Was ist Solidarität?

»Wir schaffen Sicherheit und Solidarität. 
Das ist unser Auftrag.«

– Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe
Arbeit und Soziales der CDU/​CSU‐​Fraktion

»Wenn ich nicht mehr weiter weiß
Und ich mich in Fetzen reiß
Wenn Verstörung mich umweht
Hab ich deine Solidarität«

– Tocotronic: Solidarität

Wollen wir ein bisschen über dieses seltsame Wort sprechen? Was ist nochmal Solidarität? Wenn uns niemand danach fragt, wissen wir es; wollen wir es einem Fragenden erklären, wissen wir es nicht. Aber der Fragende weiß mit ziemlicher Sicherheit selber etwas darüber, er hat einen, oder jedenfalls seinen eigenen Begriff davon und wird auch froh sein, wenn wir ihn für einen solidarischen Mitmenschen halten. Wenn wir ihm also etwas Neues erzählen wollen, müssten wir mindestens wissen, was sich die frühsozialistischen Erfinder in Frankreich von dieser Sache erwarteten, was einen warmen von einem kalten Solidaritätsbegriff unterscheidet und warum im kleinen politischen Wörterbuch der DDR behauptet wird, die Solidarität sei sowas wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Übereinstimmung, Verpflichtung, Opferbereitschaft in einem und klassenmäßig bestimmtes Verhaltensprinzip. Wir könnten ihm auch sagen, dass Marx den Begriff sehr selten und fast ausschließlich in dem Zusammenhang strategischer Ausgestaltung des Klassenkampfes verwandte, als eine Art Losungswort garantierter Gewinntechnik des Proletariats bei internationaler Kooperation und mehr oder minderer Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit der Aktionen in den jeweiligen (für Marx interessanten) Ländern.

Lauter Solidarische

Wir könnten dann weitermachen, die ihm wesentlichen Gesichtspunkte des Begriffs herauszusuchen, aufzurüsten und sie einer manchmal privatisierten, manchmal verstaatlichten, oder wie auch immer korrumpierten, hohlen, wurmstichigen Solidaritätsvokabel entgegenhalten, die man dann nach allen Regeln der Kunst projektionsflächenartig denunziert und unbrauchbar macht. Das wäre nicht unberechtigt, weil wir jeden Tag mitkriegen, wie welche, die die Solidarität im Schilde führen, sich mit welchen, die ganz dasselbe machen, in die Haare kriegen; wechselseitig diesselbe hier einfordern, da einklagen, mal absprechen und mal vorenthalten. Aber es wäre auch nicht zielführend, weil wir jeden Tag mitkriegen, wie welche, die die Solidarität… et cetera et cetera.

Es könnte also sein; so unsere These, dass es in unserer gewieften, noch garnichtmal so befreiten, aber locker doppelt aufgeklärten Gesellschaft geschafft wurde, ein Phänomen und eine Praxis vom Rang der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit (warmer Solidaritätsbegriff) gegen sich selbst zu richten und unwirksam zu machen. Als hätten wir uns daran gewöhnt, dass, wer auch immer die Trumpfkarte mit dem Symbol Solidarität ausspielt, automatisch und widerspruchslos gewinnen muss. Alle Fragen, die nach einem wer, wie, was, warum aus sind, also Fragen nach der Beschaffenheit des jeweiligen Gegenstands, der Sachlage oder des Inhalts verblassen vor der schieren moralischen Kraft dieses Zauberworts und der Frager selber muss vor der Gemeinschaft lauter Solidarischer als Streithahn erster Klasse gelten. Aber auch renommierte Ausnahmebegriffe gehören aufs Tablett politischer Diskussion gebracht, dem Zweifel und der Kritik kommt die Aufgabe zu, die Solidarität vor sich selbst zu retten.

Die These würde auch bedeuten, dass die solidarische Massnahme zum Einschluss der Ausgeschlossenen von der gegenüberliegenden Seite her genauso einen Ausschluss einschliesst. Und das bedeutet, wenn es uns mit der Sache ernst ist, dass wir uns jedesmal vergewissern müssen, wer sich hier, laut wem, mit wem denn solidarisieren soll und zu welchem Zweck. Dafür müssen wir aber unterscheiden lernen, wann Solidarität von einer bestimmten Gruppe warum für eine bestimmte Gruppe geschieht und wann unter völlig anderen Bedingungen als Vorwand ganz anderer, uns vielleicht gegensätzlicher Interessen gearbeitet wird.

Falsche Solidarität

Weil wir auf dieses Wort so wenig Acht gegeben haben, ist es uns vielleicht abhanden gekommen. Es ist so zu einem Wort geworden für welche, die andere auf etwas einschwören müssen, zu einem Synonym etwa für Teamgeist, für Mitmachen, zu einer Angelegenheit nationaler statt internationaler Tragweite, eher zu einem Trick des bürgerlichen Staates um bei seinen Bürgern mehr Partizipation aufzurufen, als zu einem klassenmäßig bestimmten Verhaltensprinzip oder sogar ganz kalten Erfolgstaktik eines Proletariats, das, solange es sich daran hält, niemals verlieren kann. Verordnete Opferbereitschaft, die ein Staat einem Staatsvolk, ein Firmenchef seinen Angestellten abverlangt, ist schon per se unterschiedlich von der freundlichen Hingabe, die von sich miteinander spontan und wirklich und auf gleicher Augenhöhe Solidarisierenden ausgeht. Die staatliche Anweisung zum Mittun und deren Absage durch diejenigen, die nicht so dermassen regiert werden wollen, sollten wir nicht unter dem Bild vom solidarischen und unsolidarischen Handeln verstanden wissen, sondern als Abwehrreaktion auf Vereinnahmung und Kehrseite einer trügerischen Art Teilhabe.

Jetzt sind es konkret die seuchenpolitischen Verordnungen einer Obrigkeit, die unter der Gesamtheit ihrer mal mehr, mal weniger schützenswerten Bürger einen als Bedingung staatlichen (und ökonomischen) Funktionierens intakten Volkskörper vorraussetzt, die jedem Einzelnen Sachen abverlangen, wofür er, was man Solidarität nennt, bitter benötigte. Solidarität kann aber nicht darin bestehen, als gesellschaftliche Erweiterung, als langer Arm dieser notwendig ohne hoheitliche Gewalt nicht umsetzbaren Maßnahmen zu dienen, um dann hinterher verdoppelt als linke Reinschrift genau derselben Ausgangslage, im Kampf aller gegen Alle herzuhalten. Wenn Solidarität als behördliche Sicherheitsformel funktioniert, weil sie mit ihr identisch wird, sind die mit einem Schlag zu Unsolidarischen verwandelten Opfer politischer Denunziation und polizeilicher Staatsgewalt. Persönliche Repertoires von Selbstschutz und Sicherheit über den Umweg staatlicher Handlungsanweisung zurück an die restlichen Mitmenschen als Solidaritätsforderung zu addressieren, ist Missbrauch von Solidarität. Solidarität kann auch nicht meinen, in ihrem Namen das einzufordern, was einige wollen, ohne es über den Umweg gemeinsamer politischer Anstrengung auszuverhandeln. Eigentlich ist Solidarität genauso Gegenstand dieser politischen Ausverhandlung, um die sich durch sie selber aktuell so oft gedrückt wird.

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