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Nachdem eine zeitige Übersetzung des »Verschwörungstheoretischen Manifests« (Manifeste Conspirationiste) aus Frankreich nicht absehbar ist, hat sich MagMa entschieden dem deutschsprachigen Leser weitere Teilübersetzungen dieses schillernden Werks anzubieten. Es folgt die Übersetzung des Unterkapitels 2.2 »Comme en 1914«.

In vielerlei Hinsicht ist der Bruch von 2020 verwandt mit dem von 1914.

Diesselbe erstickende, schamlose Art – vorhersehbar, aber effektiv – der Propaganda.

Derselbe himmelschreiende Verrat der Linken.

Diesselbe Einöde, die um diejenigen entsteht, die nicht nachgeben.

Derselbe Krieg, der dem Feind als Instrument zur Gleichschaltung der eigenen Bevölkerung erklärt wurde.

Dieselbe Vorgabe an Lügen, nicht nur in den Zeitungen, sondern auch zwischen den Menschen selbst.

Diesselbe Berufung der Regierungen auf »Ausnahmezustände«, um alle Rechtsgrundsätze zu untergraben.

Diesselbe blitzschnelle Umstrukturierung der Produktionsmethoden und diesselbe sofortige Revision aller sozialen Normen.

Dieselben unterwürfigen Ermattungserscheinungen, die sich trotz des Aufbegehrens am Ende durchsetzen.

Wie schon 1914 bieten uns jene Radikalen, die sich nicht eingestehen können, dass sie ins Lager der Regierenden gewechselt sind, ein höchst komisches Schauspiel. 1914 konnte man sich köstlich darüber amüsieren, dass die anarchistischen Verfechter des »sozialen Kriegs« im Handumdrehen zum Krieg gegen den boche [1] bekehrt wurden. Heute sind die Radikalen von gestern für den Lockdown, sofern er selbstverwaltet ist. Gegen den »Gesundheitspass«, solange ihn nicht jeder hat. Für »Impfungen«, aus Solidarität, aber ohne zu wissen, was man von dem, was drin ist, halten soll, noch von denen, die sie herstellen.

Es gibt sogar solche, die die Paradoxie soweit treiben, dass sie die Impflicht als infantilisierend bezeichnen und deshalb »mehr Pädagogik« fordern. Seit Neuestem tauchen diese seltsamen Anarchisten auf, die Bakunin zitieren – »Wenn es um Stiefel geht, wende ich mich damit an die Autorität des Schusters« – um ihre politische Achtung wiederherzustellen: Niemals haben sie sich, was die gesundheitspolitischen Massnahmen anlagt, dem Staat unterworfen, sie haben sich nur auf die Ärzte verlassen, das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Die Regierenden, denen sie gestern noch die Stirn boten – und die sie in ihrem eigenen Spiel jetzt geschlagen haben – haben bei ihren Abendessen sicher viel zu lachen.

Alles in Allem holt die gesamte Linke seit zwei Jahren das Beste aus sich raus. Sie ist in jede erdenkliche Falle getappt. Sie wird alle Produkte staatlicher Kommunikationskanäle weitergeleitet haben und sich von keiner emotionalen Erpressung, keinem Paralogismus oder komplizenhaftem Schweigen abbringen haben lassen und sich dabei als das erwiesen haben, was sie ist: irrational vor lauter Rationalismus, obskurantistisch vor Szientismus, unsensibel vor Gefühlsduselei, krankhaft vor Hygienismus, gehässig vor Menschenliebe, konterrevolutionär vor Progressivität, dumm, weil sie sich für kultiviert hält und böse, weil sie auf der Seite der Guten stehen wollte. Während der letzten zwei Jahre hat sich überall auf der Welt, außer vielleicht in Griechenland, die Linke – sozialistisch wie anarchistisch, moderat wie radikal, ökologisch wie stalinistisch – systematisch zum Handlanger des weltweiten technokratischen Umsturzes machen lassen. Kein Lockdown, keine Ausgangssperre, keine Impfung, keine Zensur, keine Einschränkung wird ihnen extrem genug gewesen sein, um sie anzuwidern. Sie war die Stimme der Angst, solange die Angst herrschte. So weit, dass man Freiheit, Demokratie, Alternative, Revolution und sogar den Aufstand dem Werkzeugkasten der extremen Rechten anheimfallen ließ. Man muss sagen, dass sie schon immer die Seite der Biopolitik verkörpert hat. Da wären die trendigen Marxisten der Zeitschrift Jacobin aus New York, die die Ankündigung des kommenden Sozialismus durch das Tragen von Masken herbeihalluziniert haben, während andere so weit gingen, über den »Impfkommunismus« zu theoretisieren. Spannende Diskussionen für die Mülleimer der Geschichte stehen bevor.

