Dies ist der erste Teil einer umfassenden auf mehrere Teile angelegten Artikelserie von Jan Müller über China. Beinhalten wird die Serie folgende Teile:
- Das alte China (plus Einleitung)
- Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution
- Die Zweite Chinesische Revolution (1925 – 27)
- Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
- Der Chinesische Bürgerkrieg und die Dritte Chinesische Revolution (1945 – 49)
- Von der »neudemokratischen« zur sozialistischen Revolution
- Im Bündnis mit der Sowjetunion (1949 – 60)
- Großer Sprung nach vorne, Bruch mit der Sowjetunion und Kulturrevolution: Der Hochmaoismus (1958 – 69)
- Umkehr der Allianzen und Drei‐Welten‐Theorie: Der Spätmaoismus (1969 – 78)
- Erste Etappe der Wirtschaftsreformen und Putschversuch (1978 – 89)
- China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)
- Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008)
- China und Corona
- China und der Ukrainekrieg
- Schlussfolgerungen über den Charakter Chinas
Die Artikelserie als Broschüre mit weiteren Anhängen, Literaturverzeichnis und weiterführender Literatur kann man unter folgendem Link herunterladen: China: Ein langer Weg – wohin?
Einleitung
China ist für viele ein Ärgernis. Es ist ein Land, in dem eine kommunistische Partei an der Macht ist und gleichzeitig scheinbar zügellose kapitalistische Ausbeutung herrscht. Innerhalb der Restlinken bestehen große Unsicherheiten über den Charakter Chinas. Die Spanne reicht von der Einschätzung, dass dort bereits der Sozialismus verwirklicht worden sei bis zur Charakterisierung Chinas als imperialistische Macht, durchaus vergleichbar mit den USA.
Erschwert wird die Einschätzung Chinas dadurch, dass alle Aspekte seiner Geschichte umstritten sind, auch unter Marxisten. Praktisch jede Epoche ist in Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen marxistischen Strömungen geraten. Das beginnt schon bei der frühen chinesischen Geschichte bis 1911: Herrschte dort ein Feudalismus, wie die Stalinisten und ihnen folgend auch die KPCh bis heute behaupten, oder die asiatische Produktionsweise, was die ursprüngliche marxistische Position war, direkt zurückgehend auf Marx und Engels? Die Diskussion in der der Kommunistischen Internationalen zur Strategie in der Zweiten Chinesischen Revolution in den 20er Jahren geriet in Auseinandersetzungen zwischen den Trotzkisten und den Stalinisten in den 20er Jahren. Die Einschätzung des großen Sprunges nach Vorne und der Kulturrevolution wiederum waren und sind zwischen Kommunisten und Maoisten umstritten. Auch die Einschätzungen der Marktreformen ab 1978 gehen weit auseinander. Letztlich muss Literatur aus unterschiedlichen Richtungen ausgewertet werden, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Der Autor dieser Zeilen hat Sympathien für die trotzkistischen Positionen besonders in der Zeit bis 1949, folgt ihnen aber nicht in jedem Fall.
Warum ist China so wichtig für die Linke in der BRD? Es geht letztlich um die Frage der Perspektiven und Strategien bei der Überwindung des Kapitalismus, die sich immer dringender stellt. Anregungen zu dieser Arbeit entstanden in Diskussionen zwischen Linken verschiedener Strömungen zunächst auf Facebook bis 2020 und dann innerhalb der Freien Linken ab 2021. Auch wenn es ein Kapitel »China und Corona« gibt, steht das Corona‐Narrativ nicht im Zentrum dieser Untersuchung. Dafür sind noch zu viele Fakten unbekannt, was China angeht.
Da davon auszugehen ist, dass die entscheidende Fakten vielen Menschen völlig unbekannt sind, ist diese Untersuchung eine chronologische Nacherzählung der chinesischen Geschichte vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts. Erst auf dieser Basis können begründete Schlussfolgerungen über den heutigen Charakter und die Perspektiven der chinesischen Gesellschaft gezogen werden.
Mit Ausnahme einiger bekannter Namen wird die Pinyin‐Umschrift verwendet.
