Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution – Artikelserie zu China Teil II

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Dies ist der zweite Teil einer umfassenden auf mehrere Teile angelegten Artikelserie von Jan Müller über China. Beinhalten wird die Serie folgende Teile:

  1. Das alte China (plus Einleitung)
  2. Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution
  3. Die Zweite Chinesische Revolution (1925 – 27)
  4. Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
  5. Der Chinesische Bürgerkrieg und die Dritte Chinesische Revolution (1945 – 49)
  6. Von der »neudemokratischen« zur sozialistischen Revolution
  7. Im Bündnis mit der Sowjetunion (1949 – 60)
  8. Großer Sprung nach vorne, Bruch mit der Sowjetunion und Kulturrevolution: Der Hochmaoismus (1958 – 69)
  9. Umkehr der Allianzen und Drei‐​Welten‐​Theorie: Der Spätmaoismus (1969 – 78)
  10. Erste Etappe der Wirtschaftsreformen und Putschversuch (1978 – 89)
  11. China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)
  12. Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008)
  13. China und Corona
  14. China und der Ukrainekrieg
  15. Schlussfolgerungen über den Charakter Chinas

Die Artikelserie als Broschüre mit weiteren Anhängen, Literaturverzeichnis und weiterführender Literatur kann man unter folgendem Link herunterladen: China: Ein langer Weg – wohin?

Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution

Im 19. Jahrhundert wurde China durch zahlreiche ungleiche Verträge gedemütigt und auf den Status einer Halbkolonie der westlichen Mächte herabgedrückt. Begonnen hatte diese Entwicklung mit dem Ersten Opiumkrieg von 1839 – 42.

Die Briten betrieben im frühen 19. Jahrhundert von ihrer Kolonie Indien aus einen schwunghaften Opiumschmuggel nach China. Dieses Opium wurde ganz legal in der indischen Provinz Bengalen angebaut. Chinesische Produkte wie Tee, Seide, Baumwollerzeugnisse und Kunstgegenstände waren im Westen hochbegehrt. Die Briten hatten aber außer dem Opium keine Waren anzubieten, die für die Chinesen von Interesse waren. Aus dem Opium aber konnten sie beträchtliche Profite herausschlagen und die chinesische Handelsbilanz wurde negativ. Chinesisches Silber floss in großen Mengen in den Westen ab. Die chinesische Gesellschaft verarmte. Deshalb verordnete die Regierung ein totales Opiumverbot. Der Beamte Lin Zexu ließ 20.000 Kisten Opium von den Briten beschlagnahmen und vernichten.

Als Reaktion darauf erklärte Großbritannien China den Krieg. Nach kurzer Zeit kam es zu einer demütigenden Niederlage für China. Denn die chinesischen Flotten waren technisch unterlegen. Britische Schiffe befuhren den Jangtsekiang und beschossen Nanking mit Kanonen. Nun blieb China nichts anderes übrig als zu kapitulieren.

Die Friedensbedingungen im Vertrag von Nanking waren hart:

  • Übertragung von Hong Kong an Großbritannien
  • 21 Millionen Silberdollar »Entschädigung«
  • Öffnung der Häfen Amoy, Schanghai, Ningbo und Kanton für den Handel.
  • Abschaffung des chinesischen Außenhandelsmonopols
  • Meistbegünstigung: alle Rechte, die China anderen Mächten gewährt, werden auch Großbritannien gewährt
  • Exterritorialität für britische Staatsangehörige (Zusatzvertrag von 1843)[1]

Im Jahr 1856 kontrollierten chinesische Beamte angeblich unrechtmäßig das in Hong Kong registrierte chinesische Schiff Arrow. Dies war der Anlass für den Zweiten Opiumkrieg von 1856 – 1860. Auch er endete mit einer totalen Niederlage Chinas und der Zerstörung des Sommerpalastes in Peking, wodurch unendlich wertvolle Kunstschätze vernichtet wurden. Im Unterschied zum ersten Opiumkrieg war die technische Überlegenheit der Westmächte noch größer, da sie nun über dampfgetriebene Kanonenboote verfügten. Die Friedensbedingungen waren für China noch demütigender als die nach dem ersten Opiumkrieg:

  • 22 Millionen Silberdollar »Entschädigung«
  • Öffnung zahlreicher weiterer Städte
  • Britische und französische Waren werden von den Zöllen befreit
  • Missionare dürfen sich ungehindert in China bewegen
  • Großbritannien übernimmt die Seezollverwaltung Chinas
  • Ausländische Flotten dürfen das chinesische Flussnetz befahren

In der Folgezeit erwarben zusätzlich zu Großbritannien und Frankreich auch Japan, das Russische Reich, das Deutsche Reich, die USA und Belgien weitere »Konzessionen«, ließen sich das Recht einräumen, Eisenbahnen zu bauen oder konnten die Abtretung größerer Gebiete durchsetzen, so das Deutsche Reich die Region von Tsingtau auf der Shangdong‐Halbinsel.

In Schanghai gab es zum Beispiel das International Settlement, die gemeinsame Verwaltung von zahlreichen Pachtgebieten der Westmächte in der Stadt mit einer eigenen Polizei.

Immer wieder gab es in China Aufstände gegen die Fremden wie den sogenannten Boxeraufstand von 1899 bis 1901. Er wurde in einer gemeinsamen Expedition der Westmächte niedergeschlagen. Berüchtigt ist die Hunnenrede, die der deutsche Kaiser Wilhelm II. bei der Verabschiedung des Expeditionskorps in Bremerhaven im Jahr 1900 hielt: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«

China war am Ende des 19. Jahrhunderts die größte Halbkolonie der imperialistischen Mächte. Die hier generierten Profite trugen wesentlich zur neuen langen Welle des Kapitalismus mit expansiver Tendenz in den Jahren von 1895 bis 1914 bei.

Die Öffnung Chinas bewirkte, dass billige westliche Waren ins Land strömten und die asiatische Produktionsweise [Siehe Artikel I der Serie] langsam zersetzt wurde. Denn einerseits wurde die enge Verbindung von Landwirtschaft und Handwerk aufgebrochen, andererseits Pacht und Wucher noch wesentlich drückender. So standen auch in China schließlich doppelt freie Arbeitskräfte zur Verfügung. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich in China auch eine eigene Industrie. Diese begann in den sogenannten Konzessionen, also in den Städten wie Schanghai, die von den Ausländern verwaltet wurden.

Bald darauf begann auch der chinesische Staat die einheimische Industrie zu fördern und Industriebetriebe aufzubauen. Denn nur durch Entwicklung und Produktion moderner Waffen hatte er die Chance, den Imperialisten zu begegnen. Chinesen hatten also die Möglichkeit, ihr Geld in den Aufbau von Handelsunternehmen, Banken und Industriebetrieben zu stecken.

Peter Cardorff stellt resümierend fest: »Die chinesische Gesellschaft befand sich am Ende des 19. und an Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Übergangsperiode von der asiatischen zur kapitalistischen Produktionsweise.«[2]

Das genaue Datum, ab wann China kapitalistisch wurde, ist schwer zu bestimmen. Der Aufstieg der Kuomintang signalisierte die Verschmelzung der nationalen Bourgeoisie, der Großgrundbesitzer und der Kriegsherren zu einer herrschenden Klasse. Wobei die Verbindungen zwischen diesen Gruppen immer schon sehr eng waren.

In der Zeit der ersten Chinesischen Revolution von 1911 gab es im Land die folgenden modernen Klassen:

Die Bourgeoisie

Einzelne Großgrundbesitzer, Wucherer, Kaufleute und Staatsbeamte begannen um die Jahrhundertwende in Industriebetriebe zu investieren. Um 1890 gab es die erste chinesische Baumwollfabrik, 1902 gab es schon 17 und 1911 war die Zahl auf 32 gestiegen.

Im Jahr 1912 existierten nach Schätzungen bereits über 20.000 Fabriken. Von diesen verwendeten allerdings nur 363 mechanische Kraft an. Die jährliche Wachstumsrate der Industrie betrug im Zeitraum von 1912 bis 1920 13,8 Prozent.

Die Industrialisierung ging unter starker Beteiligung des ausländischen Kapitals von sich. Vor 1937 kamen 75 – 80 Prozent der Kohle aus Bergwerken, die entweder ausländischem Kapital gehörten oder von ihm finanziert wurden. Die Textilindustrie war 1928 zu mehr als 50 Prozent in ausländischer Hand.