Es ist offensichtlich: Die Linke hat sich in ihrem Kreuzzug gegen die Verschwörungstheorie komplett verausgabt. Alles was aufgebracht werden kann an ausgewiesenen Intellektuellen, untätigen Journalisten und Kleinunternehmern alternativer Medien, alles was es an Narzissten gibt, die sich durch die Zustimmung der Herde erhöhen, hat sich angeschickt, mutig seinen Beitrag zu leisten. Niemand, oder fast niemand hat bemerkt, dass alle die großen »linken« Autoren, all die Monumente, all die Referenzen, die sich in den Regalen voller nie geöffneter Bücher so gut machen, allesamt, durch die Bank, Verschwörungstheoretiker sind.

Foucault? Er beschrieb am Ende von »Überwachen und Strafen« die Delinquenz als ein Produkt der Institution Gefängnis selbst, die darauf aus ist, die immerzu drohende Ausbreitung von Illegalität in einem kontrollierten Rahmen zu halten. Er sah nichts als Strategien und Gegenstrategien, Einbrüche und Ausbrüche. Er wagte Sätze wie: »Ich bin Materialist, weil ich die Realität leugne«. Erzählen Sie das mal heutzutage öffentlich! Schlimmer noch, er scheute sich nicht, in seinen Vorlesungen am College de France, Folgendes zu sagen:

Dieser Exkzess der Biomacht [über das souveräne Recht] tritt auf, wenn dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben wird, nicht nur das Leben zu gestalten, sondern das Leben wuchern zu lassen, das Leben herzustellen, das Monster herzustellen, und – im äußersten Fall – unkontrollierbare und universell zerstörerische Viren herzustellen.

Der große Denker der Vernunft in der Geschichte, Hegel? Er glaubte an den animalischen Magnetismus, an eine universell fühlende Seele, die im hypnotisierten Zustand erreichbar ist. Er antwortete den Szientisten, Zetetisten und anderen Skeptikern im Voraus: »Wenn das Faktische vor allem der Bewährung bedürftig scheinen könnte, so würde eine solche doch wieder für diejenigen überflüssig sein, um derentwillen es einer solchen bedürfte, weil diese sich die Betrachtung dadurch höchst leicht machen, daß sie die Erzählungen, so unendlich zahlreich und so sehr dieselben durch die Bildung, Charakter usf. der Zeugen beglaubigt sind, kurzweg für Täuschung und Betrug ausgeben und in ihrem apriorischen Verstande so fest sind, daß nicht nur gegen denselben alle Beglaubigung nichts vermag, sondern daß sie auch schon das geleugnet haben, was sie mit Augen gesehen.«

Marx, Nietzsche, Freud – all diejenigen, die man zu den »Denkern des Argwohns« zählt? Heutzutage würden sie alle als Verschwörungstheoretiker durchgehen. Freud erzählte Ernest Jones bei ihren Nachtwachen gerne von seiner Leidenschaft für extraluzide Visionen, Fernhandlungen oder dem Austausch mit Geistern Verstorbener und schloss mit einem »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf der Erde, als unsere Philosophie sich erträumt.« Stellen Sie sich das vor.