Das alte China
Ackerbau und Viehzucht entwickelten sich in China ungefähr ab 5.000 v. u. Z. zuerst in den Lösshügelländern am mittleren Hungahe. In dieser Zeit wurde die Yangshao‐Kultur fassbar. Zunächst wurden dort Hirse und Sorghun kultiviert, ungefähr 1.000 Jahre später auch Reis.[1]
In den Jahren um 3.000 v. u. Z. kam es zu einem Übergang von der Urgesellschaft zur staatlich organisierten Klassengesellschaft. Nach der späteren Überlieferung war der Große Yu, der Gründer der halblegendären Xia‐Dynastie, der Leiter der Arbeiten zur Flussregulierung, die zur Abwehr des Hochwassers durchgeführt wurde. Solche Vorhaben setzen den organisierten Einsatz einer großen Anzahl von Arbeitskräften voraus. Hierdurch konnten die landwirtschaftlichen Erträge wesentlich gesteigert werden und es wurden Überschüsse akkumuliert. Diese konzentrierten sich in der Hand derjenigen Mitglieder der Gesellschaft, die für die Leitung der öffentlichen Arbeiten zuständig waren. Weitere Reichtümer gewannen sie durch die Unterwerfung und nachfolgende Ausbeutung benachbarter Stämme.
Im 16. Jahrhundert v. u. Z. herrschte die Shang‐Dynastie über größere Gebiete in Nordchina. Nun war die Bronzeherstellung bekannt. Handwerker im Dienste der herrschenden Klasse schufen sehr kunstvolle Ritualgefäße, die unter anderem im Ahnenkult genutzt wurden. Dieser verschaffte dem Herrscherhaus weitere Legitimation, denn jetzt galten seine Ahnen als Götter. Tian, der Gott des Himmels, war der höchste Gott.
Der herrschenden Klasse standen die »einfachen Leute« gegenüber, Bauern, die in dörflichen Gemeinschaften sippenweise zusammenlebten und den gemeinsam urbar gemachten Boden bebauten. Sie waren der herrschenden Klasse abgabenpflichtig.
Die Zeit der Frühlings‐ und Herbstannalen dauerte von 771 bis 480 v. u. Z. Nun war der Staat der Shang‐Dynastie zerfallen und mehrere kleine Herrschaften entstanden. In der Zeit der streitenden Reiche (480 bis 221 v.u.Z.) schluckten größere Staaten die kleineren und konkurrierten gegeneinander.
Es kam zu Umwälzungen auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Die Dorfgemeinde zerfiel und die Dorfbewohner waren nun direkt dem jeweiligen Herrscher unterstellt. Diese Entwicklung zeigte sich zuerst in den Expansionsgebieten in Südchina am Jangtsekiang, wohin zahlreiche Han auswanderten, später auch in den Ursprungsgebieten der Han am Hungahe.
In der Zeit der streitenden Reiche wurden verstärkt eiserne Geräte verwendet. Diese ermöglichten eine wirkungsvollere Bodenbearbeitung, die Anlage ausgedehnter Bewässerungseinrichtungen sowie Urbarmachung von Brachland, das mit den althergebrachten Geräten aus Holz, Stein und Knochen noch nicht hätte erschlossen werden können. Im 4. und 3. Jahrhundert v. u. Z. wurden ausgedehnte Kanalanlagen zur Bewässerung gebaut.
Gleichzeit wurde der eiserne Pflug eingeführt, der von Rindern gezogen wurde. Dies war eine wesentliche Arbeitserleichterung für die Bauern.
Damit kam es zu einer endgültigen Zersetzung des Gemeineigentums an Grund und Boden und der alten Gemeindestruktur in ganz China. Eine Gemeinschaftsarbeit großer Gruppen mit Grabegabel oder Hacke war nicht mehr notwendig. So kam es schließlich – möglicherweise nach einer Übergangsphase, in der man bestimmte Bodenanteile periodisch an die einzelnen Familien verteilte – zur Entstehung des bäuerlichen Kleineigentums und zur Herausbildung der Nachbarschaftsgemeinde.
Es gab auch kulturelle Neuerungen. In der Zeit der Frühlings‐ und Herbstannalen konkurrierten zahlreiche Philosophenschulen miteinander. Der nun entstandene Konfuzianismus, der Legalismus und der Taoismus sollten die chinesische Gesellschaft über tausende Jahre hinweg prägen.