Allerdings war mit Wucher und Verpachtung von Grundbesitz mehr Geld zu verdienen. Die chinesische Bourgeoisie war sehr eng mit dem Landbesitz verbunden. Einerseits investierten Großgrundbesitzer und Staatsbeamte einen Teil ihres Vermögens in die Industrie, andererseits legten Industrielle und Kaufleute ihre Profite in Land an.

Die chinesische Bourgeoisie hatte also keinerlei Interesse an einer Agrarreform. Ein großer Teil der chinesischen Bourgeoisie war auch vom ausländischen Kapital abhängig und konnte ein schärferes Vorgehen gegen es nicht unterstützen.[3]

Das Proletariat

Im Jahr 1919 betrug die Zahl der chinesischen Arbeiter ungefähr 1,5 Millionen. Nach einer anderen Schätzung bestand die städtische Arbeiterschaft 1927 aus 1,5 Millionen Fabrikarbeitern, 1,75 Millionen anderen Industriearbeitern (Bergleute, Seeleute, Eisenbahnarbeiter und 11 Millionen Handwerkern und Ladenangestellten.

Das ist nicht sehr viel bei einer damaligen Bevölkerung von 400 bis 500 Millionen. Allerdings konzentrierten sich die Arbeiter in den großen Städten wie Schanghai und die Industriebetriebe waren verhältnismäßig groß.

Die Lebens‐ und Arbeitsbedingungen der Proletarier waren katastrophal. Die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit in der Textilindustrie von Tientsin betrug 1925 zum Beispiel 11 Stunden und 55 Minuten. Ein wöchentlicher Ruhetag war nicht die Regel. Die Löhne lagen meistens unter dem Existenzminimum und Frauen verdienten noch einmal 20 bis 50 Prozent weniger als die Männer. Kinderarbeit war weit verbreitet, da erwachsene Arbeiter ihre Kinder von ihrem Lohn nicht ernähren konnten. Die Mehrzahl der Arbeiter war ungelernt, das Gewicht der Arbeiteraristokratie gering.

Der Beginn der Arbeiterbewegung in China fällt auf das Jahr 1919. Sie war von vorneherein eine politische Bewegung. Arbeiter beteiligten sich durch Streiks und Demonstrationen am Kampf gegen die imperialistischen Mächte. Die ersten Gewerkschaften wurden 1921 gegründet.[4]

Die Bauernschaft

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch 90 Prozent der chinesischen Bevölkerung auf dem Lande. Nach einer Untersuchung von 1933 aus 22 Provinzen waren 54 Prozent der Betriebe Eigentümer, 29 Prozent Teileigentümer/​Teilpächter 17 Prozent Pächter.

Allerdings gab es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Provinzen. In Nordchina war der Anteil der Eigentümer wesentlich größer, in Südchina der Anteil der Pächter. Dort dominierte also der Großgrundbesitz.

Aber wir groß war der landwirtschaftliche Betrieb? Eine Statistik aus dem Jahr 1917 macht folgende Angaben:

Größe der landwirtschaftlichen Betriebe in Mou Zahl der Familien in Prozent Anteil am Gesamtbodenbesitz
1 – 20 49,5 Prozent 15,9 Prozent
20 – 40 27,7 Prozent 22,8 Prozent
40 – 75 15,6 Prozent 24,4 Prozent
75 und mehr 11,2 Prozent 35,9 Prozent

1 Mou entspricht etwa 1/​15 Hektar[5]

Die Betriebe waren also im Vergleich zu anderen Ländern sehr klein. Bewässerung war aber weit verbreitet. Ein großer Teil der Landbevölkerung befand sich ständig am Rande des Existenzminimums. Das betraf nicht nur Pächter, sondern auch kleine Eigentümer. 2/​5 aller Bauern hatten Schulden, im Durchschnitt 76 Yüan pro Familie. Die meisten Bauern nahmen diese Schulden auf, um bei Missernten den Lebensunterhalt zu bestreiten. Da die Zinsen sehr hoch waren, 2,7 Prozent im Monat und 32 Prozent im Jahr, konnten viele Bauern die Schulden nicht zurückzahlen. Sie fielen Wucherern in die Hände und verloren ihr Land. Nicht wenige verhungerten bei den periodisch auftretenden Hungersnöten.