Adorno? Der Kritische-​Theorie-​Adorno, der des Irrationalismus so unverdächtig war, dass er Horoskopen eine ganze Schmähschrift gewidmet hat, sprach in der Minima Moralia von »dem geheimen Einverständnis aller Ärzte mit dem Tod«. »Im Normalen«, versicherte er weiter, »besteht die zeitgemäße Krankheit«. Teufel! Und Deleuze, mit seiner »Kontrollgesellschaft«. Guattari mit seinem »integrierten weltweiten Kapitalismus« und seiner »molekularen Revolution«.

Ganz zu schweigen von all den nationalen »großen Dichtern« – Nerval und Rimbaud, Baudelaire und Lautreamont, Artaud und Michaux: alles Verschwörungstheoretiker bis ins Mark. Und K. Dick, und Pynchon, und De Lillo, und Bolano – wir müssen darüber nachdenken, ob wir nicht auch das Literaturregal säubern sollten!

Alle Autoren, die die Linke verehrt, würde sie hassen, und Erstere, wenn sie lebten, würden jene verachten. Sie hat sie gerne tot, um sie zu kulturellem Brei zu verarbeiten. Ein Oberverschwörungstheoretiker wie Guy Debord kann nur deshalb in den Rang eines »Nationalschatzes« erhoben werden, weil er nicht mehr da ist, um auf diejenigen zu spucken, an die er schließlich verkauft wurde. Man hätte fast Rousseau vergessen, den riesigen Verschwörungstheoretiker, dessen Tränen die Zündschnur der Französischen Revolution entzündeten.

Übrigens, wo wir davon sprechen, die Französische Revolution! Hier haben wir es, das bis zur Überspitzung getriebene verschwörungstheoretische Ereignis. All die Gerüchte über die satanischen Sitten am Hof, über Hungersnöte, die vom Klerus, den Bänkern oder den Engländern herbeigeführt wurden oder über die sapphischen Liebschaften der Prinzessin von Lamballe. Niemand dachte daran, Robespierre zu den Verschwörungstheoretikern zu zählen, als er schrieb: »Was ist der erste Moment der Verschwörung? Der eigentliche Ursprung der Revolution. Was sind die wichtigsten Triebkräfte? Alle Höfe, die sich gegen uns verbündet haben. Was ist das Ziel? Der Ruin Frankreichs. Wer sind die Opfer? Das Volk und Sie. Die Mittel? Jedes Verbrechen.« Und all diese Journalisten, die es sich nun zum Beruf gemacht haben, von Facebook und Google bezahlt, verschwörungstheoretische Inhalte aufzuspüren: Erinnern sie sich noch daran, dass sie vor knapp zehn Jahren, in den Hochzeiten von WikiLeaks, einen gewissen Julian Assange verehrten, der ein kleines Manifest mit dem nüchternen Titel Verschwörung als Regierungsform verfasst hatte?

Ein Verschwörungstheoretiker, dem ein hässlicher Boulevard in Paris gewidmet wurde und der sein ganzes Leben mit Verschwörungen verbrachte, wenn er zumindest nicht gerade in Einzelhaft im Gefängnis saß, behauptete: Waffen und Organisation sind das entscheidende Element des Fortschritts, das adäquate Mittel, um das Elend zu beseitigen. Wer Knarren hat, der hat Brot. Vor den Bajonetten wirft man sich nieder, die unbewaffneten Kohorten jedoch fegt man hinfort. […] Im Angesicht bewaffneter Proletarier werden alle Hindernisse, Widerstände und Unmöglichkeiten verschwinden. Aber für die Proletarier, die sich durch lächerliche Spaziergänge in den Straßen, durch das Pflanzen von Freiheitsbäumen, durch die klangvollen Phrasen eines Anwalts unterhalten lassen, wird es zuerst Weihwasser, dann Beleidigungen, schließlich Maschinengewehrfeuer und niemals endendes Elend geben. « (Auguste Blanqui, Le Toast de Londres, 1851)

Die Linke war immer auf der Seite der lächerlichen Spaziergänge durch die Straßen, der Pflanzung von Freiheitsbäumen und der klangvollen Phrasen der Anwälte. Das wurde in den letzten zwei Jahren endgültig klar. Von der Rechten war nie etwas anderes zu erwarten als die Fortführung der ererbten Ungerechtigkeit. Dass die Linke im Grunde immer auf der Seite der Sieger stand, deren hysterisches schlechtes Gewissen sie war, ist im allgemeinen Gedächtnis immer nur kurz aufgeflackert und schnell vergessen worden.