Die Staatsapparate und das Militärwesen wurden ausgebaut. Anstelle der alten Aristokratie übernahm nun eine philosophisch gebildete Bürokratie wichtige Funktionen im Staat. Von den dutzenden Staaten blieb im Jahr 221 v. u. Z. nur noch Qin übrig, das die gesamte chinesische Welt erobern konnte. Übermäßig ambitionierte Bauvorhaben und Kriege gegen die nördlichen Nomaden führten nach nur 10 Jahren zu einem landesweiten Bauernaufstand, an dessen Ende die Qin‐Dynastie gestürzt wurde. Der Kleinbauer Liu Bang wurde als Anführer der Revolte im Jahr 206 v. u. Z. selbst Kaiser. Das von ihm begründete Reich sollte bis zum Jahr 1911 existieren. In dieser Zeit änderte sich die chinesische Gesellschaft nicht mehr grundlegend. Allerdings lösten sich mehrere Dynastien ab, deren Entwicklung immer nach einem bestimmten Schema verlief. In den ersten Jahren einer neuen Dynastie, zum Beispiel der von Liu Bang begründeten Han‐Dynastie, waren die Steuern für die Bauern niedrig und der Staat organisierte große Bauvorhaben. Nach einiger Zeit setzte Zerfall ein, die Steuern gingen hoch, der Staat vernachlässigte den Wasserbau, Beamte und Wucherer rissen immer größere Anteile des Bodens an sich. Schließlich wurde das Elend der Massen so unerträglich, dass sie rebellierten, die jeweilige Dynastie stürzten und eine neue begründete, die zunächst im Interesse der Bauernschaft agierte.
Wie kann die chinesische Gesellschaft beschrieben werden? Welche herrschenden Klassen gab es und wie lief der Klassenkampf ab? Über die Gesellschaften des Orients haben sich die Klassiker schon relativ früh geäußert. Karl Marx beschäftigte sich in seinem Artikel »Die britische Herrschaft in Indien«, der am 25. Juni 1853 in der New York Daily Tribune erschienen ist, erstmals mit diesem Thema. In dem Manuskript Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58 skizzierte Karl Marx vorkapitalistische Gesellschaftsformationen, darunter auch die »asiatische Form«. Friedrich Engels beschrieb im Anti‐Dühring von 1877 unterschiedliche Formen der Staatsentstehung. In einem Fall entstehen Staaten aus der Verselbständigung der gesellschaftlichen Amtstätigkeit. Die Formen der großen Kooperation wie z. B. der Bau von Bewässerungskanälen oder die Kriegführung machen eine zentrale Leitung dieser Tätigkeiten notwendig. Später gelang es diesen zunächst von der Gesellschaft gewählten Beamten, sich zu Herren eben dieser Gesellschaft aufzuschwingen. Als Beispiele nennt er den orientalischen Despoten oder Satrapen.[2]
Nach dem Tode von Marx und Engels kam dieser Teil der marxistischen Theoriebildung zunächst vollständig zum Erliegen. Erst in den 20er Jahren beschäftigten Marxisten wieder mit den Gesellschaften des Orients. Im Jahr 1931 erschien im Buch Wirtschaft und Gesellschaft Chinas des jungen deutschen Sinologen und Kommunisten Karl August Wittfolgel[3], die sozusagen klassische marxistische Beschreibung dieses Themas. Eine kürzere Zusammenfassung findet sich in einem Artikel in der Zeitschrift für Sozialforschung von 1938.
Wittfogel bezeichnete die ökonomische Gesellschaftsformation des alten Chinas als Gesellschaft mit asiatischer Produktionsweise. Hier stehen sich die persönlich freien Bauern und eine organisierte Bürokratie oder Aristokratie als Grundklassen gegenüber. Die Bauern leben entweder in relativ autarken Dorfgemeinschaften, in denen das aus der Urgesellschaft bekannte Gemeineigentum am Boden noch existiert. Häufig sind jedoch diese Dorfgemeinschaften zerfallen und die Bauern stehen dann als individuelle Besitzer von (kleineren) Bodenparzellen direkt dem Staat gegenüber.
Die Aristokratie oder Bürokratie eignet sich einen Teil des Mehrproduktes der unmittelbaren Produzenten an. In den meisten Fällen steht ein Herrscher an der Spitze der Gesellschaft, der das Land selbst repräsentiert.
Die Ausbeutung erfolgt einerseits durch eine allgemeine Steuer, andererseits durch die Verpflichtung der Bauern zu Arbeitsleistungen. Die einzelnen bäuerlichen Produzenten stehen nicht in persönlicher Abhängigkeit von bestimmten individuellen Grundbesitzern, sondern sind – häufig durch die Dorfgemeinde vermittelt – der Gesamtheit der herrschenden Klasse abgabepflichtig.