Die Pächter und Halbpächter waren noch schlechter dran. Die Pacht war so hoch, dass bereits eine Fehlernte häufig den Ruin bedeutete. Bis zu zwei Drittel der Ernte musste an die Grundherren abgeführt werden.

Zu den Belastungen durch Wucher, Pacht und geringe Betriebsgröße kamen noch die Steuern, die mit dem Aufkommen der Warlords nach der ersten chinesischen Revolution stark erhöht wurden. Die Bauern wurden in einigen Regionen 10 Jahre im Voraus besteuert.

Im Verhältnis zur gesamten Landbevölkerung gab es in China eine große Anzahl an Großgrundbesitzern und reichen Bauern. Allerdings waren ihre Ländereien im Vergleich zu den herrschenden Klassen anderer Länder wie Russland kleiner. Diese Tatsache hat allerdings den Klassenkampf im chinesischen Dorf nicht gedämpft, sondern ihn sogar noch angestachelt. Die Grundherren und reichen Bauern beuteten die anderen Bauern durch Pacht und Wucher aus. Wenn es eine erhebliche Anzahl kleiner Großgrundbesitzer gab, konnte das ihre Blutgier nur erhöhen. Denn sie waren viel eher als große Großgrundbesitzer in Gefahr, durch Fehlernten und Fehlkalkulationen in den Kreis der reichen und mittleren Bauern hinabgestoßen zu werden.[6]

Zur Zeit der ersten chinesischen Revolution von 1911/​12 hatte sich die chinesische Bourgeoisie mit der Kuomintang (KMT) eine Organisation geschaffen. Arbeiter und Bauern spielten in dieser Revolution noch keine Rolle. Die Bauernschaft war noch durch die Niederschlagung des Boxeraufstandes von 1901 geschwächt.

Die Vorläuferorganisation der Nationalen Volkspartei Kuomintang wurde vom chinesischen Arzt Sun Yat‐​Sen im Jahr 1894 im japanischen Exil gegründet. Die Kuomintag war die große Partei des chinesischen Bürgertums; durchaus vergleichbar mit der indischen Kongresspartei. Ihre drei Prinzipien waren Nationalismus, Demokratie und Volkswohlstand. Sie stütze sich angeblich auf ein Klassenbündnis der Händler, Arbeiter und Studenten. Tatsächlich verschleierten diese Phrasen nur die Tatsache, dass sie die Interessen der Bourgeoisie vertrat, was Lenin bereits in einem Artikel von 1912 erkannte. Er hoffte allerdings, dass die chinesische Bourgeoisie noch eine progressive Rolle spielen würde.[7]

Diese Hoffnungen erfüllten sich allerdings in der ersten Chinesischen Revolution von 1911/​12 nicht. Zwar konnte die verhasste Herrschaft der Mandschu‐​Dynastie gestürzt werden und Sun Yat‐​sen wurde zum Präsidenten der Republik gewählt. Allerdings nötigte ihn der Warlord Yuan Shi‐​kai nach nur wenigen Wochen zum Rücktritt. In der Folge zerfiel der Zentralstaat und das Land wurde von lokalen Kriegsherren beherrscht, die sich gegenseitig bekämpften. Die Bourgeoisie widersetzte sich dieser Entwicklung nicht aktiv. Sie konnte auch – wie oben dargestellt – an einer Landreform und einen Kampf gegen die imperialistischen Mächte kein Interesse haben.

Sun Yat‐​Sen konnte allerdings nach 1912 die Herrschaft der Kuomintang in der Region um Kanton etablieren. Ab 1922 war sie dort mehr oder weniger fest installiert.[8] Er selbst starb bereits 1925.

Verweise

[1] Vgl. Jacques Gernet: Die chinesische Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 449

[2] Peter Cardorff: Über den Charakter der chinesischen Revolution und der KP Chinas, Frankfurt am Main 1978, S. 14

[3] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 17

[4] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 24ff

[5] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 28f

[6] Vgl. Cardorff a.a.O., S. 24

[7] Vgl. Pierre Frank: Geschichte der Kommunistischen Internationale, Band 2: 1919 – 43, Frankfurt am Main 1981, S. 447 ff

[8] Vgl. Frank a.a.O., S. 447

Bild: Blick auf die kantonesischen Faktoreien, welche den Europäern als ausschließlicher Handelsort in China zugewiesen war (William Daniell, 1805/​06).

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