigen Sumpf verwandelt.
Dann wieder wurden sie an der Grenze zur Provinz Gansu in Gefechte mit weißen Truppen verwickelt, die die Rote Armee siegreich bestand. Am 20. Oktober 1935 erreichte die Vorhut der Roten Shanxi, das in den folgenden Jahren eine neue Basis der Sowjetmacht bilden sollte. Die Armee war auf weniger als 20.000 Mann geschrumpft.[17]
Hier im Norden war die Kuomintang nicht so stark wie in den südlichen Provinzen.
Der Lange Marsch gilt als eine der großen Heldentaten der Militärgeschichte. Insgesamt legte die Rote Armee mehr als 12.000 Kilometer zurück.
Zwar handelte es sich bei ihm um einen strategischen Rückzug. Dieser wurde allerdings zur Basis für neue Siege. Denn die Rote Armee blieb in ihrem Kern intakt und ihre Reihen konnten erneut aufgefüllt werden. Besonders wichtig war, dass Kommandeure wie Mao Tse‐tung, Lin Biao, Chen Kang und Zhou Enlai der Revolution erhalten blieben. Ihre Erfahrung hätte damals nicht ersetzt werden können.
In allen Gebieten, die sich durchzogen, beriefen die Roten Massenversammlungen ein, gaben Vorstellungen ihres politischen Theaters, befreiten die Sklaven und besteuerten die Reichen, wobei sie einen großen Teil dieses Reichtums den Armen gaben. Millionen Menschen hatten die Rote Armee gesehen und gehört und stimmen ihren Zielen zu. Die Roten erklärten ihr Programm der Agrarrevolution und ließen Partisanen zurück. Tausende Menschen fielen, aber tausend andere – Bauern, Lehrlinge, ehemalige Sklaven, frühere Angehörige der weißen Truppen – füllten ihre Reihen wieder auf.[18]
Am 7. Juli 1937 überfiel das faschistische Japan Südchina, nachdem es bereits 1931 die Mandschurei annektiert hatte. In der Folgezeit kam es zu einem erneuten Bündnis zwischen der KPCh und der Kuomintang.
Chiang stellte seinen Krieg gegen die Sowjetgebiete vorerst ein. Die Kommunisten gaben das Rätesystem auf und führten stattdessen die bürgerliche Demokratie auch in ihren Gebieten wieder ein. Sie gaben auch die Umverteilung des Landbesitzes auf. Allerdings wurde das bereits verteilte Land nicht wieder an die ehemaligen Grundherren zurückgegeben. Immerhin sollte es in ganz China zu Pachtsenkungen kommen.[19]
Peter Cardorff stellt fest: »Mit der Liquidierung der Räte verschwand diese Institution bis heute auf Nimmerwidersehen aus China.«[20]
Die Rote Armee wurde in die 8. Route‐Armee und die Neue 4. Armee umgebildet.
Dieses Bündnis mit der Bourgeoisie entsprach der Volksfrontpolitik, die auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 verabschiedet worden war. Entgegen den Forderungen von Stalin waren die chinesischen Kommunisten jedoch nicht bereit, sich der Bourgeoisie völlig unterzuordnen. So erlaubten sie nicht, dass Offiziere der KMT die Kontrollen über ihre Armeen übernahmen. Ebenso wenig erlaubte sie, dass KMT‐Armeen die ehemalige Chinesische Sowjetrepublik besetzten. Eine Aufgabe der organisatorischen Unabhängigkeit hätte die fast sichere Vernichtung der Kommunisten durch Chiang Kai‐scheck bedeutet.
Ab 1939 gab es trotzt des formellen Bündnisses wieder militärische Konflikte zwischen der KMT und KPCh. Viele Guerillaeinheiten der KP wurden von KMT‐Truppen gefangen genommen und erschossen.
Das medizinische Korps wurde daran gehindert, der 8. Route‐Armee und der Neuen 4. Armee Hilfe zu leisten oder auch nur Medizin zu schicken.[21]
Im Neuen 4. Armee‐Zwischenfall verübten die Kuomintag‐Truppen im Januar 1941 ein Massaker an den Kommunisten. Im Sommer 1940 hatten sich KMT und KPCh geeinigt, dass die KP‐geführten Truppen ausschließlich nördlich des Huanghe operieren sollten. Als sich im Januar nur noch das Hauptquartier mit 4.000 Mann Truppen, 2.000 Verwundeten und 3.000 politischen Arbeitern südlich des Flusses befand – die KMT war informiert, dass der Zeitplan nicht eingehalten werden konnte – wurden sie von den KMT angegriffen und vollständig vernichtet. Die Neue 4. Armee wurde von Tschiang wegen Ungehorsams offiziell aufgelöst und die 8. Route‐Armee nicht mehr bezahlt.[22]
Überhaupt kämpften die wenigsten KMT‐Truppen aktiv gegen die Japaner. Wegen deren Passivität ging eine Reihe von kampfwilligen Einheiten zu den Kommunisten über. Die kämpferische Haltung der 8. Route‐Armee und der neuen 4. Armee und die Verbindung der Kampftätigkeit mit Guerillaaktionen und einem Milizsystem in den Dörfern brachten ihr große Sympathien und neue Rekruten ein.