Der Klassenkampf zwischen den persönlich freien Bauern und den »korporativen Großgrundbesitzern« dreht sich vorwiegend um die Höhe der Staatssteuer, also darum, welcher Anteil des Mehrproduktes an die herrschende Klasse abgeführt werden muss.
Wie in allen anderen Klassengesellschaften kann die Herrschaft der Bürokratie in der asiatischen Produktionsweise nicht auf Ausbeutung reduziert werden. Die Grundlage ihrer Herrschaft war eine gesellschaftliche Amtstätigkeit, d. h., sie beschäftigte sich mit Fragen, die die Gesellschaft als Ganzes betrafen. Was die asiatische Produktionsweise jedoch von allen anderen Klassengesellschaften unterscheidet, ist, dass hier diese Funktionen direkt über die einfache Arbeitsteilung zwischen Hand‐ und Kopfarbeit ausgeführt werden, während sie in anderen Klassengesellschaften über das Privateigentum vermittelt sind. Hier tritt die im Staat organisierte Bürokratie als Organisator der Produktion und Kooperation auf.[4]
Gesellschaften mit asiatischer Produktionsweise waren welthistorisch beim Übergang von der klassenlosen Urgesellschaft zur Klassengesellschaft weit verbreitet, so sind sie zum Beispiel in Mesopotamien, Ägypten, Kreta, Mykene, Indien, China, Japan, den altafrikanischen Reichen sowie in den Reichen der Inka und Azteken anzutreffen. In einigen Regionen wurde sie schon relativ früh von anderen Gesellschaftsformationen abgelöst, in anderen hielt sie sich jedoch sehr lange bis zum Eindringen des Kapitalismus. Das passierte meistens in Gesellschaften mit großer Bedeutung der Bewässerungslandwirtschaft. Die hohe Produktivität dieser Art von Landwirtschaft kann nur durch den Bau von großen Bewässerungssystemen erreicht werden. Dies wiederum setzt das Zusammenwirken vieler Menschen mittels großer Kooperation voraus. Das Privateigentum an Grund und Boden, auch der feudale oder antike Großgrundbesitz ist damit jedoch nicht vereinbar. Wasserbaumaßnahmen müssen auf einer viel größeren Stufenleiter erfolgen und »amortisieren« sich nur sehr langfristig. Nun gab es in asiatischen Gesellschaften immer wieder Perioden, in denen das Privateigentum zunahm. Aristokraten oder Bürokraten eigneten sich zum Beispiel durch den Wucher große Ländereien an. Diese Entwicklung führte regelmäßig dazu, dass der Staat seine Funktion als Garant der landwirtschaftlichen Produktion nicht mehr erfüllen konnte. Die Steuereinnahmen gingen zurück und der Wasserbau wurde vernachlässigt. Die hierdurch hervorgerufenen Hungersnöte führten regelmäßig zu Bauernaufständen, wodurch im Erfolgsfall der Großgrundbesitz beseitigt wurde und der Staat der neuen Dynastie seine Funktion als Garant der Produktion zunächst wieder erfüllte.
Bekanntlich war China noch im 17. Jahrhundert das am höchsten entwickelte Gebiet der Welt. Das heißt, auch in Gesellschaften mit asiatischer Produktionsweise ist technischer Fortschritt möglich. Allerdings ist es dort nicht zu einer ursprünglichen Akkumulation von Kapital gekommen. Denn dies setzt die Vertreibung der unmittelbaren Produzenten von Grund und Boden voraus, so dass sie nun als »doppelt freie« Arbeitskräfte für die kapitalistische Ausbeutung zur Verfügung stehen. Weil aber der Großgrundbesitz dysfunktional für die Landwirtschaft in Bewässerungsgebieten war, wurde er regelmäßig enteignet und der landwirtschaftliche Kleinbesitz wiederhergestellt. Deshalb konnte dort Kapital nur sehr unzureichend akkumuliert werden.
Verweise
[1] Vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Irmgard Sellnow: Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus, Berlin 1978, S. 111ff
[2] Vgl. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti‐Dühring), in: MEW 20, Berlin 1962, S. 166f.
[3] Später wurde er zum Renegaten.
[4] Vgl. Karl August Wittfogel: Die Theorie der asiatischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1938, S. 90 – 122
Bild: Dujiangyan, ein Bewässerungsprojekt, das 256 v. Chr. während der Zeit der Streitenden Staaten in China durch den Staat Qin fertiggestellt wurde.