Seit zwei Jahren ist es ein tägliches, endloses, unverzichtbares Spektakel. Reaktiv, in sich selbst verstrickt: ein Häufchen Elend – die Linke war schon immer auf die effektivste Art und Weise konterrevolutionär: indem sie vorgab, »die Bewegung zu unter – stützen«. Sie ist immer dann abwesend, wenn sie gebraucht wird und lebt nur im Futur I, um Geschichten, Begriffe und Rechtfertigungen zu produzieren, die die Niederlage entschuldigen und bestätigen. Vom Proletariat hat sie übrigens immer nur dessen Niederlage geliebt, die auch die Bedingung für ihre eigene Existenz bildet. Die Episode der Gelbwesten, in der die Linke, solange die Bewegung aufständisch war, in die allgemeine Verleumdung mit einstimmte, um dann, als sie schwächer wurde, eine immer stärkere Affinität zu ihr zu finden, hat die Linke zurück in die Abstellkammer versetzt. Doch durch die letzten zwei Jahre haben wir uns dessen endlich entledigt. Jeder aufgeweckte Geist kann jetzt die Worte vernehmen, die unverständlich waren, als sie 1955 von dem kommunistischen Schriftsteller Dionys Mascolo geschrieben wurden: »Das Gegenteil davon, links zu sein, ist nicht, rechts zu sein, sondern revolutionär zu sein […]. Von allem, was nicht wagt, unverblümt und absolut rechts oder reaktionär (oder faschistisch) zu sein, bis hin zu allem, was nicht wagt, offen revolutionär zu sein, befinden wir uns im Reich der Linken; zögerlich; instabil; versatzstückelt; inkonsequent; Widersprüchen hilflos ausgeliefert; verhindert, eins zu sein, durch an Zahl und Art endlosen Möglichkeiten, die sich ihr anbieten, wie man geeint sein kann; noch einmal zerrissen und, wie man sagt: nie zerrissen durch Unglück, Böswilligkeit oder Ungeschick, sondern von Natur aus.« (Über Bedeutung und Gebrauch des Wortes »links«)

Wie auch 1914 stand man im März 2020 plötzlich alleine da. Wie 1914 befreite auch der März 2020 die Welt von dieser drückenden Last – der Linken. Diejenigen, die, in Begleitung jahrzehntelanger Niederlagen, gegen die bestehende Ordnung anschrien, reihten sich plötzlich ein, just in dem Moment, wo Mut zum Ausbruch gefordert war. So reihten sie sich unter ihresgleichen ein. Die revolutionäre Welle – die von Dada in Zürich bis zu den besetzten Fabriken in Turin, von den aufständischen Seeleuten in Hamburg bis zu den Frauendemonstrationen, die die russische Revolution einleiteten reichte – wurde erst möglich, als die Mystifizierung der Linken 1914 aufhörte. Genauso brauchte es diesen verdammten Krieg, um den französischen Anarchosyndikalismus, das seit 1910 aufkommende »große Fieber« der englischen Arbeiter oder die heldenhaften International Workers of the World in den vereinigten Staaten zu liquidieren. Immerhin war es das Ziel dieses Krieges, gleich wie das des Krisenmanagements der »Pandemie«, die vorangegangene Welle globaler Revolten einzufrieren.

[1] Herabsetzende Bezeichnung im Französischen für einen Deutschen; ähnlich dem amerikanischen »Kraut«.

3 thoughts on “Wie 1914

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