Die Japaner reagierten auf Widerstandsaktionen mit äußerster Härte und zwar mit dem Programm der Drei Alles: Töte alles, verbrenne alles, zerstöre alles. Wenn es in der Nähe eines Dorfes Widerstandsaktionen gab, wurden alle auffindbaren Dorfbewohner erschossen, das Getreide geraubt, die Häuser zerstört und die Felder verwüstet. Wenn sich die Guerillas in der Bevölkerung bewegen konnten wie Fische im Wasser, dann zogen die japanischen Generäle daraus den Schluss, dass man das Wasser eben ablassen müsse. Die Bauern unterstützten jedoch als Reaktion auf diese Grausamkeiten die Guerilla nur noch entschlossener. Ihre Söhne und teilweise auch ihre Töchter schlossen sich den KP‐Armeen oder den Partisanen an.
Die japanische Besatzung bewirkte eine erneute Politisierung der Bauernschaft und dies trotz des Verzichts der KPCh auf Landaufteilungen.[23]
Die KP‐geführten Einheiten waren die einzigen, die die Japaner wirklich und kompromisslos bekämpften.
Von den KMT‐Einheiten dagegen versuchten viele unter der Hand Abkommen mit den Japanern zu schließen und die Kampftätigkeit möglichst gering zu halten. Ein nicht unerheblicher Teil der Offiziere der KMT‐Armeen desertierte und schloss sich sogar offen den Japanern an.
Die Zustände in den KMT‐Armeen waren katastrophal. Die eingezogenen Soldaten wurden sehr schlecht behandelt. Eingezogen wurden überhaupt nur ärmere Teile der Bevölkerung. In den Armeen grassierten Krankheit und Unterernährung. Eine medizinische Versorgung gab es nicht. Sold wurde häufig nicht gezahlt. Die Ausrüstungen waren häufig alt und unbrauchbar. Die Offiziere waren korrupt und bereicherten sich am Krieg.
Die KPCh und die KMT hatten 1937 allgemeine Pacht‐ und Zinssenkungen vereinbart. Die KMT hielt sich jedoch nicht daran. In Henan kam es 1942 und 43 wegen der drückenden Forderungen der Großgrundbesitzer und Steuereintreiber zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen starben.[24]
Der US‐amerikanische General Stillwell kommentierte: »Ich beurteile KMT und KPCh nach dem, was ich sah. (KMT) Korruption, Vernachlässigung, Chaos, Wirtschaft, Steuern, Worte und Taten. Hamsterei, Schwarzer Markt, Handel mit dem Feind. Kommunistisches Programm Reduzierung der Steuern, Pacht, Zinsen. Hebung der Produktion und des Lebensstandards. Teilnahme an der Regierung. Tun, was sie sagen.«[25]
Trotz des Verzichts auf Landaufteilung wurden die KP‐Regionen, wenn auch auf bescheidener Ebene, ein Beispiel für ein besseres Leben. Im Krieg gelang es der KP, ihre Überlegenheit in ökonomischer, politischer, militärischer und Beziehung zu demonstrieren.
Mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 15. August 1945 nach den Atombombenabwürfen der USA auf Hiroshima und Nagasaki endete der Zweite Weltkrieg und zwei Wochen später auch der Japanisch‐Chinesische Krieg. Zu diesem Zeitpunkt gab es in China 19 KP‐regierte Basen mit 95,5 Millionen Einwohnern. Die Zahl ihrer regulären Soldaten in der Volksbefreiungsarmee betrug 910.000. Zusätzlich gab es noch 2,2 Millionen Milizionäre. Die Mitgliedschaft der KPCh betrug 1,2 Millionen. Insgesamt hatten sich das Kräfteverhältnis zwischen KMT‐Truppen und KPCh im Verlauf des Krieges trotz des Verzichtes auf eine Agrarrevolution stark zugunsten der letzteren geändert.[26]
Verweise
[1] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 75f
[2] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 76
[3] Vgl. Agnes Smedley: China kämpft, Westberlin 1971
[4] Vgl. Edgar Snow: Roter Stern über China, Frankfurt am Main 1974, S. 192
[5] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 107
[6] Vgl. Snow a.a.O., S. 192
[7] Vgl. Frank a.a.O., S. 626
[8] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 86
[9] Vgl. Frank a.a.O., S. 626
[10] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 107
[11] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 90
[12] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 92
[13] Vgl. Snow a.a.O., S. 192f
[14] Vgl. Snow a.a.O., S. 194
[15] Vgl. Snow a.a.O., S. 196ff
[16] Vgl. Snow a.a.O., S. 199ff
[17] Vgl. Snow a.a.O., S. 205ff
[18] Vgl. Snow a.a.O., S. 211ff
[19] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 115ff
[20] Cardorff a.a.O., S. 120
[21] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 130
[22] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 130
[23] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 133
[24] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 136
[25] zitiert nach Cardorff a.a.O., S. 136
[26] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 131
Bild: Der erste Kreuzungspunkt des Langen Marsches der Zentralen Roten Armee in Yudu, Jiangxi, von wo aus das Zentralkomitee am Abend des 18. Oktober 1934 mit der Überquerung des Gong Shui seinen ersten Schritt auf dem Langen Marsch machte