Immer wieder Montagsdemos

Wir erleben gerade eine ansteigende Welle von Demonstrationen, die sich gegen die Corona‐​Zwangsmaßnahmen richten. Da die Herrschenden Großdemonstrationen – im Unterschied sogar zu Österreich – de facto verboten haben, finden nun massenhaft Demonstrationen dezentral an hunderten unterschiedlichen Orten statt. Das erste Mal seit vielen Monaten tauchen zahlreiche neue Gesichter auf diesen Demos auf. Trotz maßloser Schmähungen dieser Demos als »rechts«. Offenbar haben Scholz und Lauterbach mit der Impfpflicht bei vielen Menschen tatsächlich eine rote Linie überschritten, egal ob geimpft oder nicht.

Demotermin ist immer montags. Warum? Weil es durch die berühmten Montagsdemonstrationen im Jahr 1989 in der DDR schon einmal mal durch Beharrlichkeit gelungen sei eine »Diktatur«, das »SED‐​Régime«, zu Fall zu bringen, so das offizielle Narrativ. Für andere wiederum waren diese Montagsdemos Teil einer Konterrevolution und sie sind allein wegen des Namens skeptisch. Dem wird entgegnet, dass diese Demos ursprünglich den Sozialismus verbessern aber nicht abschaffen wollten. Was stimmt denn nun?

Schauen wir mal, wie der Begriff Konterrevolution definiert wird. Nach dem Marxistisch‐​Leninistischen Wörterbuch der Philosophie ist die Konterrevolution eine Form des Klassenkampfes reaktionärer Ausbeuterklassen gegen progressive Klassen und Schichten. Sie hat das Ziel, die revolutionären Errungenschaften rückgängig zu machen, den Arbeiterstaat zu stürzen, die alte Staatsmacht zu restaurieren und mit den Trägern der Revolution blutig abzurechnen.[1]

Passt das auf die DDR 1989? In den 80er Jahren gab es dort zwei große Gruppen, die gegen den realen Sozialismus eingestellt waren: Die eigentliche Opposition und die Antragssteller. Die eigentliche Opposition bestand noch Mitte 1989 nach Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit MfS aus nur 2.500 bis 3.000 Personen, meistens Intellektuellen unter dem Schutz der evangelischen Kirche. Ihre Haltung zum Kapitalismus war sehr unterschiedlich. Es gab Personen, die ihn ohne Wenn und Aber befürworteten, wie der Pfarrer Eppelmann. Er konferierte regelmäßig mit CIA‐​Gesprächsaufklärern in der US‐​Botschaft und nahm wohl von ihnen auch Anweisungen entgegen. Dann gab es Personen, die einen dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus wollten und schließlich gab es auch einige wie Daniela Dahn, die ernsthaft einen verbesserten Sozialismus befürworteten. Gemeinsam war ihnen, dass ihre Vorstellungen illusionär waren.

Die eigentlichen Montagsdemos, vor allem in der »Heldenstadt« Leipzig, wurden von Antragstellern durchgeführt. Sie wollten so schnell wie möglich die DDR verlassen und in das »Konsumparadies« BRD auswandern. Die Antragsteller hofften sogar darauf, festgenommen und nach kurzer Frist von der BRD »freigekauft« zu werden. Sie hatten also nichts mehr zu verlieren. Mit 125.000 Menschen waren die Antragsteller deutlich größer als die Opposition im engeren Sinnen. Natürlich waren sie für den Kapitalismus. Sie wollten ja in einem kapitalistischen Land leben.

Auch 125.000 Menschen sind bei einer Bevölkerung von 16 Millionen nur eine Minderheit. Dass sie dennoch den Sozialismus zerstören konnten, hatte unter anderem folgende Gründe:

  • Wirtschaftliche Schwierigkeiten: Günter Mittag, ZK‐​Sekretär für Wirtschaft, und sein Apparat waren spätestens 1985 zur Schlussfolgerung gelangt, dass die DDR als Staat wirtschaftlich gescheitert war und sie strebten eine Konföderation mit der BRD an. Was natürlich eine Kapitulation bedeutete. Ursache hierfür war, dass die kleine DDR ihr Mikroelektronikprogramm de facto nicht mehr durchhalten konnte. Die Herstellung von Hauptspeichern und Prozessoren verschlang Milliarden und Abermilliarden Mark. Sie war nur möglich gewesen durch den Verzicht auf eine durchgängige Modernisierung der DDR‐​Wirtschaft in den 80er Jahren, was den Abstand im Bereich der Arbeitsproduktivität zur BRD auf gut 50 Prozent steigen ließ. Die DDR musste aber diese Chips produzieren, da sie sonst ihre Werkzeugmaschinen im Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet nicht mehr verkaufen und ihre Valutaschulden nicht zurückzahlen konnte. Auch das Wohnungsbauprogramm belastete den Investitionshaushalt. Die DDR war zwar 1989 nicht pleite, aber ein Weiter so war auch nicht möglich.
  • Verrat: Gorbatschow und seine Berater waren spätestens seit 1988 entschlossen, die DDR an die BRD zu »verkaufen«.
  • Unfähigkeit Honeckers und der SED: Die SED verzichtete 1989 auf eine Mobilisierung gegen die marschierende Konterrevolution. Insbesondere Erich Honecker hatte sich geistig von der Wirklichkeit im Lande stark entfernt. Zudem musste er im Herbst 1989 wegen einer Krebserkrankung operiert werden und fiel über Monate hinweg in einer entscheidenden Zeit aus. Aber der Partei‐ und Staatsapparat war stark auf den Generalsekretär ausgerichtet und ohne seine Weisungen handlungsunfähig.

Hinzu kam, dass viele Menschen wegen des seit 1980 sinkenden Lebensstandards unzufrieden waren. Sie fühlten sich gegängelt und durch irreale Berichte in den Medien nicht ernst genommen.

Da die sozialistische Staatsmacht im Herbst 1989 in keiner Weise auf die Herausforderung reagierte, zum Beispiel durch politische Mobilisierungen der Parteimitglieder, hatte die prokapitalistischen Kräfte leichtes Spiel.

In jeder Revolution werden in kurzer Zeit bestimmte Personen und Gruppen an die Spitze gespült und nach kurzer Zeit von anderen, radikaleren Gruppen gestürzt. Am anschaulichsten ist das bei der französischen Revolution. Hier lösten sich ab: Verbürgerlichter Klerus wie der Abbé Sieyès, die Girondisten, Jakobiner und Sansculotten.

In einer Konterrevolution findet dieser Prozess umgekehrt statt. Es kommen also immer reaktionärere Gruppierungen an die Macht. Im Fall der DDR hatte die extrem heterogene Opposition nur knapp zwei Monate die ideologische Führung inne. Und zwar im Oktober und November 1989. Bereits die Zerschlagung des MfS im Dezember 1989 und Januar 1990 wurde von ihrem äußersten rechten Flügel durgeführt, die sich dann als »Bürgerrechtler« bezeichneten. Darauf folgte die Phase der Parteigründungen, zum Beispiel der Demokratische Aufbruch Angela Merkels, oder die jetzt vergessene Sozialdemokratische Partei der DDR‐​SDP. Diese wiederum wurden im Vorfeld der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 den bundesdeutschen Parteien einverleibt. Die reaktionäre Regierung de Maizière der Allianz für Deutschland bereitete schließlich den Anschluss der DDR an die BRD am 3. Oktober 1990 und den Ausverkauf der DDR‐​Wirtschaft vor.

Wir sehen bei diesem Vorgang alle Elemente einer Konterrevolution. Die sozialistischen Errungenschaften wie das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, soziale Sicherheit, auskömmliche Löhne und Renten wurden rückgängig gemacht. Anstelle eines Konsumparadieses bekamen die DDR‐​Bürger ein deindustrialisiertes Land, Hartz IV und Niedriglöhne. Der Staat DDR, der erste und einzige Arbeiterstaat auf deutschem Boden wurde zerschlagen und der alte bürgerliche Staat der Kapitalisten und Monopolherren wiederhergestellt. Die Abrechnung mit den Trägern von Partei und Staat war zwar nicht unbedingt blutig[2], aber dafür unerbittlich. Sie ist die dritte große Verfolgungswelle gegen Kommunisten in der BRD nach dem KPD‐​Verbot und den Berufsverboten. Von den Verfolgungen waren betroffen:

1950 bis 1968: Blitzgesetz und KPD‐​Verbot. 250.000 Ermittlungsverfahren gegen 500.000 Personen und 10.000 Verurteilungen zu teils langjährigen Freiheitsstrafen, häufig durch ehemalige Nazirichter, die viele Kommunisten als „Wiederholungstäter“ aus der NS‐​Zeit besonders hart bestraften. Es kam auch zu Verurteilungen zu Freiheitsstrafen für die Organisierung von Kinderferienlagern in der DDR.

1971 bis 1988: Berufsverbote. 3,5 Millionen Regelanfragen beim Verfassungsschutz. 35.000 »Erkenntnisse«. 1.250 Bewerbern wurde die Einstellung in den öffentlichen Dienst verweigert, 256 wurden entlassen und 2.100 erhielten Disziplinarstrafen. 1988 wurde die Regelanfrage in die Bedarfsanfrage umgewandelt, die heute noch praktiziert wird.

1990 bis 2011: Verfolgung von ehemaligen Funktionsträgern der DDR. Ermittlungsverfahren gegen 100.000 Personen, 900 Verurteilungen, 650 Freiheitsstrafen, teilweise zur Bewährung ausgesetzt. Hinzu kommen die Verurteilung von rund 100 Altbundesbürgern wegen Spionage für die DDR zu hohen Freiheitsstrafen und das Rentenstrafrecht, das ehemals „staatsnahen“ Personen der DDR nur eine Rente auf Hartz‐​IV‐​Niveau zugesteht.

Bedeutet das nun, dass man wegen des reaktionären Charakters der ursprünglichen Montagsdemos von den heutigen Demos fernbleiben soll? Natürlich nicht. Es passiert häufiger, dass Unterdrückte die verlogenen Narrative der Herrschenden scheinbar ernst nehmen und umfunktionieren. Das ist ja bereits 2004 mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV passiert. Auch damals gab es viele Linke, die sich an ihnen wegen ihrer reaktionären Tradition nicht beteiligen wollten. Aber der progressive Inhalt ist heute und war bereits 2004 wichtiger als die – teilweise – reaktionäre äußere Form.

Zum Weiterlesen:

Gerhard Niebling: Gegen das Verlassen der DDR, gegen Menschenhandel und Bandenkriminalität, in Reinhard Grimmer, Werner Irmler, Willi Opitz, Wolfgang Schwanitz (Hrsg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, Band 2, S. 161 – 245, Berlin 2002, auch im Internet: https://​www​.mfs​-insider​.de/​S​a​c​h​b​u​c​h​P​D​F​/​V​e​r​l​a​s​s​e​n​.​pdf

Siegfried Wenzel: Was war die DDR wert?, Berlin 2000

Verweise

[1] Georg Klaus, Manfred Buhr, Marxistisch‐​Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Artikel Konterrevolution, Reinbeck bei Hamburg 1972, S. 649f.

[2] Wenn man die zahlreichen Selbstmorde ausklammert.

Beitragsbild: Montagsdemonstration Leipzig (Bundesarchiv, Bild 183‑1990 – 0108 – 033 /​Friedrich Gahlbeck /​CC‐​BY‐​SA 3.0)

One thought on “Immer wieder Montagsdemos

  1. Die Implosion der DDR lässt sich nur im Zusammenhang mit dem Niedergang der UdSSR verstehen. Dass der Protest von DDR‐​Bürgerinnen und Bürgern solch eine hohe Bedeutung erlangen konnte, ist anders nicht zu verstehen. Die UdSSR verlor leider im »Systemkampf«, die enormen Ausgaben für Rüstung waren für die sozialistische Wirtschaft auf Dauer schwierig zu verkraften.
    Die Vorstellung vieler DDR‐​Bürger, dass sie ihre sozialen Sicherheiten des Sozialistischen Systems behalten können und sie zu diesen Sicherheiten einfach den kapitalistischen Konsum dazu bekommen, war völlig naiv. Aber menschlich ist der Wunsch und auch die Naivität irgendwie nachvollziehbar.

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